Der Gnomon - Untertitel: Kritische Zeitschrift für die gesamte Klassische Altertumswissenschaft - ist vor hundert Jahren gegründet worden. Er zählt zu den renommiertesten Publikationen im Bereich der Wissenschaften vom Altertum. Zur Hauptsache enthält er kritische Buchbesprechungen. Die Rezensionen werden auf Einladung der Herausgeber hin verfasst. Der Klappentext des Buches hält fest, es gelte als "Ritterschlag, für eine Gnomon-Rezension angefragt zu werden".
Der Gnomon bietet nicht nur Kritiken von Büchern, sondern auch eine nach Sachgebieten gegliederte Bibliografie, Nachrufe von Gelehrten, Personalien und Nachrichten. Der Verlag C.H. Beck stellt für Abonnenten eine online-Ausgabe mit den Heften ab 2004 zur Verfügung. Seit diesem Jahr sind die ab 2025 erschienenen bibliografischen Beilagen zudem als PDF bei gnomon.uni-bonn.de abrufbar. Weiter gibt es die Gnomon Bibliographische Datenbank: Sie wird an den Lehrstühlen für Alte Geschichte der Universitäten Eichstätt und Augsburg betreut.
2019 regte Martin Hose Archivforschungen zur Geschichte der Zeitschrift an. Der Professor für Griechische Philologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München war damals Schriftleiter des Gnomon. Insbesondere seien die Vorgänge in den Jahren 1933/34 und dann 1946 bis 1949 während der Neugründung nach dem Zweiten Weltkrieg aufzuarbeiten. Markus Hafner, seit diesem Jahr Professor für Classics / Griechische Philologie an der Universität Zürich, leistete diese Arbeit und legt die Ergebnisse in einem übersichtlichen Band vor. Er war mehrere Jahre Redaktionsmitarbeiter des Gnomon. Seine Untersuchung setzte mit der Entdeckung brisanten Quellenmaterials in der Bayerischen Staatsbibliothek ein; dabei war rund zwei Jahrzehnte zuvor recherchierenden Wissenschaftlerinnen gesagt worden, es gebe keine Unterlagen mehr (10 mit Anm. 1). Publiziert sind die Dokumente nun in einem Anhang des Buches.
Seine Untersuchung, so Hafner, sei eine Fallstudie, welche Licht ins Dunkel des "altertumswissenschaftlichen Feldes" in der NS-Zeit bringe (12). Die jetzige Schriftleitung des Gnomon, Gernot Michael Müller und Adrian Weiß (Universität Bonn), hat Anfang diesen Jahres anlässlich des Gründungsjubiläums den Band von Markus Hafner begrüßt. Dabei wurde Hafners Deutung der Vorgänge weitgehend übernommen.
Der geistige Gründer des Gnomon ist Werner Jaeger (1888-1961). 1921 war er zum Nachfolger von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1848-1931) auf dem einflussreichen Berliner Lehrstuhl für Klassische Philologie ernannt worden. Er kämpfte für eine Erneuerung humanistischer Bildung und gelangte damals auf den Gipfel seines Ansehens und Einflusses, so 1930 mit der wirkungsreichen Naumburger Tagung zum Thema "Das Problem des Klassischen und die Antike", wo ein Eduard Fraenkel konsterniert und still zugehört haben soll.
Jaeger wünschte sich unter anderem eine "Neubelebung der wissenschaftlichen Buchanzeige". So ist es in der ersten Nummer des Gnomon zu lesen. Initiiert wurde das Projekt durch Hans Reimer den Jüngeren (1885-1951), den Inhaber des Berliner Verlages Weidmann. In der ersten Nummer des Gnomon wird eine Grundidee Jaegers von den Herausgebern zitiert: "Dabei halten wir es für wichtig, den Rahmen unserer Zeitschrift so weit zu spannen, daß in ihr die klassische Altertumswissenschaft in ihrem heutigen weiten Umfang (einschließlich ihrer Auswirkung auf die moderne Erziehung und Bildung) zu Worte kommen kann [...]"
Jaeger übertrug die Schriftleitung seinem Schüler Richard Harder (1896-1957). Die Epoche der alten Jahresberichte Bursians, benannt nach dem Philologen und Archäologen Conrad Bursian (1830-1883), die Jahresberichte über die Fortschritte der klassischen Altertumswissenschaft wurde gewissermaßen durch ein moderneres Großprojekt ersetzt. In der internationalen Konkurrenz konnte und kann es sich sehen lassen, so im Vergleich mit der im Vereinigten Königreich ab 1887 erscheinenden und ab 1903 von der Classical Association herausgegebenen Rezensionszeitschrift The Classical Review (Cambridge University Press). Offenkundig sollte der Gnomon dazu beitragen, die Führungsrolle der deutschen Altertumswissenschaft zu stärken. Als die Aufbruchsjahre der "Goldenen Zwanziger" und der Weimarer Republik in die Wirtschaftskrise, die Machtergreifung des Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg mündeten, passte man sich beim Gnomon den Machtverhältnissen an. Harder und der Berliner Verlag Weidmann folgten Vorgaben der Nationalsozialisten. Man trennte sich von dem jüdischen Mitherausgeber Eduard Fraenkel (1888-1970), der schon 1933 seine Professur in Freiburg im Breisgau verloren hatte und 1934 ins Exil nach England emigriert war. Auch Walther Kranz (1884-1960), der mit einer Jüdin verheiratet war, wurde ersetzt. Jüdische und "nicht-arische" Rezensenten lehnte man ab. Persönliche Loyalitäten und Freundschaften konnten dies nicht verhindern. Die Quellen, die Hafner zusammengestellt und ausgewertet hat, wirken niederschmetternd. 1944 musste die Produktion des Gnomon eingestellt werden.
Der Gnomon enthält zahlreiche Rezensionen, die NS-nahe Präferenzen spiegeln. Noch im letzten Jahrgang besprach der alte und angesehene Alfred Körte (1866-1946) das vom NS-affinen Althistoriker Helmut Berve herausgegebene Werk Das neue Bild der Antike. Bei JSTOR fehlt sie übrigens; L'Année philologique digital bei Brepols verzeichnet sie nicht.
Reichswissenschaftsminister Bernhard Rust hatte die Unternehmung Berves angeregt. Es entstand eine Selbstdarstellung deutscher Altertumswissenschaft: Beansprucht wurde, "Gestalten und Schöpfungen der Antike" "im Licht des neue[n] Tages ein neues Gesicht" zu geben. Körte stimmte dieser Weiterführung deutscher Altertumswissenschaft entschieden zu. Die deutschen Wissenschaftler in der Wehrmacht und "im Felde", so urteilte er, würden freilich eine noch "heiligere Pflicht" erfüllen.
Der Widerstand innerhalb des Gnomon gegen die Umstrukturierungen und strategischen Anpassungen blieb schwach. Hafner gliedert die Positionen typologisch (38). Zur "Gruppe der Ablehnenden" zählten der Klassische Philologe Karl Reinhardt, der Klassische Philologe Eduard Schwartz, der Philosoph Ernst Hoffmann, der Sprachwissenschaftler Wilhelm Schulze, der Schweizer Klassische Philologe Peter von der Mühll und zu einem späteren Zeitpunkt der Archäologe Ludwig Curtius, der bekanntlich mit dem Faschismus sympathisierte, aber durch die Nationalsozialisten 1937 frühzeitig in den Ruhestand versetzt wurde. Kräftige Zustimmung gab der schweizerisch-deutsche Althistoriker und Mitherausgeber Matthias Gelzer, der von 1919 bis zu seiner Emeritierung 1955 als Ordinarius in Frankfurt am Main wirkte. Im Hintergrund hielt sich der NS-affine bedeutende Althistoriker Wilhelm Weber.
Bei der Beurteilung des Gnomon hat man sich zuweilen täuschen lassen, und so sind die Korrekturen durch das Buch von Hafner verdienstvoll. Die unbestrittene wissenschaftliche Kapazität der Herausgeberschaft des Gnomon, die Hoffnungen auf eine Erneuerung des Humanismus nach dem Zweiten Weltkrieg, Freundschaften, Verschweigen und die Hoffnung auf den Wiederaufbau und auf die Möglichkeiten, welche die Übernahme des Gnomon durch den Verlag C.H. Beck versprachen: Das alles sind Faktoren, welche zum Fehlurteil geführt haben. Eine wichtige Rolle spielt überdies das Weiterwirken der alten Garde und ihrer Seilschaften.
Hafners Buch ist ein bedeutender Beitrag zur Erforschung der Wissenschaften vom Altertum in der NS-Zeit. Diese ist trotz Widerständen weit vorangekommen. Das zeigt sich auch in zahlreichen Synthesen: Erwähnt seien die Beiträge im Lexikon Der neue Pauly und im Supplementband Geschichte der Altertumswissenschaften (2012). Von jüngeren Publikationen seien herausgehoben: Johann Chapoutots Le national-socialisme et l'Antiquité (2012; danach auch ins Deutsche und Englische übersetzt), Stefan Rebenichs Die Deutschen und ihre Antike (2021), der von Maren Niehoff und Francesco Zanella herausgegebene Band Das frühe Reallexikon für Antike und Christentum (RAC) und der Nationalsozialismus (2024) und weitaus breiter Michael Grüttners Talar und Hakenkreuz. Die Universitäten im Dritten Reich (2023).
Die Gründe für die Fehlwege deutscher Altertumswissenschaft sind vielfältig. Ein Faktor ist die Beanspruchung der Autorität des Klassischen und einer "klassischen" Einheit der Altertumswissenschaft. Wer die Antike kenne, stehe über den Dingen. Es bräuchte mehr geschichtliches Denken, mehr auf die Verknüpfung der Wissenschaft mit den zeitgeschichtlichen Vorgängen ausgerichtete Kritik und weniger Verengung auf altertumswissenschaftlich begründete Klassizität als Wurzel eines Phantasmas für Europa. Wichtig ist auch die Analyse des Umganges mit dem Digitalen. Die Bedeutung des Gnomon im Vergleich zu digitalen Rezensionsplattformen und KI-Abfragen ist zweifellos zurückgegangen, vielleicht zu Recht. Auf H-Soz-Kult hat David Weidgenannt den vorliegenden Band besprochen, und vermutlich wird diese - qualitätvolle - Rezension von dort aus mehr Wirkung entfalten, als wenn sie im schwieriger zugänglichen Gnomon publiziert worden wäre. Dem Gnomon und seiner Pflege kritischer Wissenschaftskultur wünscht man gleichwohl zum Jubiläum alles Gute! Markus Hafner hat dazu wie gesagt einen wichtigen und erhellenden wissenschaftsgeschichtlichen Beitrag geliefert.
Markus Hafner: Die deutsche Altertumswissenschaft in der NS-Zeit. Der Gnomon von seiner Gründung 1925 bis 1949, München: C.H.Beck 2025, 224 S., ISBN 978-3-406-82901-7, EUR 78,00
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.