Rezension über:

Michael Jeismann: Auf Wiedersehen Gestern. Die deutsche Vergangenheit und die Politik von morgen, München: DVA 2001, 214 S., ISBN 978-3-421-05495-1, EUR 18,90
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Rezension von:
Martin Sabrow
Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam
Redaktionelle Betreuung:
Edgar Wolfrum
Empfohlene Zitierweise:
Martin Sabrow: Rezension von: Michael Jeismann: Auf Wiedersehen Gestern. Die deutsche Vergangenheit und die Politik von morgen, München: DVA 2001, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 1 [15.01.2002], URL: https://www.sehepunkte.de
/2002/01/2989.html


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Michael Jeismann: Auf Wiedersehen Gestern

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Von Friedrich Schlegel stammt die Feststellung, dass der Historiker ein rückwärts gewandter Prophet sei. Michael Jeismanns Essay "Auf Wiedersehen Gestern. Die deutsche Vergangenheit und die Politik von morgen" nimmt dieses gern als bloßes Paradoxon gelesene Aperçu ernst. Die "Dynamik von Historie und Gegenwart" ist sein Thema, und sein Ziel lautet, aus dem Wandel des Blicks in die Vergangenheit Erkenntnisse über die Beschaffenheit der Gegenwart und die Konturen der Zukunft zu gewinnen.

Das ist ein heikles Unterfangen. Die Halbwertszeit von Gegenwartsdiagnosen ist gemeinhin kurz und verlängert sich auch nicht, wenn diese in der Spur von Helmut Schelsky mit dem Generationsbegriff hantieren und alle paar Jahre eine neue Generation ausrufen, die gestern "89er-Generation" heißen mochte und heute "Generation Golf" und morgen vielleicht schon wieder ganz anders. Gerade Historiker und zumal, wenn sie selbst dem Gestaltwandel gesellschaftlicher Meistererzählungen nachspüren, wissen um die zwangsläufige Begrenztheit des Zeitgenossenurteils, das sich weder durch die introspektive Ermittlung vermeintlich "erkenntnisleitender Interessen" im Stile der siebziger Jahren aus dem Sumpf der getriebenen Zeitzeugenschaft auf die Höhe der beobachtenden Zusammenschau bringen lässt noch durch das Wissen um die Perspektivität jeder Erkenntnis: Immer tendiert jede Gegenwart dazu, sich selbst als Fluchtpunkt und Vollendung der hinter ihr liegenden Vergangenheit zu begreifen, und nie kennt sie das Ende der Geschichte, als deren Anfang, Mitte oder Ende sie einstmals im kulturellen Gedächtnis einer späteren Zeit abgelagert werden wird.

Diesem Dilemma versucht Jeismann mit dem Kunstgriff zu entgehen, dass er seine - und unsere - Gegenwart entgegen dem biografischen Beharrungswunsch nicht als Kontinuität, sondern als Zäsur beschreibt, als "einen Umbruch [...], wie er nach Kriegsende nicht mehr erlebt wurde". Seit einigen Monaten sind solche Überlegungen Allgemeingut geworden. Jeismanns Buch aber lag bereits auf dem Verkaufstisch, als die Terroranschläge auf die USA vom 11. September 2001 die Welt erschütterten, und dieser Umstand gibt seinem Gedankengang besonderen Kredit.

Bei näherem Hinsehen trägt allerdings der von Jeismann diagnostizierte Umbruch vertrautere Züge als der Konflikt der Kulturen, in dessen Bann die Welt seit dem September letzten Jahres steht. Sein Blick beschränkt sich auf die Spannung zwischen Nationalität und Transnationalität im europäischen Kontext; und "Auf Wiedersehen Gestern" formuliert den Abschied von der nationalen Meistererzählung, das "Zerbrechen nationaler Geschichtsvorstellungen" auf dem Weg zu einer neuen europäischen und darüber hinaus globalen Identität, zu einer neuen Weltinnenpolitik. Kein Ereignis der Vergangenheit könnte der Europäisierung der Vergangenheit sperriger im Weg stehen als der nationalsozialistische Zivilisationsbruch des Holocaust, so möchte man meinen. Doch die Epoche der Vergangenheitsbewältigung ist zu Ende, argumentiert Jeismann mit guten Gründen, nach dem Abschied von der Zeitgenossenschaft wirkt der aus früheren Kämpfen gegen das Vergessen bewahrte Gestus der Entlarvung ebenso verstaubt, wie der Umgang der politischen Klasse mit der NS-Zeit an Peinlichkeit verloren hat: Undenkbar, dass die Repräsentanten der Berliner Republik sich der Vergangenheit noch einmal so ungelenk und verkrampft stellen könnten wie vor fünfzehn und zwanzig Jahren der seinerzeitige Bundestagspräsident im Deutschen Bundestag und der seinerzeitige Bundeskanzler auf dem Soldatenfriedhof von Bitburg. Das neue, postnationale Deutschland hat sich, so Jeismann, vom Holocaust nicht dadurch befreit, dass es ihn marginalisierte oder aus dem kollektivem Gedächtnis entsorgte, wie Saul Friedlaender einst befürchtet und Martin Walser späterhin vielleicht erhofft hatte, sondern indem es ihn im Gegenteil vorbehaltlos annahm und damit vergangenheitspolitisch funktionalisierte: "Nicht in der Absetzung, sondern in der Aneignung der Geschichte liegt der Schlüssel zum Verständnis der vereinigten Bundesrepublik."

Auf der Grundlage dieses Befundes formuliert Jeismann seine provozierende These: Paradoxerweise und anders, als es die Akteure wollten, habe die gegen viel Abwehr durchgesetzte "Kultur des Schuldeingeständnisses" nichts weiter als eine Distanzierung eigener Art bedeutet; nicht durch Vergessen werde die Vergangenheit wahrhaft erledigt, sondern durch Erweckung, und das Denkmal fixiert letztlich nur den Blick, der sich abwendet. Die Verlagerung der kulturellen Erinnerung von den Tätern hin zu den Opfern erfülle dieselbe Funktion wie die Verdrängung des spaltenden Kriegsgedenkens früherer Jahrzehnte zugunsten des einenden Holocaustgedenkens unserer Tage. Mit diesem Wechsel erst werde die deutsche Vergangenheit zu einem globalen Lehrstück und zum Fundament einer europäischen Erzählgemeinschaft, in der der deutsche Sonderfall zum europäischen Anwendungsfall mutiert sei und auch die einstigen Gegner von Frankreich bis Dänemark sich bewusst würden, dass sie selbst ebenso wenig frei von Kollaboration und Anpassung waren wie das nationalsozialistische Deutschland.

Viele Gedanken dieses so suggestiv wie assoziativ geschriebenen Essays bestechen, der die Umformung des Holocausts von einer nationalen Last zu einer europäischen Chance in immer neuen Anläufen nachzeichnet und einen überzeugenden Bogen von der Entscheidung für das Holocaust-Mahnmal im Berliner Regierungsviertel als Ausdruck einer staatspolitisch angeeigneten Vergangenheit bis zur Stockholmer Holocaust-Konferenz von 22 europäischen Regierungschefs im Januar 2000 schlägt. Dennoch mag man dem Autor nicht vorbehaltlos folgen. So irritiert, dass sein dem Wandel des Umgangs mit der Vergangenheit gewidmeter Essay allein auf das "Dritte Reich" abhebt. Hat die Bundesrepublik im kulturellen Gedächtnis denn so gar keine nennenswerten Spuren hinterlassen, und war da nach 1989 nicht auch noch eine zweite deutsche Vergangenheit zu bewältigen, die in den Augen der einen eine Art historischer Wiedergutmachung für die Fehler einer geschichtsvergessenen Zeit nach 1945 bringen sollte und in den Augen der anderen den klaren Blick für die Singularität von Auschwitz zu trüben drohte? Dass es in den neunziger Jahren eine überaus heftige und andauernde Debatte um den zukünftigen Ort der vergangenen DDR gegeben hatte, muss Jeismann völlig aus dem Gedächtnis geschwunden sein, wenn er sich darüber wundert, dass einem ostdeutschen Bundestagspräsidenten namens Wolfgang Thierse im Jahre 2001 ein Preis für demokratisches Engagement verliehen wurde, oder wenn er allen Ernstes behauptet, der Historikerstreit von 1986/87 um die Einzigartigkeit der Endlösung sei der letzte innerdeutsche Kampf um die Vergangenheit und ihre Erinnerung gewesen.

Im ganzen wirkt Jeismanns ihren Gegenstand immer neu umkreisende Argumentation eine Spur zu apodiktisch, und gelegentlich begeht sie auch die kulturhistorische Ursünde, dem Blick der Zeitgenossen entgegenhalten zu wollen, wie die Dinge sich in Wirklichkeit und "tatsächlich" verhalten hätten. Nirgendwo trennt die Untersuchung systematisch zwischen staatlicher Vergangenheitspolitik, individueller oder kollektiver Erinnerung und professioneller Geschichtsschreibung; nicht selten verengt die Gedankenführung ihren Blick für den Wandel der Vergangenheitsaneignung auf die geschichtspolitischen Anstrengungen von Regierung und Bundestag. Das führt dann beispielsweise dazu, dass ausgerechnet ein höchst umstrittenes und selbst im Bundestag fast gescheitertes Projekt des Berliner Künstlers Hans Haacke, der ein aus der Erde deutscher Wahlkreise gestaltetes Biotop im Lichthof des Berliner Reichstages zu installieren beauftragt wurde, zum Kronzeugen für die neue Unbefangenheit der Berliner Republik im Umgang mit der Last der Vergangenheit stilisiert wird.

Auch im Licht des 11. September wirkt manches anders, als der Autor glauben machen will: Anders als noch im Kosovo-Krieg kommt die Auseinandersetzung mit dem islamischen Terrorismus gänzlich ohne die Chiffre Auschwitz aus und entpuppt sich die vermutete Universalisierung des Holocaust eher als zumindest temporäre Marginalisierung. Statt dessen ereignete sich etwas, was in Jeismanns Analyse schon gar nicht vorgesehen war: nämlich die Rückkehr des Nationalstaates als politische Handlungsgröße, und das in eben dem Moment, als die Europäisierung mit der Aufgabe der nationalen Währungen zum ersten Mal in den vermeintlichen Kernbereich kultureller Identitätsbildung eingreift.

Wenngleich Jeismanns Zeitdiagnose so "die Politik von morgen" weniger erhellen kann, als ihr Titel verspricht; zum Verständnis der Geschichte des Umgangs mit der Vergangenheit hat sie viel beizutragen - und rehabilitiert auf diese Weise ungewollt auch Friedrich Schlegels oben zitiertes Diktum.

Martin Sabrow