Rezension über:

Thomas Must / Jörg van Norden / Nina Martini (Hgg.): Geschichtsdidaktik in der Debatte. Beiträge zu einem interdisziplinären Diskurs (= Geschichtsdidaktik Theoretisch; Bd. 2), Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2022, 200 S., ISBN 978-3-7344-1408-4, EUR 29,90
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Rezension von:
Alexander Tittmann
Universität Würzburg
Redaktionelle Betreuung:
Christian Kuchler
Empfohlene Zitierweise:
Alexander Tittmann: Rezension von: Thomas Must / Jörg van Norden / Nina Martini (Hgg.): Geschichtsdidaktik in der Debatte. Beiträge zu einem interdisziplinären Diskurs, Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2022, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 4 [15.04.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/04/38985.html


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Thomas Must / Jörg van Norden / Nina Martini (Hgg.): Geschichtsdidaktik in der Debatte

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Das zu besprechende Buch dokumentiert das Kolloquium "Geschichte und Öffentlichkeit", das zwischen 2016 und 2019 an der Universität Bielefeld stattfand. Dabei diskutierte zu unterschiedlichen Themen jeweils ein Vertreter der Geschichtsdidaktik mit dem "einer anderen Domäne". Die Absicht wird wie folgt beschrieben: "Die Geschichtsdidaktik tritt damit in einen konstruktiven Austausch mit bildungsrelevanten Nachbardisziplinen, sucht Anschluss und Impulse für die Reflexion des eigenen Selbstverständnisses." (7).

Warum dieses Ziel - zumindest in vorliegendem Band - nur bedingt erreicht wurde, soll im Folgenden etwas genauer dargelegt werden. Gleich die erste Diskussion dreht sich um das didaktisch sehr relevante Thema "Bilder". Jörg van Norden als Vertreter der Geschichtsdidaktik übt in seinem Beitrag zunächst Kritik an der gängigen Methode der Bildinterpretation, wie sie sich auch in vielen Schulgeschichtsbüchern zeigt: eine Abfolge aus den vier Schritten Ersteindruck, Beschreiben, Deuten, Gesamtinterpretation. Er verweist zu Recht darauf, dass alle diese Ansätze auf das Schema des Kunsthistorikers Erwin Panofsky zurückgehen, das ausführlich vorgestellt wird. Laut van Norden werde dabei aber auf das "Werturteil" verzichtet, das "von zentraler Bedeutung" sei (11). Es fehlt dann jedoch eine schlüssige Begründung für diese Kritik, ebenso wie eine überzeugende Konkretisierung, wie dies unterrichtsmethodisch umgesetzt werden könnte. Die folgenden Ausführungen sind nicht immer stringent und sprachlich teilweise unnötig schwer verständlich. Diese sprachliche Sperrigkeit wird durch das verwendete Gendern noch verstärkt, das auch grammatisch nicht immer korrekt ist, so beispielsweise "Der Realismus vernachlässigt die Standortgebundenheit, die sowohl der/die Maler*in als auch die Betrachter*innen ihres Bildes in dem bestimmt, was sie tun." (19).

Fachwissenschaftlich können die Ausführungen ebenfalls nicht immer überzeugen. So wird etwa der Versailler Vertrag auf das Jahr 1918 (!) datiert (23). Inwiefern ein Vergleich der Jahre 1871, 1885 und 1918 anhand des Bildes "Kaiserproklamation" (gemeint ist offenbar die dritte Fassung des Gemäldes von Anton von Werner, ohne dass dies explizit gesagt wird) "diachrone Multiperspektivität" (23) herstellen soll, erschließt sich dem Rezensenten ebenso wenig wie die Frage, ob es sich bei dem Blatt eines Spatens aus der NS-Zeit um "(K)Ein Herrscherbild" handelt.

Wesentlich überzeugender sind die Überlegungen der Kunsthistorikerin Britta Hochkirchen zum gleichen Thema, die im Kern darauf zielen, dass man viel mehr darauf achten müsse, "wie" Bilder etwas zeigen und weniger darauf, "was" sie zeigen. Als direkte Antwort auf van Norden bezieht auch sie sich auf das bekannte Herrscherbild Ludwigs XIV. von Hyacinthe Rigaud und verweist vor allem auf den Eigenwert von Bildern, die "mehr als ein und manchmal überhaupt kein Abbild" (39) seien.

Auf das sehr aktuelle Thema der "Erinnerungskultur" beziehen sich die beiden folgenden Beiträge der Geschichtsdidaktikerin Juliane Brauer und des Psychologen Carlos Kölbl. Brauer versucht zunächst, die Begriffe "Geschichtskultur" und "Erinnerungskultur" voneinander abzugrenzen und konstatiert abschließend den "ungebrochene[n] Vorrang des Konzepts der Erinnerungskultur gegenüber dem der Geschichtskultur" (57). Kölbl dagegen stellt einen Bezug zwischen den beiden Begriffen "Geschichtsbewusstsein" und "Erinnerungskultur" her und möchte seine Ausführungen "als eine spezifische Ergänzung" zu denen Brauers verstanden wissen (63). Beide Artikel sind durchaus lesenswert und ergänzen sich tatsächlich gut.

Es folgen zwei Beiträge zur Historisch-Politischen Bildung. Philipp McLean stellt Überlegungen zum "Zusammenspiel historischer und politischer Bildungsbemühungen bei der Förderung einer emanzipativ verstandenen Mündigkeit" an. Zentrale Frage sei, "was die historische Perspektive in kritisch-emanzipativer Absicht zur politischen Dimension beitragen kann" (79). Auch wenn hier der Eigenwert der historischen Perspektive und der Geschichtswissenschaft doch recht niedrig eingeschätzt werden, sind die Überlegungen doch in sich schlüssig und nachvollziehbar. Dies kann für den folgenden Artikel von Reinhold Hedtke nur sehr bedingt konstatiert werden. Er beginnt damit, dass er historische Bildung offenbar nur in einer dienenden Funktion der politischen Bildung gegenüber sieht. Eher fragwürdig sind dann die weiteren Ausführungen. So wird zunächst postuliert, dass die kritische Funktion von Geschichtsdidaktik und politischer Bildung immer wieder verteidigt werden müsse - "sowohl innerhalb der Disziplinen als auch gegenüber politischen Ansprüchen und Vorgaben" (99). Es wird dabei übersehen, dass die "kritische Funktion" doch gerade einen dezidierten politischen Anspruch darstellt. Ganz problematisch ist der Umstand, dass Hedtke eine solche Vorgabe nur dann kritisch sieht, wenn es um eine "auf Akzeptanz zielende Einbürgerung der nachwachsenden Generationen in die herrschenden Verhältnisse" (100) geht. Eine auf grundsätzliche Kritik an diesen Verhältnissen zielende Didaktik wird dagegen ausschließlich positiv gezeichnet: Es komme darauf an, "dass sich die kritischen Strömungen der Geschichtsdidaktik und der Politikdidaktik darüber verständigen, wie sie ihre jeweilige kritische Perspektive wechselseitig stützen und stärken können" (100). Als Ziel wird damit offenbar weniger die individuelle Befähigung der Schülerinnen und Schüler zu einer eigenen kritischen Haltung in Bezug auf unterschiedliche politische Positionen formuliert, sondern eher die unkritische Übernahme von Haltungen, welche die heutige Gesellschaft negativ sehen und entsprechend verändern wollen.

In drei weiteren Themenblöcken geht es um Inklusion (Barsch/Te Poel), Kompetenzorientierung (Körber/Gunia) und Narrativität (Barricelli/Preußer). Auch hier werden eine ganze Reihe durchaus relevanter und überlegenswerter Aspekte angesprochen, es fällt aber auch auf, dass die Diskussionen stellenweise aneinander vorbeilaufen. So geht es etwa in dem Beitrag von Ulrike Preußer primär um literaturdidaktische Fragen, der Begriff der Narrativität wird dabei jedoch ganz anders verstanden als bei dem Geschichtsdidaktiker Michele Barricelli, ohne dass diese Unterschiede ausreichend thematisiert werden. Insgesamt ist die grundsätzliche Konzeption des Bandes interessant und vielversprechend, es wird aber nicht ihr gesamtes Potential ausgeschöpft. Auch wird in einigen Beiträgen das inhaltliche Verständnis durch die sprachliche Gestaltung unnötig erschwert - hier sollte man als Zielgruppe nicht nur Fachkolleginnen und -kollegen, sondern zumindest auch Studierende der jeweiligen Fächer im Blick haben.

Alexander Tittmann