Rezension über:

Diana Preston: Rebellion in Peking. Die Geschichte des Boxeraufstands. Aus dem Englischen von Sylvia Höfer, München: DVA 2001, 512 S., 73 s/w-Abb., ISBN 978-3-421-05407-4, EUR 25,00
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Rezension von:
Michael Stoyke
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Michael Stoyke: Rezension von: Diana Preston: Rebellion in Peking. Die Geschichte des Boxeraufstands. Aus dem Englischen von Sylvia Höfer, München: DVA 2001, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 6 [15.06.2002], URL: https://www.sehepunkte.de
/2002/06/3421.html


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Diana Preston: Rebellion in Peking

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Der "Empire Day", legt John Cleese in einem Film der englischen Satiriker-Truppe Monty Python einem englischen Lehrer in den Mund, werde zu Ehren derer begangen, die ihr Leben gelassen hätten, damit "China britisch bleibt". [1] Dieser Spott über die egozentrische Perspektive des konservativen englischen Bildungssystems auf das untergegangene Kolonialreich parodiert die Beharrungskräfte der kulturellen Hierarchien, die nicht nur den britischen, sondern jeden europäischen Griff nach Außereuropa legitimierten. China hat in der europäischen Geistesgeschichte seit dem Mittelalter wie keine andere Zivilisation als das Gegenüber gedient, an dem sich die Europäer maßen, und über das zu triumphieren sie seit Beginn des 19. Jahrhunderts genossen. Der Aufstand der "Faustkämpfer der Rechtlichkeit und Eintracht" (Yihetuan), wie die wegen ihrer rituellen Tänze von den Ausländern "Boxer" genannten Anhänger sich selbst bezeichneten, wurde zum Kern dieses Mythos der europäischen Überlegenheit - technisch wie moralisch - stilisiert. Er musste zum Beweis herhalten, dass es durchaus wünschenswert gewesen wäre, wenn China - mit westlicher Hilfe - etwas westlicher, mit anderen Worten: etwas zivilisierter, etwas weniger "barbarisch" geworden wäre.

Seit 1898 hatte sich in der Provinz Shandong südöstlich von Peking in den unteren Schichten der Gesellschaft aus wirtschaftlicher Not und der Unzufriedenheit mit der Präsenz europäischer und amerikanischer Missionare eine breite Aufstandsbewegung entwickelt. Die Aufständischen knüpften an verschiedene Geheimgesellschaften an, die bereits früher vor allem gegen die westlichen Missionare agitiert und agiert hatten. Die Anhänger der schnell anwachsenden Bewegung drangen Anfang Juni 1900 in Peking ein und belagerten das nahe der Verbotenen Stadt gelegene Gesandtschaftsviertel, in dem sich zu diesem Zeitpunkt zirka 900 Europäer, Amerikaner und Japaner und rund 3000 chinesische Konvertiten und Bedienstete aufhielten.

Es ist in der Forschung umstritten, ob der seit 1897 eskalierende Wettstreit der europäischen Kolonialmächte, der USA und Japans um religiösen, wirtschaftlichen und politischen Einfluss in China, Ursache der Bewegung war oder ob der westlich-japanische Imperialismus nur den Kristallisationspunkt der Unzufriedenheit darstellte, während die eigentlichen Ursachen im Niedergang der Verwaltung und der steigenden Überbevölkerung lagen. Die Krise der Qing-Dynastie reichte zweifelsohne in die Zeit vor der äußeren Einmischung zurück. [2] Der Niedergang der lokalen Verwaltungen hatte zu einer Militarisierung der ländlichen Gesellschaft geführt, die letztlich die Basis für die "Boxer"- Bewegung darstellte. Die Tätigkeit der europäischen Missionare und die sozialen Folgen der westlichen Modernisierungen, zum Beispiel der Eisenbahn, die das traditionelle Transportgewerbe zerstörte, gaben der sozialen Gärung aber erst den Kristallisationspunkt.

Die Kaiserinwitwe Cixi, die in der Verbotenen Stadt die Fäden der Macht in der Hand hielt, entschied sich - offenbar manipuliert durch ein gefälschtes Ultimatum der vor der Küste versammelten alliierten Kolonialmächte [3] -, die Aufstandsbewegung zu nutzen, um die territoriale Integrität und wirtschaftliche Unabhängigkeit Chinas wiederherzustellen, und erklärte den fremden Mächten den Krieg. Nachdem die in Peking eingeschlossenen Europäer, Amerikaner und Japaner in der Heimat bereits für tot erklärt worden waren, gelang einer internationalen Entsatztruppe Ende August 1900 die Befreiung der Gesandtschaften. Es folgten Strafexpeditionen unter Führung des alliierten Oberkommandierenden, des deutschen Grafen Waldersee, sowie Plünderungen und schließlich der demütigende, diktierte Friedensschluss mit drakonischen Strafen, in dem China unter anderem eine astronomische Reparationssumme abverlangt wurde.

Vor allem diesem komplexen Hintergrund der Ereignisse wird in dem Band der amerikanischen Publizistin Diana Preston leider zu wenig Raum gewidmet. Die Autorin hat das Geschehen primär anhand der Aufzeichnungen der belagerten Amerikaner und Europäer in einer Erzählung wieder aufleben lassen, die wenig nach den Ursprüngen der "Boxer"-Bewegung und der Geschichte des westlichen Eindringens in China fragt, wenig auch nach den Konsequenzen der Niederschlagung des Aufstandes und des "Boxer-Protokolls" für China und Chinas Beziehung zum Westen. Stattdessen konzentriert sie sich ganz auf die Geschehnisse im belagerten Botschaftsviertel, in der Ausländerkolonie von Tianjin sowie auf die nach Peking vorrückende Entsatztruppe. Wie schon bei ihrer Schilderung der Südpolexpedition Scotts [4] ist ihr die dramatisierende narrative Darstellung dieser Ereignisse wichtiger als eine Betrachtung der Konfrontation zwischen Ost und West unter neuen Perspektiven oder anhand neuer Quellenbestände. Das zeigt schon die ungebrochen chronologische Darstellungsweise. Preston selbst betont in den Erläuterungen zum Anmerkungsapparat, dass sie eher für den interessierten Laien als für das Fachpublikum geschrieben habe (456). Bezeichnenderweise wird dies im Untertitel der amerikanischen Ausgabe besonders deutlich, während die englische Ausgabe deutlich sachlicher tituliert ist. [5]

Die Frage, inwiefern Prestons Buch als gelungen zu bezeichnen ist, muss also auf zwei Ebenen beantwortet werden: Einmal hinsichtlich Prestons eigenem Anspruch, eben nicht nur eine historische Abhandlung zu schreiben, sondern eine Geschichte zu erzählen, und diese gut zu erzählen. Zweitens ist zu fragen, ob sie unter Umständen Chancen, aus den alten Geschehnissen und Quellen etwas wirklich Neues herauszulesen, verpasst hat.

Zur ersten Frage ist zu bemerken, dass Prestons zweifelsohne flüssig zu lesende Erzählung nicht dramatischer, nicht spannender oder fesselnder erzählt ist als andere vor ihr, mag sie auch vereinzelt neue Quellen nutzen und einigen Irrtümern älterer Darstellungen nicht mehr aufsitzen. Die Schilderung Peter Flemings, die auf einer ähnlichen Quellenmischung von Briefen, Tagebüchern und Memoiren basiert, und deren deutsche Übersetzung vor kurzer Zeit neu aufgelegt wurde, kann hier als Beispiel genannt werden. [6] Doch während Flemings Bericht seine Spannung daraus gewinnt, dass er zu zeigen versucht, wie der äußerst begrenzte Wahrnehmungshorizont der Eingeschlossenen zu fatalen wie auch rettenden Fehleinschätzungen der Lage führte, versucht Preston die Spannung direkt aus der Stimmung der Quellen zu ziehen, indem sie die hoch emotionalen Äußerungen der Quellenautoren unkritisch übernimmt. Hier offenbart sich die größte Schwäche des Buches, die Laien wie Fachhistoriker gleichermaßen enttäuschen muss. Denn so kann Preston zwar die Erregung der Zeitgenossen in deren eigenen Worten wiedergeben, verwischt aber gleichzeitig die Grenze zwischen ihrer Erzählung und eben den situativ emotionsgeladenen Ausrufen der Quellen, die bezeichnenderweise oft auf drei Punkte enden. Da es in der deutschen wie in der englischen Ausgabe auch an einer konsequenten Markierung der Zitate fehlt und Quellenangaben ohne Fußnotenzeichen nur pauschal am Ende des Buches nach den Seiten ihres Erscheinens angeführt sind, weiß der irritierte Leser am Ende nicht mehr, wessen Text er eigentlich liest, - wem es etwa tatsächlich kalt den Rücken herunterlief, wenn von "schaurigen Gräbern" (136) die Rede ist. Infolge dieser Art der Darstellung werden die zeitgenössischen Topoi vom brutalen, grausamen und feigen Chinesen und vom tapferen, selbstlos für seine Mitmenschen - Europäer wie konvertierte Chinesen - eintretenden Europäer beständig reproduziert, ohne eine kritische Würdigung oder Einordnung zu erfahren.

Dieser Eindruck wird durch die fotografischen Illustrationen des Buches bestätigt. Die einzige Ablichtung von chinesischen Soldaten zeigt die sogenannten "gefürchteten muslimischen Krieger aus Kansu" (108) in Lumpen gehüllt und ohne Waffen. Dabei verfügte die chinesische Armee durchaus über vergleichsweise moderne Feuerwaffen und Soldaten, die diszipliniert und in westliche Uniformen gekleidet kämpften. Vor allem amerikanische Fotografen haben das dokumentiert, wie Jane Eliott gezeigt hat. [7]

Die zweite Frage, welche Chancen in einer Neubearbeitung dieses Themas verpasst sind, lenkt den Blick auf die Desiderata der Erforschung der "Boxer"-Bewegung und insbesondere der Ereignisse in Peking. Dem Leser wird zunächst eine Unausgewogenheit der Quellenauswahl auffallen, die sich - auch in dieser Hinsicht älteren Darstellungen englischsprachiger Autoren nicht überlegen - mit wenigen Ausnahmen in der Verwendung englischer und amerikanischer Zeugnisse erschöpft, die Schilderungen deutscher, französischer, russischer oder gar japanischer Zeitzeugen dagegen außer Acht lässt. [8]

Vollständig fehlt auch die chinesische Perspektive. Kindermann hat darauf hingewiesen, dass die Ausländergemeinde ihren Belagerern nur deshalb so lange Widerstand zu leisten vermochte, weil einige führende Staatsmänner wie Yuan Shikai, der spätere Präsident der chinesischen Republik, oder Li Hongzhang die Belagerung sabotierten, indem sie etwa verhinderten, dass die chinesische Artillerie zum Einsatz kommen konnte. [9] So hätte der politische Zwist unter den beteiligten chinesischen Akteuren eine erkenntnisfördernde Kontrastfolie zu den Stereotypen in den Aufzeichnungen der Belagerten liefern können. Tatsächlich waren die Haltungen der Chinesen vielfältiger, als es die Eingeschlossenen unter dem Eindruck der beständigen Bedrohung durch die "Boxer" vermuteten.

Darüber hinaus könnten die Quellen Aufschluss über die Verfasstheit und die mentale Welt einer internationalen Hybridgesellschaft zur Jahrhundertwende geben, wenn auch nur für eine besondere Krisensituation dieser Gesellschaft. Der in zahlreichen Quellen beschriebene Mikrokosmos der Belagerten hätte nach den Beziehungen zwischen den Soldaten, Diplomaten und Geschäftsleuten wie auch deren Ehefrauen und den Bediensteten der verschiedenen Nationalitäten befragt werden können. Bei Preston beschränkt sich die Darstellung dieser Beziehungen auf die Schilderung des fast sportlich anmutenden Wettlaufs der Entsatztruppen um die Befreiung der Gesandtschaften. Auch die Beziehungen der Amerikaner und Europäer zu den chinesischen Konvertiten oder zu ihren japanischen Leidensgenossinnen und -genossen finden keine systematische Beachtung. Die Rolle der Frau in dieser Notgemeinschaft wird bei Preston nur ausnahmsweise erwähnt (179).

Prestons einseitige Darstellung und Illustration stilisiert die Geschichte der Belagerung zu einer Gegenüberstellung von Fortschritt und Rückständigkeit, Rationalität und irrem Wahnsinn, die trotz der Erwähnung der Gräueltaten der westlichen und japanischen Besatzer nach der Befreiung der Gesandtschaften zu einer Dichotomie von Opfer und Täter, letztlich Gut und Böse verflacht, die universelle Gültigkeit suggeriert, während noch nicht einmal die Handlungsantriebe der vermeintlich blutrünstigen Angreifer angemessen hinterfragt werden. Prestons Perspektive bleibt europäisch, enger sogar: sie bleibt angelsächsisch, und ihre Einsichten gehen nicht über die der Zeitgenossen des "Boxer"-Aufstandes selbst hinaus. [10]

Diana Preston nimmt abschließend auf die Geschichte der Mythisierung des "Boxer"-Aufstandes durch Sun Yatsen und Zhou Enlai Bezug (434-436). [11] Da die kritische Betrachtung der umgekehrten Perspektive auf die Mythisierung dieses Ereignisses durch den Westen fehlt, hat sich die Autorin in den Verdacht gebracht, selbst an diesem Mythos mitzuschreiben und denen in die Hände zu spielen, die noch heute wünschen, dass "China britisch bleibt".

Anmerkungen:

[1] "The Meaning of Life" (1983), Part II: Growth and Learning. Regie: Terry Jones, Drehbuch: Graham Chapman, John Cleese, Terry Gilliam, Terry Jones, Eric Idle, Michael Palin.

[2] John King Fairbank hat die These vertreten, dass die europäischen Mächte China niemals so tief penetriert hätten, dass es eine reale Auswirkung auf das Land und seine Wirtschaft insgesamt gehabt haben könne: "The Europeans and Americans (...) were on the fringe of this great social turmoil, not its creators." Fairbank, John King (1992): China. A New History. Cambridge/Mass., London, S. 216.

[3] Kindermann, Gottfried-Karl (2001): Der Aufstieg Ostasiens in der Weltpolitik 1840-2000. Stuttgart, München, S. 88.

[4] Preston, Diana (1997): A First Rate Tragedy. Captain Scott's Antarctic Expeditions. London.

[5] Titel der amerikanischen Ausgabe: The Boxer Rebellion. The Dramatic Story of China's War on Foreigners That Shook the World in the Summer of 1900". New York: Walkers & Company 2000. Englische Ausgabe: Besieged in Peking. The Story of the 1900 Boxer Rising. London: Constable and Company 1999.

[6] Fleming, Peter (1959): The Siege at Peking. London (dt.: Die Belagerung zu Peking. Zur Geschichte des Boxer-Aufstandes. Aus dem Englischen von Alfred Günther und Till Grupp. 1. Aufl. Stuttgart 1961; Frankfurt/Main 1997).

[7] Elliott, Jane (1997): American Photographs of the Boxer Rising. In: History of Photography 21, H. 2, S. 162-169. Vgl. auch: Jäger, Jens (2000): Photographie: Bilder der Neuzeit. Einführung in die Historische Bildforschung. Tübingen, insbesondere S. 140-150.

[8] Zuletzt erschienene deutschsprachige Zeugnisse österreichischer Beteiligter sind: Pechmann, Alexander von (Hg.) (2000): Peking 1900. Paula von Rosthorns Erinnerungen an den Boxeraufstand. März bis August 1900. Wien et al.; Ham, Claudia von / Ortner, M. Christian (Hg.) (2000): Mit S.M.S. Zenta in China. "Mich hatte auch diesmal der Tod nicht gewollt..." Aus dem Tagebuch eines k.u.k. Matrosen während des Boxeraufstandes. Wien et al. Paul, Gustav (2001): Der Boxerkrieg in China 1900-1901. Tagebuchaufzeichnungen des späteren Hildesheimer Polizeioffiziers Gustav Pauk. Hg. v. Hubert Mainzer und Herward Sieberg. Hildesheim (Quellen und Dokumentationen zur Stadtgeschichte Hildesheims; 11).

[9] Kindermann (2001), S. 89.

[10] Wie Erwin Wickert den Band als "packend, anschaulich und sorgfältig dokumentiert" bezeichnen kann, bleibt ein Rätsel. Rezension des Bandes in Frankfurter Allgemeine Zeitung (Frankfurt), Nr. 28, 02.02.2002, S. 11.

[11] Vgl. dazu auch: Cohen, Paul A. (1997): History in Three Keys. The Boxers as Event, Experience and Myth. New York; Kaminski, Gerd (2000): Der Boxeraufstand - entlarvter Mythos. Wien.


Michael Stoyke