Rezension über:

Sacha Zala: Geschichte unter der Schere politischer Zensur. Amtliche Aktensammlungen im internationalen Vergleich, München: Oldenbourg 2001, 385 S., ISBN 978-3-486-56546-1, EUR 49,80
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Rezension von:
Wilfried Reininghaus
Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Staatsarchiv Münster
Redaktionelle Betreuung:
Gudrun Gersmann
Empfohlene Zitierweise:
Wilfried Reininghaus: Rezension von: Sacha Zala: Geschichte unter der Schere politischer Zensur. Amtliche Aktensammlungen im internationalen Vergleich, München: Oldenbourg 2001, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 5 [15.05.2002], URL: https://www.sehepunkte.de
/2002/05/3567.html


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Sacha Zala: Geschichte unter der Schere politischer Zensur

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Ungewöhnlich ist es, dass eine Dissertation im Landesparlament Aufsehen erregt, bevor sie überhaupt abgeschlossen ist. Der hier zu besprechenden, 1999 in Bern angenommen, erging es so. Ein vorab 1998 vom Schweizer Bundesarchiv gedrucktes Dossier des Verfassers über die Dokumentation zur Neutralität der Schweiz im Zweiten Weltkrieg musste sich anzügliche Bemerkungen seitens der Politik gefallen lassen. Worin liegt der Zündstoff dieses Buches? Im überzeugenden Nachweis, dass amtliche Veröffentlichungen zur Außenpolitik starken Pressionen der Politiker im jeweiligen Land ausgesetzt sind. Diese Summe resultiert aus einer diachron angelegten Untersuchung amtlicher Akteneditionen von etwa 1800 bis zur Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Die in sechs Schritten unternommene Analyse wird erstens mit der Frage nach dem Wert solcherart beeinflusster Editionen, zweitens aber mit allgemeinen quellenkritischen Überlegungen verbunden.

Als "Farbbücher" sind amtliche Druckschriften zu kontroversen außenpolitischen Fragen seit der Wende des 18. Jahrhunderts bekannt. Ihre Vorläufer stammen aus dem britischen Parlamentarismus. Zur Zeit der napoleonischen Kriege erlebten sie eine weitere Blüte, um die Unmöglichkeit diplomatischer Verhandlungen mit Frankreich zu belegen. Die europäischen Mächte setzten Farbbücher in den folgenden 150 Jahren aus tagespolitischen Interessen ein. Als Quelle sind sie fragwürdig, sie können lediglich als "Surrogat" künftiger quellenkritisch ausgerichteter Aktenserien dienen. Zala legt hinreichend Belege für gezielte Veränderungen vor, die den Tatbestand der Fälschung erfüllen. Der Erste Weltkrieg rief Dokumentationen neuen Typs hervor. Provoziert durch Karl Kautskys "Deutsche Dokumente zum Kriegsausbruch", initiierte die deutsche Regierung die Herausgabe der vierzigbändigen Quellensammlung "Große Politik der Europäischen Kabinette. 1871-1914", die zwischen 1922 und 1927 erschien. Sie hatte den Zweck, die deutsche Kriegsschuld am Kriegsausbruch zu widerlegen, und rief wegen ihres selektiven Vorgehens Gegenprojekte in England und Frankreich hervor. In den USA hatte die Dokumentation der Außenpolitik seit 1861 einen anderen Weg eingeschlagen. Seit jenem Jahr erschienen, zunächst zeitnah, jahresbezogen amtliche Publikationen mit den wichtigsten Dokumenten. Verantwortlich waren Historiker-Beamte des Department of State. Die "Foreign Relations of the United States" änderten ihre Erscheinungsweise in der Zwischenkriegszeit, bestehen aber bis heute fort. Größere zeitliche Abstände traten ein, vor allem geriet die Edition in die Mühlen des Kalten Krieges.

Die Geschichte der Edition außenpolitischer Akten zum Zweiten Weltkrieg beginnt mit der Beschlagnahme feindlicher Archive durch deutsche Truppen, die von Archivaren unterstützt wurden. Noch während des Krieges entstanden daraus Publikationen zur Vor- und Nachgeschichte des Ersten Weltkriegs. Bereits 1943 setzten die Planungen der Alliierten zur Beschlagnahme deutscher Akten ein. Im Frühjahr 1945 herrschte an ihnen lebhaftes Interesse der Nachrichtendienste, die darin Informationen über den verbleibenden Kriegsgegner Japan vermuteten. Der bedeutendste Fund gelang in Thüringen, wo die geheimen Zusätze zum Hitler-Stalin-Pakt gesichert werden konnten. Im Kalten Krieg hielten die Westalliierten deshalb ein Faustpfand in Händen, das sie nutzten. Die Gruppe der "Documents on German Foreign Policy", die die erbeuteten Akten auswerteten und edierten, bezog Amerikaner, Briten und Franzosen ein, war dadurch aber nicht frei von politischer Pression, weil unter anderem die Beziehungen des Herzogs von Windsor zu den Nazis aus britischer Sicht ein heißes Eisen waren. Auch die Schweiz "litt" unter den drohenden Editionen, musste sie doch ebenso die Offenlegung opportunistischer Kommentare zu Nazi-Deutschland wie auch geheimer Militärabsprachen mit den Franzosen befürchten. Sie beorderte früh ihren Bundesarchivar zur Akteneinsicht nach London und beriet über eigene Publikationen, die schließlich, nach massiver Behinderung von Forschungsarbeiten, 1970 freigegeben wurden.

Soweit eine gedrängte Inhaltsangabe des Buches, das zeitweilig wie ein Krimi zu lesen ist. Um den Leser nicht in der Detailfülle ersticken zu lassen, richtet der Autor immer wieder Zwischenbilanzen ein, die er in seinen Schlussbetrachtungen zusammenfasst. Trotz aller Eingriffe der Politik zieht er ein positives Saldo. Die amtlichen Aktensammlungen verbreiterten bei aller Quellenkritik im einzelnen die Basis für zeitgeschichtliche Forschungen. Dies geschah, wie er richtig bemerkt, noch zu einer Zeit, in der die meisten Historiker Geschichte noch mit dem Wiener Kongress enden ließen. Damit setzte in der Zwischenkriegszeit auch eine Internationalisierung und Demokratisierung von Geschichtswissenschaft ein. Die Aktensammlungen lösten einen Professionalisierungsschub unter den nicht an Universitäten lehrenden Historikern aus und etablierten Akteneditionen zur Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Der Preis für die nun zur Verfügung stehenden Aktenmassen war und ist freilich hoch. Erstens: In der Zeitgeschichte gibt es jetzt einen Überhang an Editionen zur Außenpolitik. Wo bleiben vergleichbare Editionsvorhaben zu anderen Feldern der Geschichte? Zweitens: Die Frage nach Objektivität und Parteilichkeit ist aufgeworfen, denn die Auslassungen, Kürzungen und Vorbehalte müssen misstrauisch machen. Zugleich steht damit die Berufsethik der edierenden Historiker zur Diskussion, die sich zwischen ihrem Gewissen als Wissenschaftler und ihrem Arbeitgeber, dem Staat, hin und her gerissen sehen. Zala hat einige Instrumente zur Überprüfung solcher Aktensammlungen geliefert, vor allem zur inneren und äußeren Selektion von Dokumenten. Er hat damit einen wichtigen Beitrag für eine kritische Quellenkunde zur Geschichte nicht nur des 19. und 20. Jahrhunderts geliefert. Mit Recht verweist er auf den trostlosen Stand der Forschungsliteratur zu den von ihm ausgebreiteten Aspekten. Auch für die älteren Epochen wären viele seiner Anregungen aufzugreifen, denn die Publikation amtlicher Dokumente setzt auch auf dem Kontinent nicht erst um 1800 ein.

Zum Beispiel gibt es sowohl offiziöse Protokolle von diplomatischen Konferenzen wie dem Rastatter Kongress (erschienen seit 1800) wie auch nicht-amtliche Bevölkerungs- und Wirtschaftsstatistiken im Spätmerkantilismus, die aus staatlichen Erhebungen gespeist wurden. Die hier aufgeworfenen Fragen reichen sogar noch weiter, denn jeder, der Editionen herausgibt, wird sich nach den Kriterien seiner Selektion fragen lassen müssen. Dies ist für die gesamte Zeit seit dem hohen Mittelalter ein Problem, denn spätestens nach 1300 wandelt sich der Zustand des relativen Mangels zu einem Überfluss an Quellen. Diese Anmerkungen sollten deutlich machen, dass Zala eine Arbeit vorgelegt hat, deren Bedeutung weit über die Zeitgeschichte hinausreicht.


Wilfried Reininghaus