Winfried Müller: Die Aufklärung (= Enzyklopädie deutscher Geschichte; Bd. 61), München: Oldenbourg 2002, 150 S., ISBN 978-3-486-55764-0, EUR 19,80
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Der prozessuale Charakter der Aufklärung, der sich nur schwer mit Zäsuren fassen lässt, und ihr auf allumfassende Veränderung angelegtes Wesen verlangen eine Zugangsweise, die in der Schnittfläche verschiedener Fächer liegt. Deshalb ist die moderne Aufklärungsforschung eine interdisziplinäre Angelegenheit. Dabei kommunizieren die Germanistik, die Geschichtswissenschaft, die verschiedenen Philologien (Anglistik, Romanistik, Slawistik und so weiter), die Medien-, Buch- und Presseforschung, die Theologie, die Philosophie, die Rechtsgeschichte, die Volkskunde und die (Natur)Wissenschaftsgeschichte miteinander. Gemeinsam haben diese Einzelfächer in den zurückliegenden gut dreißig Jahren einen großen Wissensschatz zum Thema erarbeitet. Die Geschichtswissenschaft hat insbesondere die sozialgeschichtliche Erforschung der Aufklärungsbewegung in den siebziger und vor allem frühen Achtzigerjahren geprägt. In den Neunzigerjahren allerdings haben sich die Historiker spürbar aus der "Aufklärungsindustrie" zurückgezogen.
Erst seit kurzer Zeit ist das Fach dabei, sich wieder dem Thema zuzuwenden, neue methodische Zugänge zu entwickeln. In dieser Situation der Neupositionierung ist nun der 61. Band der "Enzyklopädie deutscher Geschichte" unter dem Titel "Die Aufklärung" erschienen. Wie in allen Bänden der Reihe geht es auch hier darum, "rasch und zuverlässig über den gegenwärtigen Stand unserer Kenntnisse" zum Thema zu informieren (so Lothar Gall im Vorwort). Denn mit den Büchern sollen ja nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Studenten angesprochen werden.
Winfried Müller, Landeshistoriker an der Technischen Universität Dresden und einschlägig durch Arbeiten über die bayerische Geschichte im 18. Jahrhundert ausgewiesen, hat sich dieser Aufgabe angenommen. Wie jedem Autor der Enzyklopädie standen ihm dafür 150 Seiten zur Verfügung, wobei ein Drittel davon auf "Quellen und Literatur" (sowie ein Personen- und Sachregister) entfällt. Die übrigen gut einhundert Seiten sind nach dem bekannten und bewährten Schema in zwei etwa gleichgewichtige Segmente aufgeteilt: "Enzyklopädischer Überblick" sowie "Grundprobleme und Tendenzen der Forschung". Der Anspruch an das Buch besteht also darin, die langfristig wirkende, grundlegenden Charakter besitzende und komplexe Strukturen aufweisende historische Epoche und gesellschaftliche Bewegung "Aufklärung" in vergleichsweise knappen Zügen umfassend zu behandeln und die aktuellen Forschungsfragen zu formulieren. Dies kommt der Quadratur des Kreises recht nahe ( eine schwer zu lösende Aufgabe, die an den Mut des Autors zum Verzicht im Detail appelliert, aber eben dennoch lexikalische Textstrukturen erfordert. Winfried Müller wird mit seiner Darstellung dieser Anforderung gerecht. Es gelingt ihm, jene Prozesse zu ordnen und transparent darzustellen, die in ihrer Zusammenschau die "Aufklärung" konstituieren; auch wenn die Wortwahl dabei gelegentlich etwas überspannt anmutet ("Dienstleistungselite", "Causerie", "Informationsoffensive", "eskamotieren" (9, 26, 28, 65)).
Nach einer Einführung in die Semantik des Aufklärungsbegriffs beschreibt der Autor unter den Überschriften "Soziabilität" und "Diffusion" die Vergesellschaftungsformen und Medien der Aufklärung und die daraus resultierende Durchdringung der Ständegesellschaft des Alten Reiches. Daran anschließend werden die "Aktionsfelder" der Aufklärung umrissen - "Weltdeutung" (Naturwissenschaft, Philosophie, historische Wissenschaft in der Aufklärung, Religion) und "Regieren und Verwalten" (Aufklärung, Absolutismus, Reform).
Diese Gliederung verweist auf zwei Arbeitsfelder, die in der Forschung zum Aufklärungsjahrhundert zunehmend Gewicht gewinnen: die Kommunikations- und Religionsgeschichte. So bieten die Abschnitte "Soziabilität" und "Diffusion" Einführungen in die kommunikativen Formen und Wirkungsmechanismen der Aufklärungszeit. Die Geselligkeitsformen des Jahrhunderts (nichtarkane und arkane Sozietäten, das Kaffeehaus, die Privatzirkel) konstituierten durch eine Wechselwirkung mit den expandierenden Medien der Zeit (Zeitungen, Wochenschriften, Intelligenzblätter, Buch) und in Verbindung mit der anwachsenden Alphabetisierung eine spezifische "Kommunikationsgemeinschaft" (26), die "als kommerziell nutzbarer Kommunikationsmarkt eine sich zunehmend staatlicher Kontrolle entziehende Eigendynamik entwickelte" (17).
Auch in den Abschnitten "Regieren und Verwalten" und "Die Aufklärung als Kunstepoche" finden die Überlegungen zur kommunikativen Struktur der Zeit Anknüpfungspunkte. Ebenso ergibt sich ein Brückenschlag zum Forschungsfeld Geschlechtergeschichte und historische Pädagogik/Bildungsforschung ("Erziehung und Geschlechterdifferenz"). Der Autor verweist hier darauf, dass die einschlägigen Methoden und Fragestellungen "noch längst nicht alle für die Aufklärungsforschung fruchtbar gemacht" sind und hat dabei insbesondere die "aufgeklärte Soziabilität" im Blick (93).
Parallel zu den kommunikationsgeschichtlichen spielen religiöse Themen eine zentrale Rolle. Neben den Ausführungen im enzyklopädischen Überblick widmet der Verfasser dem religionswissenschaftlichen Forschungsfeld in den "Tendenzen der Forschung" zwei Abschnitte: "Katholische Aufklärung" und "Alternativ- und Gegenströmungen". Hier wird Religion pluralistisch gedacht. Denn die norddeutsch-protestantische und die süddeutsch-katholische Aufklärung sowie die alternative Religionskultur des 18. Jahrhunderts stehen gleichberechtigt nebeneinander. Erst von einer solchen Plattform aus öffnet sich der Blick für neue Fragestellungen. So betont Müller besonders, dass die Eigenständigkeit der Aufklärung in den katholischen Territorien des Reiches noch zu wenig Berücksichtigung erfahren habe (84f.). Die Esoterik des 18. Jahrhunderts ist bislang überwiegend als "Nachtseite" der Aufklärung wahrgenommen, mithin als "antiaufklärerisch" stigmatisiert worden. Ein solcher Dualismus wird dem 18. Jahrhundert aber nicht gerecht, denn für die Individuen und die Gesellschaft(en) der Epoche sind Überschneidungen der verschiedenen Weltdeutungen eher charakteristisch als ein monolithisch geformtes Weltbild (94f.).
Insgesamt betrachtet, spiegelt das Buch die gegenwärtige Forschungssituation wider. Dies ist auf drei Ebenen greifbar, erstens:
Leitende Fragestellungen für eine zukünftige geschichtswissenschaftliche Aufklärungsforschung sind noch nicht ausformuliert, gleichwohl in ihren Großbereichen (Religion - Kommunikation - Politik - Geschlecht) umrissen. Das Arbeitsfeld "Aufklärung" ist wieder zukunftsoffen. Durch diese Zustandsbeschreibung zeichnet sich das Buch aus.
Zweitens: Durch ihren dezidiert interdisziplinären Charakter ist die Aufklärungsforschung kein selbstständiges Fach. Sie ist immer ein Surrogat verschiedener Disziplinen. Sie hat sich in vielen Institutionen manifestiert und eine Ergebnislandschaft produziert, deren Handhabung zunehmend komplizierter wird - trotz Bibliografien, Forschungsberichten und den Bemühungen im Internet. Außerdem ist die Aufklärungsforschung immer im Kontext der politischen Systeme und Großwetterlagen zu sehen. Hier sind Wechselspiele zwischen gesellschaftlich-politischen Trends und dem Initiieren neuer Fragen und Themen zu beobachten; so etwa die "sozialgeschichtliche Wende" der 60er- und 70er-Jahre im Kontext der "gesellschaftskritischen Bewegung" der Zeit, die ebenfalls in diese Jahre fallende Verstärkung der historischen Bildungsforschung durch die damals um das "Schlagwort von der Bildungskatastrophe" ausgelösten Debatte sowie der in Zusammenhang mit der Frauenbewegung der 70er- und 80er-Jahre stehende Aufschwung der "Frauenforschung" (72f., 85f.). Und auch die Rezeption der Forschungen in der DDR muss hier gesehen werden (71f.). Aus diesen Gründen wird die Aufklärungsforschung verstärkt ihre eigene Geschichte bearbeiten: Ist sie (wieder) am Puls der Zeit? Deshalb hat Winfried Müller ganz bewusst den ersten Abschnitt der "Tendenzen der Forschung" dem Thema "Rezeptions- und Forschungsgeschichte" gewidmet.
Drittens: Ein wichtiger Verständnisrahmen, den die historische Wissenschaft zur Aufklärungsforschung beisteuern kann, ist die Betonung der langfristigen Entwicklungslinien: Die Aufklärung ist kein plötzliches Ereignis, sondern hat ihre Wurzeln ebenso in der konfessionsgebundenen Politik und den daraus resultierenden Kriegen des 17. Jahrhunderts wie zugleich im Aufschwung der Naturwissenschaften in diesem Jahrhundert (36f., 46f.). Und sie wirkt über die Zeitschwelle um 1800 hinaus, denn die Beamten- und Wissenschaftseliten, die Träger der Reformen des frühen 19. Jahrhunderts, haben ihre Sozialisation in aufklärendem Geist erfahren (52). Diese Vorläufigkeit, das Prozessuale der historischen Aufklärung, durchzieht einem roten Faden gleich die Studie. So lautet die Schlusspassage des Buches: "Die Vertreter der neuen Natürlichkeit [gemeint sind die Aufklärer mit ihrer Vorliebe für den englischen Garten, H.Z.] wandelten auf jenen Zivilisationsschneisen, die von einer Vergangenheit geschlagen worden waren, die von der Aufklärung zwar kritisch reflektiert, aber nicht aufgehoben werden konnte. Daneben verweist die Tatsache, dass das naturwüchsige Ambiente in dem historischen Augenblick konstruiert wurde, in dem die Ersetzung der Naturkräfte durch die künstliche Kraft feuer- und dampfgetriebener Maschinen Konturen anzunehmen begann, auf eine Antinomie, die auch zum Erbe der Aufklärung zählt." (107f.) Diese hier konsequent betriebene Einbettung der Aufklärungsbewegung in größere historische Zusammenhänge birgt aber auch eine Gefahr in sich. Der Aufklärung wird (in der Geschichtswissenschaft) eigentlich kein Epochencharakter zugesprochen - sie ist Bestandteil der Frühen Neuzeit. So richtig es ist, sich einerseits vor einer epochalen Überhöhung der Aufklärung zu hüten, so wichtig ist aber andererseits, ihren innovativen und verändernden Charakter zu betonen - die Aufklärung kennzeichnete "ein von der Dignität des Alters und der Macht der Tradition unbeeindruckter Reformgeist" (41). Denn die Aufklärungsbewegung war es, die die Gesellschaftsstrukturen der Frühen Neuzeit so verändert hat, dass wir heute einen Bruch zwischen Vormoderne und Moderne um 1800 (also "nach" der Aufklärung) ganz selbstverständlich lehren.
Möglicherweise liegt hier die langfristige Herausforderung für die Historiker der Aufklärung, nämlich die, Konzepte zu entwickeln, die beide Sichtweisen miteinander verbinden, die mithin integrativen Charakter besitzen. Die Ansätze der Neuen Religionsgeschichte und einer thematisch und methodisch breiten Kommunikationsforschung weisen in diese Richtung, weil beide einen Zeithorizont im Blick haben, der vom 15./16. Jahrhundert bis in die Gegenwart reicht. Dann werden sich auch wieder mehr "methodisch innovative jüngere Wissenschaftler" (74) der historischen Aufklärungsforschung zuwenden, als dies momentan noch der Fall zu sein scheint.
Holger Zaunstöck