Wolfgang Wüst: Die "gute" Policey im Reichskreis. Zur frühmodernen Normensetzung in den Kernregionen des Alten Reiches. Bd. I: Der Schwäbische Reichskreis, Berlin: Akademie Verlag 2001, 604 S., 5 Abb., ISBN 978-3-05-003415-7, EUR 74,80
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Der Bereich der "guten Policey" erfreut sich in der Frühneuzeitforschung seit einiger Zeit einer "Konjunktur" (11). Ausgelöst hat diesen Forschungsboom wohl das Projekt eines "Repertoriums der Policeyordnungen der Frühen Neuzeit" des Max-Planck-Instituts für Neuere Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main, das sich die Erschließung und Erfassung der Policeygesetzgebung ausgewählter Territorien des Alten Reiches sowie einiger angrenzender Länder mittels eines normiert-beschreibenden Verzeichnisses zur Aufgabe gemacht hat. Vier voluminöse Bände dieses Repertoriums mit Tausenden von Einträgen legen bereits Zeugnis ab von der Fülle dieses in Archiven und alten Gesetzessammlungen bislang schlummernden und oftmals wenig benutzen Quellenmaterials. Weitere Repertorienbände werden noch folgen. Der erste Band des Repertoriums war auch Anstoß für Wolfgang Wüst, Professor für Bayerische und Fränkische Landesgeschichte an der Universität Erlangen-Nürnberg, sich näher mit der Materie zu beschäftigen und ergänzend zum Repertorium ein Editionsprojekt zu den Kernregionen des Alten Reichs zu entwickeln, welches auf zwei Bände angelegt ist und sich territorial der Policeygesetzgebung im Schwäbischen und Fränkischen Reichskreis widmen wird. Der erste Band des Projekts über den "Schwäbischen Reichskreis unter besonderer Berücksichtigung Bayerisch-Schwabens" liegt nun vor.
Wüst beginnt mit einer historischen Einleitung zur Problematik der Policeygesetzgebung sowie zu den "großen Überschriften" der Forschung (Sozialdisziplinierung, Konfessionalisierung, Herrschaftsintensivierung, Vollzug, 13-63). Hierauf folgen kurze (nämlich gerade einmal je einseitige) Bemerkungen zur Überlieferungssituation von fünf ausgewählten Beispielen, den Reichsstädten Kempten und Lindau sowie den im heutigen Landkreis Günzburg gelegenen Damen- und Reichsstiften Edelstetten, Ursberg und Wettenhausen, die alle mit einer Ordnung in der Edition vertreten sind (65-71), sowie eine eineinhalbseitige Darlegung der Editionsrichtlinien (73f.). Der Editionsteil umfasst 25 teils umfängliche Policeyordnungen von 21 unterschiedlichen Normgebern, die einen Zeitraum von 1525 bis 1790 umspannen (77-561). Bei den Normgebern handelt es sich um die Reichsstädte Augsburg, Kempten und Lindau, die geistlichen Reichsstände Hochstift Augsburg, Domkapitel Augsburg, Damenstift Edelstetten, Reichskloster Elchingen, Fürststift Kempten, Reichstift Ursberg (samt einigen wenigen, deren Landeshoheit untertänigen Klöstern, Damenstiften und Spitälern), die weltlichen Reichsstände Markgrafschaft Burgau, Fugger-Babenhausen, Fugger-Kirchberg-Weißenhorn, Grafschaft Königsegg-Rothenfels, gefürstete Grafschaft Oettingen-Oettingen, Herzogtum Württemberg, von Riedheimsche Adelsherrschaft Harthausen (als Beispiel für die Reichsritterschaft) sowie den Schwäbischen Reichskreis. Letzterer ist mit einem Bettler- und Gaunerpatent von 1720 vertreten. Damit stehen etwa sieben Seiten Edition "Policey" des Schwäbischen Reichskreises 480 Seiten "Policey" einzelner Normgeber im Schwäbischen Reichskreis gegenüber. Der Anhang bringt schließlich noch Quellen- und Literaturangaben, ein Glossar, ein Abkürzungsverzeichnis sowie ein kombiniertes Personen- und Ortsregister (587-604).
Zum Einleitungsteil: Die "Historische Einleitung" basiert auf dem Literaturstand von etwa 1999, nur zwei bis drei Aufsätze eines Sammelbandes, der in Fußnote 109 (50) noch als im Druck befindlich bezeichnet wurde [1], sind noch nachgetragen, manch wichtiger Beitrag fehlt allerdings. Positiv ist zu vermerken, dass hier einige die edierten Stücke betreffende Angaben in die allgemeine Entwicklung eingearbeitet wurden und so einen Ersatz für die mageren Erläuterungen bieten können. Auch sind die vielen quellennahen Bezüge zur Vorbildwirkung der Reichsgesetzgebung hervorzuheben, die ein plastisches Bild zu liefern im Stande sind.
Details der Ausführungen sind aber immer wieder zu korrigieren: Der früheste Beleg für den "Policey"-Begriff findet sich nicht in einem kaiserlichen Privileg für Nürnberg 1464, sondern in einer von Friedrich III. 1451 bestätigten Wiener Handwerksordnung [2]. Auch ist nicht allein die Reichspoliceyordnung von 1530 "Auftakt" für entsprechendes territoriales Handeln, wie man annehmen könnte (15), territoriale Gesetzgebungen gab es auch schon zuvor (vergleiche Nummer 15, Ordnung von 1525 et cetera). Eine eigenständige Reichspoliceyordnung von 1551 (20, 23), vergleichbar jenen von 1530, 1548 und 1577, existiert nicht, es handelt sich bloß um umfänglichere Teile eines Reichsabschiedes. Der symbolträchtige Publikationszeitpunkt der Policeyordnung der Reichsstadt Frankfurt am Main just am 16. Dezember 1741 - dem "angestellten Kayserlichen Wahl-Tag" (!) - belegt keinesfalls die "Reichsnähe policeylichen Handelns" (15). Tatsächlich handelt es sich vielmehr um eine Policey- und Taxordnung anlässlich der Kaiserwahl, die von der Stadt im Einvernehmen mit dem Reichserzmarschall als dem für die Organisation der Wahl- und Krönungsfeierlichkeiten zuständigen Reichsorgan vorgenommen wurde und die besonderen Verhältnisse in der Stadt während der Feierlichkeiten regeln sollte, eine Tatsache, die bei Wüst verschwiegen wird. Die Erlassung derartiger Normen lässt sich fast für jeden Reichstag (sogenannte Reichtagsordnungen) wie für jede Kaiserwahl nachweisen. Ein Argument für die Vorbildwirkung der Reichspoliceyordnungen auf die territorialen Ordnungen kann diese damit nicht abgeben.
Zur Edition: Die durchgehende Normenzählung des Bandes gelangt wegen mehrerer Einschübe (14a/b, 17 a/b, 20a/b) bloß bis 22. Der Grund für diese Zählung ist nicht ganz klar. Anscheinend stehen Normen desselben Normgebers unter einer Nummer (Reichsstift Ursberg: 14a und 14 b; diverse Herrschaften der Fugger 17a und b; Herzogtum Württemberg 20a und b), doch eben nicht konsequent, da die Reichsstadt Augsburg mit drei Policeyordnungen auch mit drei unterschiedlichen Nummern (1, 2 und 3) erscheint. Angesichts der Vielzahl der Normgeber verwundert die Entscheidung Wüsts, nur für die fünf oben genannten Beispiele die Überlieferungskontexte anzugeben. Begründet wurde dies damit, dass für das Hochstift Augsburg, das vorderösterreichische Burgau und das Herzogtum Württemberg in Kürze eine vollständige Erfassung der Policeygesetzgebung durch das Frankfurter Repertorium erfolgen werde, eine Angabe, die zumindest für das territorial zersplitterte Vorderösterreich nicht bestätigt werden kann. Dass zu den restlichen Herrschaften - ohne nähere Begründung - überhaupt Angaben fehlen, wird der mit den örtlichen schwäbischen Gegebenheiten nicht so vertrauten Mehrzahl der Historiker nicht einsichtig sein. Darüber hinaus ist selbst bei den vorgelegten Überlieferungsbemerkungen bisweilen fraglich, in welcher Beziehung sie zur edierten Norm stehen.
Hinsichtlich der Auswahl der edierten Texte ist der Leser zu Hypothesen gezwungen, weil Wüst seine Textauswahl nicht begründet. Dieses geschilderte Unbehagen ereilt einen schon bei den ersten edierten Stücken. Wieso sind gerade die Zucht- und Policeyordnungen von 1537 (Nummer 1), 1621/1630 (Nummer 2) und die Policey- und Taxordnung von 1656 (Nummer 3) für den Bereich der Reichsstadt Augsburg abgedruckt worden? Warum fehlen die anderswo oft zitierte Zucht- und Policeyordnung von 1553, die Policeyordnungen von 1582 oder 1735 (vergleiche 18f. und auch die noch weiter gehende Aufzählung 20)? Einige Bemerkungen zur spezifischen Auswahl hätten sicher nicht geschadet. Der Hinweis darauf, dass bei geschätzten 5000 Augsburger Gesetzen "die Hauptlinien in der Policeygesetzgebung kaum zu vereinzeln sind" (66), mag stimmen, sagt aber noch nichts über die Auswahlkriterien für gerade die in diesem Band edierten Stücke aus.
Hinsichtlich der Editionsrichtlinien, die laut Wüst an die bekannten "Richtlinien für die äußere Textgestaltung bei Herausgabe von Quellen zur neueren deutschen Geschichte" von Johannes Schultze (1962/1966) angelehnt sind, erstaunt ein wenig die Ankündigung, dass man die Policeyordnungen "ungeachtet der Tatsache, ob sie nun als Hand- oder Druckschriften, ob sie in originärer oder in kopialer Überlieferung oder ob sie als Ausfertigung oder in Teilen nur als Entwurf/Rapular vorlagen" vereinheitlicht habe (73). Zumindest, was Drucke anbelangt, ist diese Editionstechnik äußert fraglich. Nach der modernen Überarbeitung der Richtlinien von Schultze durch die AHF (Arbeitsgemeinschaft außeruniversitärer historischer Forschungseinrichtungen in der Bundesrepublik Deutschland e.V.) [3] versucht man gerade hier, sich so weit wie möglich an die Form der frühneuzeitlichen Quelle anzunähern. Darüber hinaus fehlen zumeist die Angaben über die Überlieferungsformen. Wo nun eine Handschrift und wo ein Druck als Editionsquelle herangezogen wurde, kann man bisweilen nur aus dem Kontext heraus erkennen.
Inkonsequenzen zeigen sich in der technischen Durchführung der Edition selbst. Manch eine eingangs spezifisch angeführte Editionsvorgangsweise wurde entgegen den eigenen Richtlinien nicht umgesetzt, andere dagegen, die umgesetzt wurden, sind gar nicht in den Richtlinien erwähnt. So etwa fehlen bei der "Polizei Ordnung" der Reichsstadt Kempten (vor 1748) die im Original als Marginalien geschriebenen Artikelüberschriften (siehe dazu Abbildung 1!) in der Edition völlig (Nummer 4). Nach den genannten Richtlinien hätten aber "speziell (...) Marginalien" sich als "textkritische Erläuterungen (...) in den Endnoten" - nebenbei: die Edition enthält allein Fußnoten! - finden sollen (74). Eine typografische Strukturierung von Texten durch Marginalien war damals weit verbreitet. Sinnvollerweise hätte man diese Marginalien (mit einem Fußnotenhinweis) als Überschriften in den Editionstext aufnehmen müssen. Dies wäre der Übersichtlichkeit des Textes zugute gekommen. Eine tatsächlich durchgeführte Maßnahme zur übersichtlicheren Gestaltung, nämlich die abweichend von der Vorlage getätigte Gliederung "in kürzere und sinnvolle Absätze", führte anscheinend dazu, dass die originalen Absatzenden durch einen doppelten Schrägstrich // markiert wurden. Da der Leser darüber nicht aufgeklärt wurde, verwundert die eigenartige Verwendung dieser Zeichen. Einzig in der Edition der Policeyordnung des Damenstifts Edelstetten von 1625/1671 (Nummer 11) fehlen die Schrägstriche. Schließlich hätte ein Sachregister der inhaltlichen Erschließung des Bandes gut getan. Die Hoffnung bleibt, dass vielleicht ein kumuliertes Sachregister im folgenden Band diese Lücke schließt.
Zusammenfassend kann hervorgehoben werden: Die Edition von Wüst macht erstmals eine Reihe von Policeyordnungen vornehmlich kleinerer Herrschaften des schwäbischen Raumes der Forschung zugänglich, was uneingeschränkt zu begrüßen ist. Die zuvor angeführten Kritikpunkte und Mängel - wie vor allem der sorglose Umgang mit Editionsstandards - sind aber geeignet, diese Leistung zu mindern. Es ist allerdings zu wünschen, dass im noch folgenden zweiten Band der Reihe manche Irritation und Ungenauigkeit beseitigt werden kann.
Anmerkungen:
[1] Karl Härter (Hg.): Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft (= Ius Commune Sonderhefte; 129), Frankfurt a. M. 2000.
[2] Siehe: Deutsches Rechtswörterbuch X; im Internet:
http://www.rzuser.uni-heidelberg.de/~cd2/drw/a/P87.htm#POLIZEI.
[3] In: Jahrbuch der historischen Forschung in der Bundesrepublik Deutschland - Berichtsjahr 1980, Stuttgart 1981.
Josef Pauser