Die Tatsache, dass die Bundesrepublik Deutschland ein Einwanderungsland ist, wird erst seit einigen Jahren offiziell und auch auf höchster politischer Ebene anerkannt. Dabei ist die Situation der Migranten, auch bedingt durch ihren unterschiedlichen rechtlichen Status und die besondere Geschichte der Zuwanderung in die Bundesrepublik, sehr unterschiedlich: Arbeitsmigranten und ihre Familienangehörigen, Asylbewerber und Flüchtlinge, (Spät-)Aussiedler deutscher Volkszugehörigkeit, ausländische Studierende, jüdische Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, Bürger der Europäischen Union. Die so entstandene Einwanderungsgesellschaft stellt spezifische Anforderungen an ihre Mitglieder, zugewanderte wie einheimische. Als Ergebnis von Zuwanderung und Globalisierung wird "interkulturelle Kompetenz" in vielen Bereichen gefordert: in Wirtschaft und Handel einer globalisierten Welt, in Schule und Bildungswesen, wo besonderer Handlungsbedarf herrscht, um den in der PISA-Studie aufgedeckten engen Zusammenhang von Herkunft und Bildungserfolg aufzubrechen, in der Sozialen Arbeit.
Auf diesen letztgenannten Bereich bezieht sich der vorliegende Sammelband. Ein sensibles Feld, denn in ihm geht man meist von einem Bedarf, einem Defizit oder einer Hilfsbedürftigkeit, jedenfalls einer gewissen Asymmetrie der Beziehungen zwischen Beratendem oder Helfendem und Klient aus, ganz im Gegensatz zu dem erklärten Ziel interkultureller Pädagogik, ethnische, religiöse und kulturelle Vielfalt als Chance und Bereicherung, nicht als Problem aufzufassen. Auch bedarf der Klärung, was unter "interkultureller Kompetenz" überhaupt zu verstehen ist, deren Definition auch je nach dem oben genannten Anwendungsfeld verschieden ausfallen dürfte.
Das Buch erhebt den Anspruch, "Wissenschaft" und "Praxis" miteinander zu verzahnen, wissenschaftliche Reflexion und praktisches Handeln aufeinander zu beziehen. Die Beiträge sind hervorgegangen aus Bausteinen eines Zertifikatskurses "Basisqualifikation Interkulturelle Kompetenz für soziale Berufe", der in Kooperation des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche im Rheinland und der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum seit 2005 durchgeführt wird. Dabei stehen sieben eher theoretisch orientierten Beiträgen drei auf die Erfordernisse praktischer Arbeit bezogene gegenüber: schon allein von der Quantität her wird der Anspruch auf Praxisbezug nicht überzeugend eingelöst. Es bleibt auch fraglich, für welche Adressaten die Beschreibung des Zertifikatskurses eigentlich verfasst ist; stellenweise mutet sie weniger wie eine Handreichung als vielmehr wie ein Rechenschaftsbericht an.
Dabei arbeiten auch die eher theoretisch orientierten Beiträge nicht immer mit der gebotenen definitorischen Schärfe, wenn es um zentrale Begriffe wie "Kultur" oder den Titel des Buches selbst, eben die "interkulturelle Kompetenz", geht. Ein ausgeprägtes Problembewusstsein in dieser Hinsicht zeigt jedoch Thomas Eppenstein, der in seinem Aufsatz "Interkulturelle Kompetenz - Zumutung oder Zauberformel? Ansprüche und Aporien kultursensibler Sozialer Arbeit im Zeichen der Integration" (29-43) vor einer "Kulturalisierungsfalle" warnt; gleichzeitig äußert er große Bedenken, soziale Ungleichheit durch kulturelle Zuschreibungen zu legitimieren und damit zu zementieren. Die Forderungen einer Einwanderungsgesellschaft werden aus rechtlicher (Matthias Schmath), politischer (Michael Krummacher), theologisch-ethischer (Wolfgang Maaser) und soziologischer Sicht beleuchtet - dieser letztgenannte Aufsatz von Hildegard Mogge-Grotjahn (78-90) ist auch der einzige, der nicht nur die Entwicklung in der Bundesrepublik, sondern auch in anderen westeuropäischen Staaten thematisiert.
Als nützlich erweist sich der Beitrag "Migration, Integration und Recht" (44-56) von Matthias Schmath, welcher grundsätzliche Überlegungen zum Staatsbürgerrecht anstellt und die bundesdeutsche Rechtsordnung in Bezug auf Ausländer erläutert, die sich durch das weitgehend noch gültige "ius sanguinis" vom "ius soli" europäischer Nachbarn unterscheidet. Ebenfalls mit "harten Fakten" wartet der Beitrag (57-77) von Michael Krummacher auf, der auf der Datenbasis von 2005 Befunde zur Bevölkerungsentwicklung und zur Lebenslage von Migranten in der Bundesrepublik vorlegt. Daran anschließend formuliert er Anforderungen an eine wirksame Integrationspolitik, wozu er auch die interkulturelle Öffnung von Verwaltungen und sozialen Diensten zählt. Zum Verständnis dieser Beiträge hilfreich sind die Darstellung der wichtigsten neuen Regelungen des Zuwanderungsgesetzes (ZuwG 2004) im Anhang sowie die ausgewählten Internet-Adressen im Literaturverzeichnis.
Aus sozialethischer Perspektive stellt Wolfgang Maaser in seinem Aufsatz Dimensionen des interkulturellen Problemfeldes von Religionen und Toleranz vor (91-106), bezogen auf Islam und Christentum. Hier vermisst man eine längere Auseinandersetzung mit dem Problem des Fundamentalismus und dem religiös fundierten Terrorismus, die die gegenwärtige, oft kontrovers geführte Diskussion bestimmen: etwa die Frage nach der universalen Gültigkeit von Menschen- und Bürgerrechten als über kulturellen und religiösen Praktiken stehende Normen oder die Diskussion um den Bau von repräsentativen Moscheen in der Bundesrepublik.
Die an praktischen Erfordernissen sozialer Arbeit orientierten Beiträge zur Kommunikation und zu konstruktiver Konfliktlösung entgehen nicht ganz den in den theoretischen Aufsätzen benannten Fallstricken: Gerät ein professionell Handelnder nicht selbst in die Kulturalisierungsfalle, wenn er sich bemüht, Gesprächssituationen mit Klienten kultursensibel zu gestalten oder "Kulturkonflikte" zu lösen? Zwar weist Ioanna Zacharaki auf diese Gefahren hin, indem sie vor Stereotypenbildung und pauschalisierender Zuschreibung von Kulturattributen warnt (Kommunikation in der Einwanderungsgesellschaft, 107-118, hier 107). Ebenso fragt Thomas Eppenstein (Konstruktive Konfliktlösung in interkulturellen Spannungsfeldern, 119-139) nach der Berechtigung einer eigenen Kategorie eines "interkulturellen Konflikts", doch beide Beiträge gehen von der Determinierung durch kulturelle Prägungen aus.
Auch die Beispiele aus der Praxis, die von Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Zertifikatskurses als Bestandteil der Qualifizierung initiiert und vorgestellt wurden, überzeugen nicht immer: in der gegebenen Kürze ihrer Darstellung muss vieles offen bleiben (etwa die Arbeit von Schülerinnen und Schülern einer Hauptschule an einem Theaterstück "Freundschaft zwischen den Kulturen" oder die Stärken-Schwächen-Analyse der interkulturellen Arbeit des "Bürgertreff Marl/Stadtteilbüro Mitte"); die Durchführung einer interkulturellen Weihnachtsfeier in einem Wiedereingliederungsbetrieb scheiterte daran, dass die "Einheimischen" zu einem großen Teil nicht an der Feier teilnehmen wollten. Immerhin zeigt die Tatsache, dass zwei von den sieben Praxisbeispielen dem Thema "kultursensibler (Gesundheits-)Pflege" gewidmet sind, dass hier offenbar Bedarf und auch ein ökonomisch bedeutender Markt besteht.
Insgesamt hinterlässt der Band einen zwiespältigen Eindruck: die Heterogenität der Beiträge bleibt ebenso deutlich, wie die Kluft zwischen Theorie und Praxis bestehen bleibt. Einmal mehr wird das grundsätzliche Problem der Diskussion um Interkulturalität klar: einerseits wird angenommen, dass die Determinierung eines Individuums durch "Kultur" wichtig für Selbstverständnis und Identitätsbildung ist, andererseits muss diese Determinierung in einem Lernprozess überwunden werden. Was interkulturelle Kompetenz ist und wie sie vermittelt werden kann, diese Fragen müssen weiter gestellt werden.
Ioanna Zacharaki / Thomas Eppenstein / Michael Krummacher (Hgg.): Praxishandbuch Interkulturelle Kompetenz vermitteln, vertiefen, umsetzen. Theorie und Praxis für die Aus- und Weiterbildung, Schwalbach: Wochenschau-Verlag 2007, 176 S., ISBN 978-3-89974283-1, 19,80
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