sehepunkte 25 (2025), Nr. 11

Matthias N. Lorenz: Nachbilder

Im August 1992 erschütterten die schwersten rassistischen Ausschreitungen seit der Wiedervereinigung die Bundesrepublik. Vier Tage lang, zwischen dem 22. und 26. August, richtete sich der Hass gegen die Bewohner:innen der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen. Das "Sonnenblumenhaus", mehrheitlich von Vietnames:innen und Asylsuchenden bewohnt, wurde unter dem Beifall Tausender angegriffen und schließlich in Brand gesetzt. [1] Die Brutalität und Schonungslosigkeit dieser Gewaltakte wurden durch anwesende Kamerateams und Journalist:innen in Echtzeit ins Fernsehen übertragen. Dabei ist ein Bild zum Symbol der Lichtenhagener Pogrome geworden: das des 38-jährigen Harald Ewert, eines seit Beginn des Jahres 1990 arbeitslosen Baumaschinisten, im Trikot der deutschen Fußballnationalmannschaft und mit eingenässter Jogginghose, den Arm zu einem - unmissverständlichen - Hitlergruß erhoben. Dieses Bild, so meint man auf den ersten Blick, ist auch auf dem Cover des Buches "Nachbilder. Rostock-Lichtenhagen und die blinden Flecken der Erinnerung" zu sehen, das der Literaturwissenschaftler Matthias N. Lorenz verfasst hat. Allerdings handelt es sich bei der Cover-Abbildung um eine weniger bekannte Variante des Symbolbildes - was bereits auf die Gefahren einer einseitigen Ikonisierung verweist: Ewert geriet zur Karikatur, wurde satirisch verfremdet und diente mitunter gar als popkulturelles Motiv für den "hässlichen Deutschen" (14). Damit aber verstelle, so Lorenz, ein prominentes Nachbild den Blick auf die Vielschichtigkeit des breiteren Geschehens. Es lade zur Belustigung oder Distanzierung ein und erfülle so die Funktion einer Externalisierung - als Sinnbild westdeutscher Schuldabwehr.

Diese dominante Bildspur möchte Lorenz ausdifferenzieren. Hierfür untersucht er Formen der visuellen Erinnerung an die rassistische Gewalt von Rostock und an die Transformationszeit. Dabei wählt er bewusst andere Bilder: solche, die bislang überblendet oder marginalisiert wurden. Auf diese Weise rückt er die Betroffenen stärker in den Fokus, deren Perspektiven in der öffentlichen Erinnerung bis heute weitgehend ausgespart bleiben. Lorenz' Augenmerk liegt somit auf dem Missverhältnis zwischen der hoch aufgeladenen Bedeutung des Pogroms und dem mangelnden Interesse, ja einer "Empathieverweigerung" (10) der lokalen wie deutschen Mehrheitsgesellschaft - nicht nur, was die Gewalt selbst anbelangte, sondern vor allem auch die Schicksale der Betroffenen. Sein Buch ist eingebettet in das interdisziplinäre Projekt "Doing Memory" [2], das Praktiken der Erinnerung an rechte und rassistische Gewalt in verschiedenen europäischen Städten untersucht. Um "blinde Flecken" in diesen Praktiken aufzuspüren, entfaltet Lorenz seine Analyse exemplarisch anhand von vier Fotografien aus dem Kontext Rostock-Lichtenhagen.

Das erste Bild, das er "Sozialpanorama" (32) nennt, zeigt aus einiger Entfernung die sich anbahnende Konfrontation zwischen zögerlich agierender Polizei und Gewalttätern. Im Hintergrund lässt sich der Niedergang der ostdeutschen Wirtschaft, insbesondere der Rostocker Werftindustrie, erahnen, außerdem zeichnen sich Plattenbaukomplexe ab, während im Vordergrund der Imbissstand "Happi, Happi bei Api" ins Auge fällt. Lorenz liest in dieser Konstellation ein Abbild der Normalisierung rassistischer Gewalt in den Nachwendejahren - keineswegs im Sinne einer Legitimierung, sondern als Versuch, tiefere Linien, sozioökonomische Kontexte und strukturelle Bedingungen sichtbar zu machen.

Das zweite Bild dokumentiert die Anbringung einer Gedenktafel am 19. Oktober 1992, also zwei Monate nach den Ausschreitungen. Initiiert von jüdischen Aktivist:innen um Beate und Serge Klarsfeld ("Söhne und Töchter der deportierten Juden aus Frankreich"), zog diese Praktik historische Verbindungslinien: Die Gewalt von Rostock wurde mit den Morden an Jüdinnen und Juden, Roma und Sinti 1942 in Beziehung gesetzt. Ziel war es, Solidarität zu zeigen und zugleich gegen die geplante Abschiebung von rumänischen Roma und Sinti zu protestieren. Die Aktion rief einen Polizeieinsatz hervor, bei dem einige Demonstrierende in Gewahrsam genommen wurden. Damit wurden "Rassismus" und "Pogrom" "tabuisierte Unworte" (73). Die wechselvolle Nachgeschichte der Gedenktafel - Abhängen, Neuinstallationen, Anbringen verschiedener Varianten - deutet auf die Störungen und Aushandlungsprozesse lokaler Erinnerungskulturen hin, was bis 2012 kein nennenswertes öffentliches Gedenken zuließ.

Das dritte Bild zeigt den Besuch von Ignatz Bubis, dem damaligen Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, im November 1992. Wortlos und sichtlich erschüttert reagierte er auf das Pogrom. Bubis wehrte sich früh gegen pauschale Schuldzuweisungen und erinnerte zugleich an das Pogrom von Kielce 1946, bei dem mindestens 40 polnische Jüdinnen und Juden ermordet worden waren. Bemerkenswert ist, dass ihm und Michel Friedman durch den CDU-Politiker Karlheinz Schmidt die "Heimat" abgesprochen wurde - einzig aufgrund ihres Jüdischseins. Später sollte Bubis Martin Walsers Apologie des Wegsehens als "geistige Brandstiftung" (95) bezeichnen.[3]

Das vierte Bild schließlich zeigt die Romni Ioana Miclescu mit ihren Kindern Arabela und Ahmed, vor sich eine Plastiktüte mit dem zynisch anmutenden Slogan einer Tankstelle: "Jetzt können Sie einpacken." (104) Wie viele andere Roma und Sinti mussten sie mangels Unterkunft auf Grünflächen kampieren, ohne Toiletten, beschimpft und gedemütigt. Diese Darstellung verweist auf lange Traditionslinien des Antiziganismus, sowohl in der deutschen Geschichte als auch in der Spätphase des Ceauşescu-Regimes und den Umbruchsjahren nach 1989. Zugleich knüpft sie an damalige Debatten über "Masseneinwanderung" und vermeintliche "Sozialschmarotzer" (108; 125) an. Ihre Geschichte geriet nach der erzwungenen Rückkehr nach Rumänien weitgehend in Vergessenheit. Lorenz stützt sich auf Interviews mit dem Fotografen Jürgen Siegmann und mit Izabela Tiberiade - der jüngsten, auf dem Foto aber nicht abgebildeten Tochter Miclescus - und arbeitet so antiziganistische Bildtraditionen und ihre Kontinuitäten heraus.

Trotz der überzeugenden Analyse gesteht Lorenz eigene "blinde Flecken" ein, etwa in Bezug auf den Angriff auf die vietnamesischen Vertragsarbeiteter:innen. Hier verweist er lediglich auf Dokumentationen, Bücher und Filme (142). Ergänzt werden die Ausführungen durch eine "lückenhafte Chronik der Ereignisse" (157-160) sowie durch einen Kurztext des Leipziger Autors Clemens Meyer (147-155), der persönliche Erinnerungen an eine Begegnung mit einem Neonazi in der Jugendarrestanstalt Zeithain schildert. Dieser gab an, in Lichtenhagen dabei gewesen zu sein. Doch bleibt unklar, welchen Zweck dieser Text im Band erfüllt: Die Täterperspektive wird zwar eingefangen, bleibt jedoch mit den exemplarischen Bildanalysen unverbunden.

Insgesamt zeigt Lorenz, wie wichtig es ist, genauer hinzusehen. In dem schmalen Bändchen - das allerdings den Nachteil hat, dass die Bilder selbst viel zu wenig zur Geltung kommen - gelingt es ihm, essayistisch präzise die Verschiebungen wie auch Beharrungskräfte erinnerungskultureller Narrative zu analysieren. Seine Dekonstruktionen sind mehr als bloße Sichtbarmachungen: Sie legen die Geschichte hinter den Bildern frei, beleuchten deren Produktionsbedingungen und breitere gesellschaftliche Kontexte. Damit leistet "Nachbilder" einen wichtigen Beitrag zum Nachdenken über die Wirkmacht von Bildlichkeit und öffnet wichtige Perspektiven, die künftig auch in der Geschichtswissenschaft stärkere Beachtung finden sollten.


Anmerkungen:

[1] Vgl. dazu jüngst: Gudrun Heinrich / David Jünger / Oliver Plessow / Cornelia Sylla (Hgg.): Kulturen des Verdrängens und Erinnerns. Perspektiven auf die rassistische Gewalt in Rostock-Lichtenhagen 1992, Berlin 2024; Franka Maubach: "Lichtenhagen ist überall". Antivietnamesische Gewalt und Rassismuserfahrungen im ostdeutschen Umbruch, in: Jörg Ganzenmüller (Hg.): Transformationserfahrungen. Lebensweltliche Umbrüche in Ostdeutschland nach 1990, Köln 2025, 135-158.

[2] Siehe die Website des interdisziplinären Forschungsprojekts "Doing Memory" mit Informationen über die drei Initiator:innen Tanja Thomas, Matthias N. Lorenz und Fabian Virchow: https://doing-memory.de/.

[3] Vgl. Frank Schirrmacher (Hg.): Die Walser-Bubis-Debatte. Eine Dokumentation, Frankfurt am Main 1999.

Rezension über:

Matthias N. Lorenz: Nachbilder. Rostock-Lichtenhagen und die blinden Flecken der Erinnerung, Berlin: Schlaufen Verlag 2025, 201 S., diverse Farb-, s/w-Abb., ISBN 978-3-98761-008-0, EUR 22,50

Rezension von:
Christoph Lorke
LWL - Institut für westfälische Regionalgeschichte, Münster
Empfohlene Zitierweise:
Christoph Lorke: Rezension von: Matthias N. Lorenz: Nachbilder. Rostock-Lichtenhagen und die blinden Flecken der Erinnerung, Berlin: Schlaufen Verlag 2025, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 11 [15.11.2025], URL: https://www.sehepunkte.de/2025/11/40340.html


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