KOMMENTAR ZU

Moritz Florin: Rezension von: Eva-Maria Stolberg: Sibirien: Russlands "Wilder Osten". Mythos und soziale Realität im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 2 [15.02.2010], URL: http://www.sehepunkte.de/2010/02/17205.html


Von Eva-Maria Stolberg

In seiner Rezension zu meiner 2009 erschienenen Habilitationsschrift kommt Florin zu dem Schluss, dass die "Konzeptualisierung Sibiriens als Binnenkolonie und der Vergleich mit dem amerikanischen Westen", die ich vorgenommen habe, vielversprechend sei. Zugleich wirft er mir konzeptionelle Unklarheit fort, ohne bei der oberflächlichen Lektüre meines Buches, das auf zehnjähriger Forschungsarbeit beruht, weder auf meine Auslegungen in der Einleitung noch in dem Kapitel "Zivilisation und Wildnis" bzw. den Epilog einzugehen. Des weiteren erschließt sich der konzeptionelle rote Faden durch das Inhaltsverzeichnis. Statt dessen pickt sich der Rezensent willkürlich "Begriffe" wie "El Dorado" "Cowboy" heraus, wobei es nicht um die wissenschaftlichen Termini wie frontier, prostor etc. geht, die in dem Buch thematisiert werden und die eigentlichen Schlüsselbegriffe darstellen. Zugleich reißt der Rezensent die Zusammenhänge auseinander, nämlich das Phänomen des Goldrausches an frontiers (gilt für Sibirien wie auch den amerikanischen Westen als exemplarisch) sowie den Vergleich des "Cowboys" und des "Kosaken".

Der Rezensent wirft mir zudem vor, ich habe mich zu sehr auf die Gemeinsamkeiten der sibirischen und amerikanischen frontier konzentriert und die Unterschiede ausgeblendet, dem ist wohlweislich nicht so, wer das Buch aufmerksam liest, dem wird nicht entgehen, dass spätestens mit Stalin die sibirische Frontier ein gegensätzliches, d.h. repressives Gesicht, im Unterschied zum amerikanischen Westen erhielt.

Was die Forschungsliteratur betrifft, so hat die Verfasserin annähernd 200 Titel berücksichtigt, das dabei nicht jede Veröffentlichung Erwähnung findet, erübrigt sich, zumal selbst eine Habilitationsschrift nie ein "total umfassendes" Werk darstellen kann. Der Rezensent schreibt selbst,  er habe "einige willkürlich herausgegriffene [Literatur]Beispiele" genannt. Außerdem ging es mir auch nicht um eine Gesamtschau der Geschichte Sibiriens, wie der Rezensent, der - mit eigenen Forschungsarbeiten zu Sibirien bisher nicht in Erscheinung getreten ist - despektierlich bemerkt. Soll es um eine Gesamtschau der sibirischen Geschichte gehen, hätte sich der Rezensent doch das vor kurzem (2009) im Verlag Schoeningh erschienene Buch meines "Habilvaters", Dittmar Dahlmann, zu Gemüte ziehen sollen. Mir ging es in meiner Habilitationsschrift um die Eröffnung eines neuen Forschungshorizontes, der den Begriff "frontier", "wandernde Siedlungsgrenze" thematisiert. In diesem Zusammenhang habe ich auch fruchtbaren Gewinn gerade auch aus der auf den amerikanischen Westen bezogenen Forschungsliteratur sowie von der angelsächsischen "border research" gezogen, daher auch die Begriffe "Oszillieren", wobei hier gerade eine Abgrenzung vom klassischen, statischen Frontierkonzeptes Turners statt findet. Auch dieser Sachverhalt ist dem Rezensenten entgangen. Das Thema "Siedlungsgrenze" ist übrigens von der russischen Historiografie des 19. Jahrhunderts debattiert worden, ebenso von den sibirischen Regionalisten. Zum Thema "Siedlungsgrenze" hatte übrigens Pavel Miljukov 1903 einen Vortrag in den USA gehalten - ein Umstand, der dem Rezensenten ebenfalls bei der Lektüre meines Buches entgangen ist.

REPLIK

Von Moritz Florin

In ihrem Kommentar merkt Eva-Maria Stolberg einige Punkte an, die mir ihrer Meinung nach entgangen seien. Möglicherweise ist in meiner Rezension dabei tatsächlich nicht deutlich genug geworden, dass Stolbergs Buch eine wichtige und in vielen Punkten gelungene Bereicherung der Forschungslandschaft zu Sibirien ist. Stolberg verweist zudem zurecht darauf, dass sie in ihrer Einleitung, dem Kapitel "Zivilisation und Wildnis" und dem Epilog ihre Auslegung des Frontier-Konzeptes erläutert, und verschiedene Stränge ihrer Studie zusammenführt.

Stolberg schreibt in ihrem Kommentar, ihr sei es nicht um eine Gesamtdarstellung der Geschichte Sibiriens im 19. und 20. Jahrhundert gegangen. Offensichtlich handelt es sich hier um ein Missverständnis, das sich aus Stolbergs Einleitung ergibt. Darin schreibt sie, ihre Studie stelle "eine Kulturgeschichte Sibiriens in einem politischen und sozioökonomischen Rahmen dar". Sie wolle dabei Interdependenzen von "Politik-, Sozial- und Kulturgeschichte" herausarbeiten (12). Auch aus dem Titel ihres Buches ("Mythos und soziale Realität im 19. und 20. Jahrhundert") habe ich als Rezensent geschlossen, dass es ihr um eine Gesamtschau der Geschichte Sibiriens aus kulturhistorischer Perspektive geht. Angesichts der Vielfalt der angesprochenen Aspekte hätte ich es zudem eher für "despektierlich" gehalten, wenn ich ihr Buch auf Einleitung und Epilog, beziehungsweise die Eröffnung eines neuen Forschungshorizontes und die Diskussion des Begriffes "frontier" reduziert hätte.

Stolberg vermutet in ihrem Kommentar, dass ich kein Experte für die Geschichte Sibiriens sei und damit als Rezensent nicht die nötige Kompetenz mitbringe, um ihr Werk angemessen zu würdigen. Damit hat sie nicht ganz unrecht: Ich schreibe eine Dissertation über sowjetische Nationalitätenpolitik in Zentralasien und befasse mich dabei nur nebenbei mit Sibirien, nehme ihre Arbeit also von einem etwas anderen "Sehepunkt" wahr. Gerade aus dieser Perspektive ist mir jedoch aufgefallen, dass wichtige Forschungsliteratur insbesondere der letzten zehn Jahre in ihrem Literaturverzeichnis fehlt.[1] Für die sowjetische Nationalitätenpolitik betrifft dies unter anderem die Arbeiten von Terry Martin, Francine Hirsch, neuere Studien von Yuri Slezkine oder auch Arbeiten aus dem Umfeld der Novaja Imperskaja Istorija. Hierbei handelt es sich insofern um keine willkürlich herausgegriffenen Beispiele, als diese Autoren das Verständnis der Wissenschaft von der sowjetischen Nationalitätenpolitik - auch in Sibirien - von Grund auf erneuert haben. Auch der Begriff der "Frontier", bzw. der "wandernden Siedlungsgrenze", den Stolberg in ihrem Buch verwendet, ist in diesem Kontext bereits diskutiert worden.[2] Nicht zuletzt führt Stolbergs Nichtberücksichtigung neuerer Forschungsliteratur zu zahlreichen Ungenauigkeiten, so etwa wenn sie in ihrer Darstellung des Gulag als "sibirische Seelenlandschaft" auf die Arbeiten von Robert Conquest aus den siebziger Jahren zurückgreift, um Opferzahlen zu belegen (325).[3]

Mir als Rezensent ist natürlich nicht entgangen, dass auch in Stolbergs Darstellung spätestens mit Stalin die sibirische Frontier ein "gegensätzliches, repressives Gesicht", im Unterschied zum amerikanischen Westen erhielt. Gerade deshalb hat mich Stolbergs Suche nach Parallelen zwischen Stalins Sowjetunion und Roosevelts New Deal erstaunt. Die viel wesentlicheren Unterschiede handelt Stolberg demgegenüber auch in ihrem Epilog in nur zwei Sätzen ab (362). Ein weiteres Beispiel ist Stolbergs Vergleich zwischen dem amerikanischen Westen und Sibirien im Zweiten Weltkrieg: Die von ihr genannten Parallelen sind sicher bemerkenswert. Auf die großen Unterschiede geht Stolberg hingegen nicht gesondert ein (345-346). Auch für das 19. Jahrhundert gilt, dass Stolberg Parallelen betont, Unterschiede hingegen ausklammert. So bemerkt sie zum Beispiel, dass sich "auch" bei den "Indianern" Nordamerikas die Christianisierung als oberflächlich erwiesen habe (172). Stolberg vergisst jedoch, die Besonderheiten in der Missionarstätigkeit und der Rolle der Kirche in Nordamerika und im russländischen Imperium klar herauszuarbeiten. Hier geht es also weniger um das einzelne, in ihrem Buch sicher nebensächliche Beispiel, als vielmehr um die Frage nach der Systematik des Vergleichs.

Stolbergs Habilitationsschrift, darauf habe ich in meiner Rezension bereits hingewiesen, stellt eine Bereicherung der Forschungslandschaft zu Sibirien, dem russländischen Imperium und der Sowjetunion dar. Als einzige Historikerin, die sich mit der Großregion Sibirien befasst, kann Stolberg auch japanische und chinesische Quellen und Literatur anführen. Zudem hat Stolberg zahlreiche Archivquellen auch aus sibirischen Archiven ausgewertet und erreicht anhand dieser durchaus ihr Ziel, einen neuen Forschungshorizont zu eröffnen. Bei dem Werk handelt es sich also um keine Gesamtdarstellung der Geschichte Sibiriens im Zeitraum 1890-1945, wie ich zunächst irrtümlicherweise annahm, sondern um den Versuch, neue Perspektiven in der Sibirienforschung aufzuzeigen. Dieses Ziel hat Stolberg mit ihrer Habilitationsschrift sicher erreicht.

Anmerkungen:

[1] Aus dem Zeitraum 2000-2003 zitiert Stolberg insgesamt zwölf Aufsätze und Bücher aus dem Bereich der osteuropäischen Geschichte, die Literatur der Jahre 2004-2008 hat Stolberg hingegen nicht berücksichtigt. Dies ist deshalb erwähnenswert, weil in diesem Zeitraum viele neue Ansätze in der Erforschung der russländischen, bzw. sowjetischen Nationalitätenpolitik entstanden sind. In meiner Rezension hatte ich dies dabei auf ihre Aussage bezogen, die Russlandhistoriographie ignoriere noch immer transregionale Entscheidungsmechanismen. Dabei hat sich gerade die Historiographie zum russländischen Imperium und der Sowjetunion diesem Bereich in den letzten Jahren als besonders innovativ erwiesen.

[2] So erschien beispielsweise 2003 ein Heft der Zeitschrift Ab Imperio, das ganz dem Thema "Russian Empire: Boundaries and Frontiers" gewidmet ist (Ab Imperio, 4, 2003). Zur Novaja Imperskaja Istorija und Frontier-Konzepten siehe auch: I. Gerasimov, S. Glebov, A. Kaplunovskij (Hg.): Novaja Imperskaja Istorija Postsovetskogo Postranstva, Kazan' 2004, hierin insbesondere die Beiträge von Alfred Rieber und Anatolij V. Remnev. Da Stolberg diese Literatur nicht zitiert, kann sie auch behaupten, in ihrer Studie erstmals das Frontier-Konzept auf Sibirien angewandt zu haben.

[3] Laut Stolberg, bzw. Conquest kamen 2,5-3 Millionen Menschen allein in den Lagern an der Kolyma ums Leben (325). Eine Diskussion auf der Grundlage neuer Archivquellen findet sich beispielsweise in: Martin Bollinger: Stalin's slave ships. Kolyma, the Gulag fleet, and the role of the West, Annapolis 2003, 75-86. Bollinger geht von circa 130.000 Toten an der Kolyma aus. In meiner ursprünglichen Rezension hatte ich in diesem Zusammenhang auch auf die Arbeiten Anne Applebaums und Oleg Chlevnjuks verwiesen. Bei den Statistiken handelt es sich weiterhin um grobe Schätzungen, allerdings auf der Grundlage neuerer Archivquellen.