Karl Ditt / Rita Gudermann / Norwich Rüße (Hgg.): Agrarmodernisierung und ökologische Folgen. Westfalen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert (= Forschungen zur Regionalgeschichte; Bd. 40), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2001, XI + 812 S., ISBN 978-3-506-79613-4, EUR 65,45
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Es bedurfte nicht erst der jüngsten Skandale um Tierfutter, BSE und MKS sowie der folgenden Diskussion, um die Agrarmodernisierung zum Gegenstand historischer Reflexion zu machen. Ausgehend vom späten 18. Jahrhundert veränderte dieser Prozess die Landwirtschaft ähnlich grundlegend wie die Industrialisierung den sekundären Sektor. Ihre agrar- und umweltgeschichtliche Analyse stand im Mittelpunkt der Tagung "Landwirtschaft und Umwelt in Westfalen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert" am 14./15. September 2000 in Münster. 29 Beiträge wurden nun im vorliegenden Band publiziert. Der zeitliche Zusammenfall des vom Westfälischen Institut für Regionalgeschichte getragenen Projekts mit den eingangs erwähnten Ereignissen ist eher zufällig, der Gegenwartsbezug der hier vereinten Studien dagegen ausdrücklich beabsichtigt.
Das zentrale Anliegen des Projekts markiert zugleich das Hauptverdienst des Sammelbandes: In interdisziplinärer Kooperation gelang eine ertragreiche Kombination agrar- und umweltgeschichtlicher Fragestellungen und Forschungsansätze. Aus umwelthistorischer Perspektive hat Joachim Radkau schon 1994 unterstrichen, dass es lange Zeit ein zentrales Umweltproblem der Menschheit war, die Fruchtbarkeit des Bodens dauerhaft zu erhalten.[1] Er forderte daher zu Recht, die Beziehungen zwischen Umwelt- und Agrargeschichte in der deutschen Forschung auszubauen. Diese Anregung setzt nun der Sammelband um, indem ein Brückenschlag zwischen einer "ökologisierten" Agrargeschichte und einer an der Landwirtschaft interessierten Umweltgeschichte versucht wird, ein Brückenschlag, der "neue Perspektiven für randständige Disziplinen" eröffnet (Jürgen Büschenfeld, 259).
Einleitend umreißen die Herausgeber Prozess und Ablauf der deutschen Agrarmodernisierung als Forschungsgegenstand. Leider verzichten sie auf eine Definition des Begriffs, diese bietet erst Ulrich Pfister (129). Die Autoren thematisieren wichtige Entwicklungen des 19. (Durchsetzung des Agrarindividualismus, Rationalisierung der Anbaumethoden, Melioration) und 20. Jahrhunderts (Technisierung, Chemisierung, Flurbereinigung) und skizzieren den Gang agrar- wie umwelthistorischer Forschung in Deutschland. Eine systematische Auswahlbibliographie am Ende des Bandes rundet diesen Forschungsüberblick ab.
Der Hauptteil des Bandes gliedert sich in zwei Kapitel überregionalen Zuschnitts und zwei Kapitel, die vor allem den westfälischen Raum in den Blick nehmen. Zunächst werden allgemein die mit der Agrarmodernisierung verknüpften Prozesse und ihre sozialen wie ökologischen Grundlegungen behandelt. So problematisiert etwa Rolf Gehrmanns Beitrag zahlreiche Theorien und Parameter der "klassischen" historischen Demographie. Gehrmann zweifelt daran, mit ihrer Hilfe eine ökologische Anpassungsfähigkeit frühneuzeitlicher Gesellschaften an Ressourcenschwankungen belegen zu können, und er äußert sich skeptisch über makrodemographische Erklärungsmuster und Gleichgewichtsvorstellungen. Vielmehr schlägt Gehrmann vor, mikro- und makrodemographische Befunde miteinander zu verknüpfen, um den komplizierten Wechselbeziehungen zwischen Bevölkerungsanstieg und Agrarmodernisierung nachzuspüren. An Georg Fertigs Studie zum ostwestfälischen Kirchspiel Löhne kann diese Diskussion ebenso konkretisiert werden wie die Frage nach dem ökologischen Zustand kollektiv genutzter Flächen.
Grundlegende Aufsätze bieten Rita Gudermann und Karl Ditt. Zunächst richtet Gudermann ihr Augenmerk auf Voraussetzungen und Folgen des ersten der beiden einschneidenden Intensivierungsschübe in der deutschen Landwirtschaft. Sie siedelt diesen "Take-off" in der Periode zwischen 1830 und 1850 an. Für die Zeit davor entwirft sie, darin weitgehend Rainer Beck folgend, eine "naturale Ökonomie" im reglementierten dörflichen Sozialverband, dem es weitgehend gelang, "ein gewisses' ökologisches Gleichgewicht'" zu halten (64), ehe eine multifaktorielle - auch ökologische - Krise dieses System beendete. Der Übergang von der traditionellen zur modernen Landwirtschaft vollzog sich dann erst - so Gudermanns These (73) - in Wechselwirkung mit dem Industrialisierungsprozess. Als zentrale Merkmale dieses agrarindustriellen Wandels benennt sie: bis dahin unbekannte Ertragssteigerungen, Kapitalisierung natürlicher Ressourcen, Eingriffe in alte Kulturlandschaften sowie den landwirtschaftlichen Einsatz von Kunstdünger und Maschinen seit den 1880er-Jahren.
Reallohnzuwachs, Ernährungswandel und entstehende Massenkonsumgesellschaft einerseits, die zunächst nationale, dann europäische Handels- und Agrarpolitik und die Herausbildung eines globalen Agrarmarkts andererseits sind die von Karl Ditt benannten Eckpunkte des landwirtschaftlichen Produktivitätsschubs der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Eine abermalige Erweiterung und Intensivierung des Anbaus im Zeichen von Flurbereinigung, Technikeinsatz, Chemie, Züchtung und Genmanipulation wirkten sich auf den gesamten Naturhaushalt und das Landschaftsbild aus. Ditt entwirft zwei diskussionswürdige Entwicklungsszenarien für das 21. Jahrhundert: Erstens hält er eine weitere Aufgliederung des Raumes für möglich in landwirtschaftliche Intensivräume, extensiv "landwirtschaftlich unterlegte" touristische Erlebnisräume und nutzungsfreie Naturschutzgebiete (124). Zweitens aber könnten - eine weitaus weniger wahrscheinliche Variante - angesichts der evidenten Probleme und Risiken der industrialisierten Landwirtschaft traditionelle Orientierungen wieder belebt werden.
Die beiden dann folgenden Kapitel enthalten zahlreiche agrar- und umweltgeschichtliche Einzelstudien zum 19. und 20. Jahrhundert. Regional meist auf Westfalen konzentriert, widmen sie sich sowohl dem landwirtschaftlichen Wandel und seinen Auswirkungen auf Natur und Landschaft als auch der gesellschaftlichen Wahrnehmung und der Diskussion darüber. Alle relevanten Aspekte werden beleuchtet: die Entflechtung von Forst- und Landwirtschaft, der Einsatz von Technik und Chemie, die Flurbereinigung, der Landschaftswandel, die Forderungen von Tourismus, Naturschutz und Politik und schließlich staatlich-administratives Handeln. Nicht immer ist soviel "Umwelt" drin wie draufsteht (etwa in Burkhard Theines Beitrag), aber zumeist geraten übergeordnete Problemzusammenhänge in den Blick (so in Jürgen Büschenfelds gelungenen wissenschaftsgeschichtlichen Ausführungen zum chemischen Pflanzenschutz im Nachkriegsdeutschland).
Das vierte und letzte Kapitel des Bandes besteht aus dem Beitrag Verena Winiwarters. Sie entwirft ein Modell der Landwirtschaft als "gekoppeltes System" (742) der drei Faktoren Bevölkerung, Produktion und Agrarökosystem. Anhand der Studien zu drei österreichischen Dörfern diskutiert sie Chancen und Grenzen einer derart angelegten historischen Untersuchung, wobei sie auf die detaillierten Ergebnisse der interdisziplinären "Projektgruppe Umweltgeschichte" zurückgreifen kann. Danach haben vor allem das dynamische Bevölkerungswachstum und eine erosionsbedingte Ertragsminderung die Agrarmodernisierung angeschoben; diese Intensivierungsleistung im agrarischen Sektor mündete dann aber in einer Überkorrektur. An dieser für andere Regionen noch zu prüfenden These zeigt sich eindrucksvoll, dass alle Beiträge des Sammelbandes große Entwicklungsperspektiven sowohl für die Umwelt- als auch für die Agrargeschichte eröffnen. Es bleibt zu hoffen, dass die Vertreter beider Disziplinen das abgesteckte Feld intensiv zu beackern wissen.
Anmerkung:
[1] Joachim Radkau, Was ist Umweltgeschichte?, in: Werner Abelshauser (Hg.), Umweltgeschichte. Umweltverträgliches Wirtschaften in historischer Perspektive (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 15), Göttingen 1994, 11-28, hier: 22f.
Martin Knoll