Matthias Mende / Rainer Schoch (Bearb.): Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk in drei Bänden. Bd. I: Kupferstiche und Eisenradierungen, München: Prestel 2000, 368 S., 205 Abb., ISBN 978-3-7913-2434-0, DM 248,00
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Mit diesem ersten Band eines auf drei Bände angelegten Gesamtkataloges der Druckgraphik Dürers liegt nach Jahrzehnten wieder ein Verzeichnis in deutscher Sprache vor. Nach Joseph Meders grundlegender Arbeit von 1932, welche die Drucke in ihren verschiedenen Zuständen systematisch erfasste, eine Abfolge der veranstalteten Abdrucke präsentierte und einzelne Qualitätsstufen sondierte, erwies sich seit Erwin Panofskys Monographie von 1943, die das graphische Werk besonders berücksichtigte, die englischsprachige Literatur hinsichtlich der Druckgraphik Dürers mit den Bänden der Hollstein-Reihe (1962/1971) sowie von Walter L. Strauss (1975-1981) als tonangebend. Kam es anlässlich des 500. Geburtstags des Künstlers 1971 mit den letzten großen Dürer-Retrospektiven zu einer neuen Publikationswelle, so veranstaltete das Germanische Nationalmuseum Nürnberg im Jahr 2000 eine umfassende Ausstellung zu Dürers graphischem Schaffen. Die etwa 260 Exponate gaben nicht nur einen Überblick über das Werk, sondern mit den Leihgaben, die zumeist aus der außergewöhnlich vollständigen Schweinfurter Sammlung Otto Schäfer stammten, waren Frühdrucke von durchgehend hervorragender Qualität vertreten, teils in seltenen Probedrucken, teils in einmaligen Druckzuständen. Die Blätter der Sammlung Schäfer lieferten bis auf wenige Ausnahmen auch für den Katalog die Reproduktionsvorlagen, und um es gleich vorwegzunehmen: Das Buch besticht durch die Qualität seiner Abbildungen.
Der Band gliedert sich in eine konzise Einführung über die Rolle der Druckgraphik im Schaffen Dürers und in einen umfassenden Katalogteil. Obwohl dieser chronologisch angelegt ist, werden durch ausführliche Zwischenbemerkungen zu den großen Themenblöcken (Kupferstich-Passion, Meisterstiche, Apostelserie, Porträtstiche) auch inhaltliche Zäsuren gesetzt. Drei von der jüngeren Forschung wiederholt angezweifelte Blätter stehen als Abschreibungen am Schluss des Kataloges. Im Anhang findet sich neben den Konkordanzentabellen (zu Bartsch 1808, Meder 1932, Strauss 1976) und der Bibliographie ein thematisch gruppiertes Verzeichnis der Werke. Auf ein allgemeines Register ist in diesem Band leider verzichtet worden.
Mehr noch als die Malerei begründete die Druckgraphik den Erfolg und europäischen Ruhm Dürers schon zu seinen Lebzeiten. So beginnt Rainer Schoch seine facettenreiche Einleitung mit der vielzitierten Lobrede des Erasmus von Rotterdam auf Dürers herausragende Leistungen in dem noch jungen Medium. In straffer Folge beleuchtet Schoch ausgewählte Aspekte, wobei auf eine Diskussion speziell kunsthistorisch-stilkritischer Fragestellungen in diesem begrenzten Rahmen dankenswerter Weise verzichtet wird. Im Mittelpunkt stehen vielmehr die Jahre des Künstlers bis 1500, Produktion und Vertrieb, die Techniken selbst sowie die zeitgenössische und posthume Resonanz.
Für die bei Dürer zu beobachtende Synthese verschiedener graphischer Traditionen gelten als wesentliche Voraussetzungen seine Ausbildung in der väterlichen Goldschmiedewerkstatt sowie seine Lehre bei Michael Wolgemut, der seinerzeit mit den Holzschnittentwürfen für die Schedelsche 'Weltchronik' und den 'Schatzbehalter' befasst war. Erste Entwürfe Dürers für Buchillustrationen entstehen bereits während der Wanderjahre. Dürers Entscheidung für diesen noch neuen Sektor auf dem Markt dürfte durch seinen Paten Anton Koberger, Drucker und Verleger in Nürnberg, beeinflusst worden sein. Überlegungen zu Kobergers Bedeutung für Dürer auch hinsichtlich unternehmerischer Fragen (Urheberrecht, publizistische Erfahrung, Vertrieb) lassen allerdings nurmehr Raum für einen allgemeinen Hinweis auf die nicht zu unterschätzende Rolle des Buchdrucks der Zeit. Die Verlage waren Umschlagplätze für Nachrichten und Themen, zu den Verlegern stand der Kreis der Humanisten in engstem Kontakt, sei es als Autoren oder als Abnehmer.
Schon früh standardisierte Dürer die unterschiedlichen Formate seiner Blätter und bediente das gesamte Gebiet der Druckgraphik seit den ersten Meisterjahren in außerordentlicher thematischer Vielfalt. Innovativ und besonders erfolgreich auf dem Graphikmarkt waren seine teils auffallend großformatigen Arbeiten, in denen eine Auseinandersetzung mit Antike und italienischem Quattrocento stattfand. Wurde stets die Bedeutung Dürers früher Drucke für den Transfer und die Verbreitung italienischer Themen und Formensprache im Norden herausgestellt, so betont Schoch, dass der Künstler sein Graphikangebot ganz bewusst auch für Italien konzipiert habe. Ob die künstlerischen Reflexe im Süden jedoch vorrangig Ergebnis einer persönlichen Strategie sind oder aus Dürers zeitgenössischem Ruhm, verbunden mit der Dynamik der neuen "Reproduktionskunst" resultieren, wird sich heute kaum mehr abschließend klären lassen. Für den Vertrieb der Blätter bot eine Handelsmetropole wie Nürnberg mit den europaweiten Verbindungen seiner Kaufleute beste Möglichkeiten. Dass Dürer zusätzlich gezielt Kolporteure einstellte, wie schriftliche Verträge dokumentieren, betont die wichtige Rolle der Druckgraphik als Verdienstmöglichkeit.
Ergänzend zum Text soll eine schematische Darstellung Überblick über Dürers Graphikproduktion geben. Erhellend wäre es in diesem Rahmen gewesen, den vier Kurven der Produktivität in den graphischen Techniken eine fünfte für Dürers Tätigkeit als Maler hinzuzufügen. Die visuelle Einblendung weiterer Determinanten (z.B. Dürers Reisen oder die großen Auftragsarbeiten) hätte zu einer differenzierteren Analyse beitragen und extreme Schwankungen im Kurvenverlauf verständlicher machen können. Im Zusammenhang mit einer statistischen Erhebung der Produktion wäre auch eine systematische Erfassung seiner Einkünfte aufschlussreich, zumal im Fall Dürer zahlreiche schriftliche Belege vorhanden sind (freier Verkauf, Auftragsarbeiten, Leibrente etc.). Neben einem knappen Ausblick auf die Berechnungen Wolfgang Schmids (Dürer als Unternehmer, 2001) finden sich vereinzelte Angaben über Dürers Entlohnung nur im Band verstreut. In der Diskussion der unterschiedlichen graphischen Techniken werden für den Holzschnitt als Neuerungen Dürers die Verfeinerung der Technik, der konsequente Verzicht auf die Farbe und das folgerichtig eingesetzte Monogramm herausgestellt, für den Kupferstich die einzelnen Arbeitsschritte anhand der außergewöhnlich gut überlieferten Genese des Adam und Eva-Stichs luzide demonstriert. Eine kurze Episode experimentalen Charakters stellen die drei Kaltnadelblätter und sechs Eisenradierungen dar, wobei der Aspekt der stärker malerischen Möglichkeiten in diesen Techniken als ausschlaggebend für die Versuche beurteilt wird. Der heute obligatorische Diskurs zu Werkstattfragen und Produktionspraxis bleibt weitgehend unberührt.
Im Katalog werden die technischen Daten jeder Nummer ergänzt durch die detaillierten Angaben Meders, denen Nachweise von Aufbewahrungsorten hinzugefügt wurden. Auf Forschungsstand und eine anschauliche Beschreibung der Darstellung folgt die ikonographische Einordnung (oft nützlich bereichert durch Zitate literarischer Vorgaben, durch Hinweise auf den politisch-historischen Entstehungskontext, realienkundliche Details etc.). Ein Gespür für nach wie vor ungelöste Fragen zeichnet den jeweiligen Abriss über die teils sehr kontroversen Interpretationen der ikonologischen Forschung aus, wobei sich die Autoren mit Spekulationen zurück- und im Zweifelsfall meist an Panofsky halten. Beobachtungen zu Besonderheiten des graphischen Vokabulars beenden den einzelnen Beitrag. Eine Auswahlbibliographie für jede Nummer und ein beschränkter Fußnotenapparat tragen zur Übersichtlichkeit bei. Trotz großer Dichte der Texte versteht es sich nahezu von selbst, dass im wissenschaftlichen Format eines Kataloges das Faszinosum Dürer, sein erzählerischer Reichtum, differenziertere Interpretationen, Fragen z.B. nach Typologie, Einflüssen oder künstlerischer Rezeption nur angerissen und Verweise auf Querverbindungen im Werk Dürers nur summarisch gegeben werden können. Angesichts der nicht mehr überschaubaren Dürer-Literatur stellt die besondere Berücksichtigung und Sondierung der seit 1971 erschienenen Publikationen ein weiteres Verdienst des vorliegenden Bandes dar, der auch durch gleichmäßige Erörterung der Probleme, durch Klarheit in Aufbau und Sprache Handbuchqualitäten besitzt. Ob die nach kritischer Auseinandersetzung mit den tradierten Benennungen einzelner Blätter vorgenommenen Titelkorrekturen aber Maßstäbe setzen, wird erst die Zukunft zeigen.
Annette Kranz