Rezension über:

Alexander Prenninger: Das letzte Lager. Evakuierungstransporte und Todesmärsche in der Endphase des KZ-Komplexes Mauthausen (= Mauthausen-Studien; Bd. 16), Wien: new academic press 2022, 412 S., 10 Tbl., 40 s/w-Abb., ISBN 978-3-7003-2219-1, EUR 29,90
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Rezension von:
Janine Fubel
FernUniversität Hagen
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Janine Fubel: Rezension von: Alexander Prenninger: Das letzte Lager. Evakuierungstransporte und Todesmärsche in der Endphase des KZ-Komplexes Mauthausen, Wien: new academic press 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 7/8 [15.07.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/07/37718.html


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Alexander Prenninger: Das letzte Lager

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Am 5. Mai 1945 gab der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Wilhelm Keitel, den Befehl, die Evakuierungen von Kriegsgefangenen-, Zwangsarbeits- und Konzentrationslagern einzustellen. Dass die kriegsbedingte Räumung einzelner Lagerkomplexe trotz dieser Weisung vielerorts nicht beendet wurde, legt die in der Schriftenreihe der Gedenkstätte des Konzentrationslagers (KL) Mauthausen jüngst publizierte Dissertation von Alexander Prenninger offen. Der Autor untersucht darin zum einen die Rolle Mauthausens als Aufnahmelager im KL-System - so diente dieser Komplex ab 1943 der Unterbringung von Insassinnen und Insassen aus den sich aufgrund der deutschen Kriegslage in (Teil-)Evakuierung befindlichen Lagern des SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamtes. Zum anderen zeigt Prenninger in seiner Studie quellenreich und mit eigenem Kartenmaterial unterfüttert auf, wie sich der Komplex Mauthausen 1945 selbst zu einem Evakuierungslager entwickelte. Die partielle Evakuierung seiner Außenlager und die damit verbundene brutale Weiterverschleppung der Gefangenen setzte im April ein und hielt in einigen Fällen bis zum 7. Mai an, während die Räumung des Stammlagers unterblieb. Neben diesen beiden Aspekten arbeitet Prenninger die "Partialisierung" [1] des Hauptlagers heraus und kann belegen, dass auch Mauthausen der Lager-SS 1945 als Sterbelager diente und über entsprechende Zonen verfügte.

Für seine Analyse nutzt der Autor den in der historischen Forschung vergleichsweise neuen Forschungszugang [2], die KL-Räumungen und Todesmärsche - begrifflich als "Evakuierung" gefasst (23) - explizit in das auf militärischen wie sicherheitspolizeilichen Logiken basierende, stets regional vollzogene und ab 1943 radikalisierte deutsche Rückzugsgeschehen einzuordnen. Hierbei betont er ebenfalls, dass die gewaltvolle Phase der Evakuierungen einer Untersuchung bedarf, die über einen "erweiterten Blick" (348f.) operiert. Damit meint Prenninger, dass für diesen Untersuchungsgegenstand die Trennung zwischen Forschungsarbeiten zur Militär- und Besatzungsgeschichte einerseits und zur Konzentrationslager- beziehungsweise Holocaustgeschichte andererseits aufgegeben werden sollte.

Im Anschluss an die Einleitung, die eine Einführung in die Forschungsfragen, die Begrifflichkeiten, den Forschungsstand, die Quellen und den Aufbau der Studie bietet, erfolgt im zweiten Kapitel des Buches die Beschreibung des ersten Evakuierungstransportes, der Mauthausen im Zuge der deutschen Gebietsverluste bei Dnepropetrowsk am 5. Oktober 1943 erreichte und mit dem 1.605 Männer sowie 189 Frauen in das Konzentrationslager verschleppt wurden. Derartige Evakuierungen aus frontnahem Gebiet dienten der Mobilisierung von Zwangsarbeitskräften und, so Prenninger, "als Vorbild und Blaupause für die ab 1944 beginnende Räumung von Gefängnissen und Lagern in den besetzten Gebieten" (51). Im folgenden Kapitel widmet sich der Autor sodann den Räumungszügen, die 1944 nach Mauthausen fuhren. Damit wurden mehrheitlich Jüdinnen und Juden in den Lagerkomplex deportiert, aber auch sowjetische Kriegsgefangene aus Kaunas, Insassinnen und Insassen der KL Majdanek, Auschwitz und Płaszów sowie Bewohnerinnen und Bewohner Warschaus, die im Zuge der brutalen Niederschlagung des Aufstands verschleppt wurden. In diesem Untersuchungsabschnitt legt Prenninger eindrücklich dar, wie sehr das System der Konzentrationslager 1944 durch das Schrumpfen des von Deutschland besetzten Territoriums bei gleichzeitig drastischer Erhöhung der Anzahl an Gefangenen gekennzeichnet war - eine Situation, die sich ab der zweiten Hälfte des Jahres 1944 katastrophal auf die (Über-)Lebensbedingungen aller KL-Insassinnen und -Insassen auswirkte.

Im Fokus des vierten Kapitels stehen die in Etappen zu Fuß und per Bahn erfolgten Evakuierungen der Komplexe Auschwitz und Groß-Rosen. Die aus Auschwitz Deportierten, die die Strapazen der im Januar 1945 durch Kälte und Schnee erzwungenen Fußmärsche vom Haupt- wie von den Außenlagern nach Gleiwitz und Loslau überlebt hatten, evakuierte das Lagerpersonal von dort aus zumeist per Zug nach Mauthausen. Dort war die Kommandantur Ende Januar mit der Aufnahme aber derart überlastet, dass sie ankommende Züge abwies. Dies hatte für die Deportierten zur Folge, dass sie die Tortur der Evakuierung ohne Verpflegung, ohne Schutz vor Kälte und alliierten Luftangriffen - die auf Bahnhöfe und Gleisanlagen zielten - weiter zu erleiden hatten und ihre Transporte nach Sachsenhausen weitergeschickt wurden. Im Frühjahr 1945 gingen dann auch vom KL Sachsenhausen Züge nach Mauthausen ab. Wie Prenninger im fünften Kapitel herausarbeitet, erfolgten im März und April die von der Lager-SS vollzogenen (Teil-)Räumungen der KL-Komplexe im Reichsgebiet; auch aus den Komplexen Mittelbau-Dora, Ravensbrück und Flossenbürg wurden nun vor allem schwerkranke Insassinnen und Insassen nach Mauthausen "abgeschoben".

Ab der zweiten Märzhälfte 1945 war die Situation im KL Mauthausen selbst durch Evakuierungsvorbereitungen gekennzeichnet. Im sechsten und umfangreichsten Kapitel der Studie widmet sich Prenninger der Räumung des Komplexes, die mit der Evakuierung der Außenlager einsetzte. Mit den Rückdeportationen aus den NS-Gauen Wien, Niederdonau, Steiermark sowie Kärnten in das Haupt- wie in die Außenlager des Gaus Oberdonau gab die Lager-SS frontnahe Lagerstandorte auf. Das stets regional vollzogene Evakuierungshandeln stand dabei in Abhängigkeit vom Vormarsch der Alliierten und hielt im Lagerkomplex Mauthausen noch bis Kriegsende an: So beendeten britische Soldaten am 5. Mai 1945 einen Gewaltmarsch, den Häftlinge aus Schloss Lind antreten mussten, indem sie das Wachpersonal festnahmen. Und das Südlager am Loiblpass wurde sogar noch am 7. Mai geräumt, obwohl der Kommandoführer zwei Tage zuvor bekannt gegeben hatte, dass die Übergabe an das Rote Kreuz unmittelbar bevorstehe.

Wie Prenninger in dem als Exkurs angelegten siebten Kapitel seiner Studie darlegt, betraf die Evakuierung jedoch nicht nur die Insassinnen und Insassen der KL-Komplexe, sondern auch die von Gefängnissen und weiteren NS-Zwangslagern. Das Konzentrationslager Mauthausen hatte die Gefangenen aufzunehmen. Die Grenzen zwischen den Haftstätten und Zwangslagern der Lager-SS, der Polizei und der Wehrmacht begannen sich somit aufzulösen. Zur Evakuierung zählten darüber hinaus auch die Todesmärsche, die ungarisch-jüdische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter nach Mauthausen antreten mussten, sowie die als Aktion der "Weißen Busse" bezeichnete Rettung von KL-Gefangenen durch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz - Aspekte, auf die der Autor im achten und neunten Kapitel seines Werkes eingeht. Prenninger verdeutlicht damit am Beispiel Mauthausens, wie vielschichtig sich das Ereignis "Evakuierung" 1945 in Bezug auf das KL-System gestaltete.

Mit "And again evacuation ..." ist das Resümee der Studie überschrieben. Das gewählte Zitat unterstreicht den erfahrungsgeschichtlichen Schwerpunkt, den Prenninger für seine Analyse gewählt hat: Für die Mehrheit der Häftlinge des KL-Systems gehörte - neben dem lebensbedrohenden Mangel bei fortgesetzter Ausbeutung - das Mehrfach-Deportiert- oder -Evakuiert-Werden zur zentralen Erfahrung der Jahre 1944/45. Evakuierungen fanden dabei auf unterschiedliche Art und Weise statt - mit Zügen und zu Fuß, aber auch per Lkw oder Pferdewagen. Während der Transporte kam es häufig zur Ermordung politisch unliebsamer oder erschöpfter und kranker Gefangener durch das Lagerpersonal und weiterer Akteure, aber auch zu Fluchten.

Wie sich das Geschehen aufseiten der Wachmannschaften gestaltete, also inwiefern Desertationen auftraten oder wo sich beispielsweise die Aufseherinnen der Frauenlager während der Räumungen aufhielten, lässt die Studie hingegen offen. Hier hat der gewählte Fokus auf die Erfahrungen der Deportierten eine Verengung zur Folge: Fragen nach den persönlichen Evakuierungsvorbereitungen der Lager-SS und ihrer Familien, die - im Falle der Kommandanturangehörigen - mitunter in unmittelbarer Nähe zum Lager lebten, stellen ebenso eine Leerstelle der Untersuchung dar, wie die Analyse der Evakuierungserfahrungen und Handlungsspielräume des Lagerpersonals. Dieser Umstand wird wohl der schwierigen - und regional mitunter sehr unterschiedlichen - Quellenlage geschuldet sein.

Gleichwohl gelingt es Prenninger in seinem Buch aufzuzeigen, welche zentrale Rolle die Lager-SS dem Komplex Mauthausen zu Kriegsende 1944/45 beimaß - ein Befund, der für die allgemeine Forschung zur Geschichte der Konzentrationslager von großem Interesse ist. Beispielhaft und beeindruckend ist darüber hinaus, wie der Autor die Erinnerungsberichte und Aussagen der Deportierten einbindet und damit sowohl die heterogene Zusammensetzung der Lagerzwangsgemeinschaft als auch die unterschiedlichen Formen darlegt, die die Evakuierungs- und Auflösungstransporte annahmen.


Anmerkungen:

[1] Stefan Hördler: Ordnung und Inferno. Das KZ-System im letzten Kriegsjahr, Göttingen 2015, 343.

[2] Vgl. die Beiträge in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 81 (2022) H. 1, Themenheft: Der Zweite Weltkrieg als Evakuierungskrieg. Praktiken der Deportation, Räumung und Zerstörung im militärischen Rückzug.

Janine Fubel