Rezension über:

Chiara Valentini: Der eigenartige Genosse Enrico Berlinguer. Kommunist und Demokrat im Nachkriegseuropa, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2022, 480 S., ISBN 978-3-8012-0628-4, EUR 32,00
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Rezension von:
Deborah Cuccia
Stiftung Universität Hildesheim
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Deborah Cuccia: Rezension von: Chiara Valentini: Der eigenartige Genosse Enrico Berlinguer. Kommunist und Demokrat im Nachkriegseuropa, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 7/8 [15.07.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/07/37436.html


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Chiara Valentini: Der eigenartige Genosse Enrico Berlinguer

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Der hier rezensierte Band ist die 2022 erschienene deutsche Übersetzung der Biografie "Enrico Berlinguer" der Journalistin Chiara Valentini. Die italienische Originalfassung erschien 2014. Anlass für die Veröffentlichung war der 100. Geburtstag des langjährigen Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Italiens (KPI), Enrico Berlinguer (1922-1984). 39 Jahre nach seinem Tod gilt der Politiker weiterhin als Schlüsselfigur der Geschichte Italiens als auch Europas. Seine Beiträge zu den sozialen und politischen Entwicklungen der Nachkriegsgeschichte sind umstritten.

Im Mittelpunkt der Darstellung stehen die ungelösten Widersprüche der politischen Persönlichkeit Berlinguers als Kommunist, Demokrat und Europäer. Die deutsche Übersetzung spielt darauf bereits im Buchtitel an: "Der eigenartige Genosse". Dies signalisiert der Leserschaft, dass es in der Biografie um mehr geht als die reine Zugehörigkeit Berlinguers zur KPI. Der Politiker wird als Paradebeispiel einer "transformatorischen Persönlichkeit" (9) präsentiert, also als eine Person, die in der Lage war, vermeintlich gegensätzliche Pole miteinander zu verbinden, wie zum Beispiel konservativ und revolutionär oder Kommunismus und Katholizismus.

Die Autorin beabsichtigt nicht nur, Berlinguers politischen Beitrag zur Nachkriegsgeschichte gründlich zu analysieren. Sie will auch neues Licht auf sein Leben werfen, die Entwicklungslinien seiner widersprüchlichen politischen Konzeptionen und seines Verständnisses von Politik erläutern sowie die Besonderheiten seiner Idee vom Kommunismus thematisieren. Dazu verwendet Valentini Methoden der journalistischen Analyse: Ihre Publikation basiert hauptsächlich auf Zeitzeugenberichten.

Untergliedert ist der Band in zwei Hauptteile. Vorwort und einführendes Kapitel, das aus der Feder des Übersetzers Klaus Pumberger stammt, geben einen Überblick über die Hauptthemen des Bandes sowie die Ziele der Darstellung. Die beiden Hauptabschnitte widmen sich mit Fokus auf die Entwicklungen in Italien dem Leben und politischen Werk Berlinguers. Im ersten Teil geht es um seine Jugendjahre sowie um die frühen politischen Etappen in Berlinguers Laufbahn - unter anderem seine Jahre als Generalsekretär der kommunistischen Jugendorganisation. Der zweite Teil konzentriert sich auf die Entwicklungen nach 1964 beziehungsweise nach dem Tod des KPI-Führers Palmiro Togliatti.

Valentini beginnt in Berlinguers sardinischer Heimatstadt Sassari am 18. September 1943, als die Insel kurz nach Unterzeichnung des Waffenstillstands von Cassibile vollständig von alliierten Truppen besetzt wurde. Der damals 21-Jährige war seit weniger als einem Jahr Mitglied der hiesigen kommunistischen Partei. In den folgenden Unterkapiteln rekonstruiert Valentini die politische Laufbahn Berlinguers, die ihn zunächst nach Süditalien und dann in die italienische Hauptstadt führte. In diesem Zusammenhang schildert die Autorin auch die inneren italienischen Entwicklungen: die ersten Wahlen nach dem Krieg, die Beziehungen zwischen Kommunisten und Christdemokraten, die Änderungen in der KPI in den Nachkriegsjahren sowie die Unterschiede in der Wahrnehmung und im Einfluss des Kommunismus in Süd- und Norditalien.

Die Biografie ist Ausgangspunkt für eine breit angelegte Reflexion über den italienischen Kommunismus als Ergebnis von Auseinandersetzungen und gegensätzlichen Entwicklungslinien sowohl in der Partei wie in deren Beziehungen zu Moskau. Das ist das erste Verdienst der Studie. Ein weiteres liegt in der Schilderung der Persönlichkeit Berlinguers. In der Darstellung tritt ein Profil hervor, das nicht dem typischen Modell eines kommunistischen Führers entsprach. Es zeigt vielmehr das Bild eines Mannes, der ein überzeugter Genosse war, den aber Lebenswelten prägten, die dem kommunistischen Universum fremd waren. Valentini analysiert daher den Einfluss seiner aufgeklärten, großbürgerlich liberal-sozialistisch gesinnten Familie. Sie untersucht das sardinische Umfeld, in dem Berlinguer aufwuchs, und seinen ständigen Austausch mit der katholischen Welt. Wie lohnend der Blick auf solche Ambivalenzen sein kann, zeigt sich, wenn die Diskrepanz zwischen einem stereotypisierten Bild des Kommunismus und seinen historisch bedingten Artikulationsformen untersucht wird.

Teil zwei des Bandes fokussiert auf die 1960er und 1970er Jahre. Auch bietet die Autorin eine gelungene Mischung aus Schilderung von Aspekten des privaten und politischen Lebens Berlinguers. Schon im ersten Teil zeigt Chiara Valentini, dass mit den Ereignissen von 1956 - der Suezkrise und vor allem dem Ungarn-Aufstand und seinen Folgen - eine von quälenden Zweifeln gekennzeichnete Phase im politischen Leben und Denken ihren Anfang nahm, die sich auch in der zwiespältigen Beziehung zu den sowjetischen und chinesischen Genossen niederschlug. Der zweite Teil vertieft diesen Befund. Valentini legt anschaulich dar, wie und warum Berlinguers Misstrauen gegenüber Moskau wuchs. Sie zeigt auch, dass Berlinguer Mao Zedong durchaus schätzte. Anders jedoch als die Mehrheit seiner Zeitgenossen im kommunistischen Lager übte die Kulturrevolution keinerlei Faszination auf ihn aus. Hervorzuheben ist auch der gelungene Beitrag der Autorin zu Berlinguers Arbeit im Europäischen Parlament, wo er seine Vorliebe für internationale Fragen zur Geltung bringen und politische Freundschaften pflegen konnte; auch sein Interesse für die feministische Bewegung wird deutlich.

Für die letzte Phase von Berlingers politischer Karriere identifiziert die Autorin vier Kernelemente: Demokratie als universeller Wert, das Streben nach Unabhängigkeit von der UdSSR, das Eintreten der Kommunisten für den europäischen Integrationsprozess sowie der Einsatz für den Frieden.

Hinweise zur Entwicklung des Eurokommunismus gibt der Text nur vereinzelt. Die Schilderung der Beziehungen Berlinguers zu den westkommunistischen Führern Georges Marchais (Frankreich) und Santiago Carrillo (Spanien) bleibt oberflächlich. Der Umgang mit der sozialistischen Konkurrenz beziehungsweise mit sozialdemokratischen Politikern wie Olof Palme (Schweden) und Willy Brandt (Bundesrepublik) wird lediglich skizziert. Dies ist zwar nachvollziehbar in Anbetracht der Entscheidung der Autorin, sich auf die innere Lage Italiens zu konzentrieren, der Leser hätte sich trotzdem eine nähere Betrachtung gewünscht.

Dank seiner wissenschaftlich nachvollziehbaren Darstellung sowie der prägnanten Schilderung der Ereignisse ist der Autorin insgesamt ein lesenswertes Buch gelungen. Es scheint auch für interessierte Laien gut zugänglich. Lob gebührt der hervorragenden Übersetzungsarbeit von Klaus Pumberger, Cristiana Dondi und Andrea Bertazzoni. Es werden nicht nur die Inhalte der Originalfassung gut übersetzt. Auch die Feinheiten vieler italienischen Ausdrücke und die kulturellen Inhalte, die dahinterstecken, werden auf angemessene und gleichzeitig zugängliche Weise wiedergegeben.

Vor diesem Hintergrund ist es bedauerlich, dass die Quellennachweise in den Fußnoten weder umfangreich noch detailliert sind. Hinweise beziehungsweise Erklärungen zu Ereignissen und Personen werden reichlich gegeben, welche dem deutschsprachigen Publikum ein angemessenes Verständnis ermöglichen. Was dagegen fehlt, sind Hinweise auf Archivquellen. Auf Protokolle der KPI weist der Text nur indirekt hin. Genaue Aktenangaben findet man nicht. Es bleibt bei Formulierungen wie "wenn man die Protokolle der KPI liest" (279). Auf persönliche Mitteilungen von politischen Persönlichkeiten an die Autorin beziehungsweise Zeitzeugenberichte wird im Buch ebenfalls oft hingewiesen, nähere Informationen zum Datum oder Art der Mitteilung sind dagegen nicht vorhanden. Diese Bemerkungen ändern zwar nichts an den Verdiensten dieser Publikation, aber sie schmälern ihren wissenschaftlichen Wert.

Deborah Cuccia