Horst Lademacher: Der europäische Nordwesten. Historische Prägungen und Beziehungen. Ausgewählte Aufsätze. Hrsg. v. Nicole Eversdijk, Helmut Gabel, Georg Mölich, Ulrich Tiedau, Münster: Waxmann 2001, 392 S., ISBN 978-3-8309-1058-9, EUR 34,80
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Guido Braun / Antje Oschmann / Konrad Repgen (Bearb.): Die Friedensverträge mit Frankreich und Schweden. Teilband 2: Materialien zur Rezeption, Münster: Aschendorff 2007
Jan Konst / Inger Leemans / Bettina Noak (Hgg.): Niederländisch-Deutsche Kulturbeziehungen 1600-1830, Göttingen: V&R unipress 2009
Ignacio Czeguhn / Heiner Lück (Hgg.): Kaiser Karl V. und das Heilige Römische Reich. Normativität und Strukturwandel eines imperialen Herrschaftssystems am Beginn der Neuzeit, Stuttgart: S. Hirzel 2022
Es gehört zur guten akademischen Tradition, dass zu Ehren eines verdienten Wissenschaftlers eine Auswahl seinen wichtigsten Aufsätze in einer gesonderten Edition verlegt werden. Dies gilt um so mehr, wenn dieser Wissenschaftler über Ländergrenzen hinweg gewirkt und publiziert hat und die Spanne seiner wissenschaftlichen Tätigkeit vier Jahrzehnte deutlich überschritten hat. Dies alles gilt für Horst Lademacher, emeritierter Ordinarius für Neuere Geschichte der Westfälischen Wilhelms-Universität und Begründer des "Zentrums für Niederlandestudien", einer 1989 errichteten Zentralen Einrichtung, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die historischen und kulturellen Beziehungen zwischen den Niederlanden, Belgien und Luxemburg einerseits und der Bundesrepublik Deutschland andererseits zu untersuchen und auch in positiver Weise fortzuentwickeln. Lademacher darf als der beste Kenner dieses Geschichtsraums in Deutschland gelten: Seit seiner Dissertation über "Die Stellung des Prinzen von Oranien als Statthalter in den Niederlanden" im Jahre 1957 weist sein Schriftenverzeichnis 27 Monografien, Editionen und Sammelbände, 125 Aufsätze sowie zahlreiche Rezensionen, Reihenherausgeberschaften und sonstige kleinere Publikationen auf (Schriftenverzeichnis: 369-384).
Im Sammelband, der von vier SchülerInnen und Freunden betreut wurde, sind 16 Aufsätze versammelt. Alle sind früher schon publiziert worden (Verzeichnis der Ersterscheinungsorte: 367f.), denn der Band war als Überraschungsgeschenk für den Jubilar anlässlich der offiziellen Feier zum 70. Geburtstag vorgesehen und wurde in diesem festlichen Rahmen am 13. Juli 2001 überreicht. Zusammengestellt wurden Beiträge von Lademacher aus der zweiten und dritten Schaffensphase des Jubilars: Der älteste Beitrag über "Wilhelm III. von Oranien und Antonie Heinsius" stammt aus dem Jahr 1970, die beiden jüngsten wurden 1998 zur Rolle der Niederlande im System des Westfälischen Friedens und zum Phänomen "revolutionärer Abstinenz" in den Niederlanden und Belgien erstpubliziert. Unter chronologischen und systematischen Gesichtspunkten lässt sich ein Beitrag den "alten" Niederlanden in burgundisch-habsburgischer Zeit zuordnen; die Zeit des Achtzigjährigen Krieges wird durch drei Aufsätze vertreten, die weitere Zeit der Republik durch einen. Ein Beitrag behandelt die Niederlande-Belgien-Problematik im 19. Jahrhundert, ein weiterer die Selbstverwaltung der Rheinprovinz in derselben Zeit. Die Niederlande und Belgien zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg werden in vier Abhandlungen untersucht, darunter eine kulturgeschichtliche Studie zu Johan Huizinga. Drei Beiträge haben die deutsch-niederländischen Beziehungen und die Reorganisation der Bundesrepublik nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zum Gegenstand. Zwei Artikel zur Bildformung zwischen Niederländern und Deutschen sowie zur theoretischen Fundierung einer übernationalen "Kultur- und Kulturraumforschung" runden den Sammelband ab.
Gerade der zuletzt genannte Gedanke lag und liegt Horst Lademacher besonders am Herzen: Er möchte einen zusammenhängenden nordwest-kontinentaleuropäischen Kulturraum rekonstruieren, der die Benelux-Staaten mit den Bundesländern Niedersachsen, Bremen und Nordrhein-Westfalen verbindet. Dieser Beitrag heißt mit vollem Titel "Kultur - Region - Nation. Überlegungen zu den Grundlagen einer grenzüberschreitenden Kultur- und Kulturraumforschung". [1] Der Kulturraum soll sowohl national als auch chronologisch übergreifend gesehen werden, in der Rückschau befreit von der Fixierung auf die Kriege und Bürgerkriege, die zwischen Nationen, Regionen und Religionen der betroffenen Herrschaftssysteme ausgetragen worden sind. Wenn das Mittelmeer als Ganzes als Kulturraum begriffen werden kann, wie Fernand Braudel es gesehen hat, ungeachtet der zahllosen Konflikte, die die dortigen Anrainer in Jahrhunderten getrennt haben, dann muss das auch für Nordwesteuropa erforschbar sein. Der Begriff "Kulturraum" ist eng mit dem Begriff "Geschichtslandschaft" verbunden: Er verweist auch für die Vergangenheit auf gebräuchliche Begriffe wie "Niederlande" oder "Rheinland", die gerade keine politische Einheit darstellten, wohl aber durch ein kulturelles Zusammengehörigkeitsgefühl ihrer Bewohner konstituiert wurden (351).
Was Lademacher stets bewegt hat, ist eine andere "Westbindung" Deutschlands: Sie soll nicht nur auf die Verfassungsverwandtschaft mit dem Amerika und Frankreich der Revolutionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts gegründet sein, sondern auf viel ältere kulturelle Verbindungen mit den nordwesteuropäischen Nachbarn, die in der deutschen Historiographie unberechtigterweise viel zu lange nur ein marginale Existenz geführt haben. Gerade hinsichtlich eines zusammenwachsenden Europa, in dem alle diese Staaten als EU-Mitglieder verbunden sind, bietet sich der Dialog in weitgespannter Weise an, der Historiker, Volkskundler, Sprachwissenschaftler, Kulturanthropologen und Forscher weiterer verwandter Disziplinen zusammenbringen soll. Nicht die vollausgebildeten Nationen sind dabei Ausgangspunkt der Überlegungen, auch nicht die umfassenden Europa-Ideen, die in der Geistesgeschichte des alten Kontinents eine lange Vorgeschichte haben, vielmehr liegt für Lademacher ein Reiz darin, Gedanken aufzugreifen, die dem Konzept "Europa der Regionen" zugrunde liegen. Dieses Konzept ist von politischer Aktualität besonders in der EUREGIO-Organisation europäischer Grenzlandschaften, in denen öffentliche Stellen über Grenzen hinweg zusammenarbeiten (zum Beispiel Nordrhein-Westfalen mit Gelderland und Overijssel oder das Saarland mit Luxemburg und den französischen Moseldepartements). Die historischen Vorläufer dieser Zusammenarbeit sind überall in Europa auffindbar, wenn sie erst einmal gesucht werden. Lademacher lädt dazu ein, sich an dieser Suche zu beteiligen.
Der innere kulturelle Zusammenhalt Nordwest-Kontinentaleuropas ist in zahlreichen Einzelstudien bereits konstatiert worden, ohne dass sich daraus ein übergreifender Forschungsansatz entwickelt hätte. Lademacher verweist auf Hinweise von Henri Pirenne und Johan Huizinga in bezug auf diesen Zusammenhang, erwähnt die grenzüberschreitende Wirksamkeit der Devotio moderna für den religiösen Bereich, erinnert an die Rekonstruktion eines kunstgeschichtlichen Zusammenhangs der sakralen Baustile im Rhein-Maas-Gebiet seit dem Hochmittelalter. Die Universitäten Köln, Löwen und Leiden entwickelten sich nacheinander zu akademischen Ausbildungsstätten für die Jugend des gesamten hier gemeinten Raums. Die Religionsflüchtlinge des 16. und 17. Jahrhunderts verließen zwar ihr jeweiliges Territorium, in dem sie bedroht wurden, zogen aber an einen anderen Ort im selben Geschichtsraum, wo ihnen die Orientierung leichter fiel, als wenn sie nach Süddeutschland oder England hätten reisen müssen (357).
Besonderes Augenmerk richtet Lademacher bei dieser Fragestellung naheliegenderweise auf die Grenzen. Sie sind ihm politische Konstrukte, denen kulturelle Aufladungen, aber auch Unterlaufungen nachfolgten. Zu den kulturellen Aufladungen, die den Grenzziehungen folgten, gehören die jeweiligen nationalen und regionalen Selbstbilder sowie die damit korrespondierenden Fremdbilder. Auch in diesem Fall hat die Aktualität den Forscher eingeholt: Hinsichtlich der Störungen der jeweiligen Wahrnehmungen besonders zwischen Deutschen und Niederländern, die in den frühen 1990er-Jahren mit Bestürzung auf beiden Seiten konstatiert worden sind, hat das Erklärungsmodell der wechselseitigen "Bildformungen", an dem Lademacher mit mehreren Studien und Sammelbänden wesentlich mitgearbeitet hat, wichtige Erkenntnismöglichkeiten geschaffen. [2]
Die Herausgeber des Sammelbandes haben diesem Anliegen Lademachers Rechnung getragen und das Buch nicht mit einem Niederlandetitel versehen, sondern "Der europäische Nordwesten" genannt. Bevorzugt wurden in der Zusammenstellung Beiträge, in denen Lademacher diesem Gedanken in drei Jahrzehnten vorgearbeitet hat. Wer Horst Lademacher kennt, weiß, wie sehr er darauf verweist, dass dieser Zusammenhang immer noch erst am Beginn des Erforschtwerdens steht. Insofern hat Lademacher die Gelegenheit genutzt, seine Überlegungen zu "Kultur - Region - Nation" zu verbinden mit dem Vorschlag, die hier einbezogenen Staaten und Bundesländer mögen in Zukunft ein gemeinschaftliches "geistes- und sozialwissenschaftliches Forschungsinstitut in der Art des Florenzer Hochschulinstituts" gründen; dieses Institut müsse nicht an einem Ort zentralisiert werden, sondern die schon vorhandenen komplementären Einrichtungen des "Zentrums für Niederlande-Studien" in Münster und des "Zentrums für Deutschland-Studien" in Nijmegen könnten in diese gemeinschaftliche Einrichtung als Organisationsbestandteile eingebracht werden (364f.)
Bei dem fast 400 Seiten starken Sammelband darf man von einer hohen Informationsdichte sprechen: Der Waxmann Verlag hat das Werk in gewohnter Sorgfalt gestaltet und auf jeder Seite 42 Zeilen untergebracht; bei großzügigerem Seitenlayout wäre der Umfang leicht um die Hälfe gewachsen (und vermutlich auch der Preis). Lobenswert ist, dass dem Sammelband ein Personenregister beigefügt worden ist - selten bei Sammelbänden -, das als Extra jede Person kurz charakterisiert (zum Beispiel Heldring, Ernst, niederländischer Industrieller). Die Vielfalt der Namen kennzeichnet einmal mehr den weiten Horizont, mit dem der Jubilar das Feld der gesamtniederländischen Geschichte über ein halbes Jahrtausend hinweg beackert hat. Wer sich künftig der Kultur und Geschichte dieser europäischen Zentralregion annähern will, wer auf Reisen und bei beruflichen Begegnungen die holländischen, flämischen und wallonischen Nachbarn nicht nur sehen, sondern auch verstehen will, kommt an diesem Sammelband nicht vorbei.
Anmerkungen:
[1] Erstpublikation des Beitrags in: Jahrbuch des Zentrums für Niederlande-Studien 5/6, 1994/1995, 307-323. Im hier zu rezensierenden Sammelband steht der Beitrag auf den Seiten 351-365; die Seitenzahlen in dieser Rezension verweisen auf diesen Nachdruck.
[2] Vgl. dazu den Beitrag "Zwei ungleiche Nachbarn. Das Bild der Deutschen in den Niederlanden" in diesem Sammelband, 341-350.
Johannes Arndt