Susanne Claudine Pils: Schreiben über Stadt. Das Wien der Johanna Theresia Harrach 1639-1716 (= Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte; Bd. 36), Wien: Deuticke 2002, 352 S., ISBN 978-3-7005-4672-6, EUR 29,90
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Susanne C. Pils / Jan P. Niederkorn (Hgg.): Ein zweigeteilter Ort? Hof und Stadt in der Frühen Neuzeit, Innsbruck: StudienVerlag 2005
Jens Niebaum / Herbert Karner / Eva-Bettina Krems u.a. (Hgg.): Sakralisierungen des Herrschers an europäischen Höfen. Bau - Bild - Ritual - Musik (1648-1740), Regensburg: Schnell & Steiner 2019
Christian Kühner: Politische Freundschaft bei Hofe. Repräsentation und Praxis einer sozialen Beziehung im französischen Adel des 17. Jahrhunderts, Göttingen: V&R unipress 2013
Susanne Claudine Pils hat in den Beständen des Harrachschen Familienarchivs einen interessanten Fund gemacht. Die Tagzettel der Gräfin Harrach aus den Jahren 1665 und 1676/77 - das heißt tagebuchähnliche Aufzeichnungen, die die Gräfin ihrem Gemahl Ferdinand Bonaventura Harrach regelmäßig als Briefe nach Madrid übersandte, wo dieser als kaiserlicher Botschafter tätig war - erlauben auf Grund ihrer beinahe vollständigen Überlieferung eine "Dichte Beschreibung" adligen Hoflebens. Welche Probleme mit der Existenz in der kaiserlichen Residenzstadt einhergingen, wenn man dort den Kontakt zu höfischen Kreisen knüpfen musste, während der Ehemann fernab in Madrid weilte, wie die Lebenswelt der Gräfin beschaffen war, all dies lässt sich den Tagzetteln entnehmen.
Trotz ihres hochadligen Standes und der exponierten Position der Familie innerhalb des erbländischen Hochadels gestaltete sich das Wirken der Gräfin bodenständiger, als man es auf Grund ihrer sozialen Stellung vermuten könnte. Dies ist der vielleicht bedeutendste Beitrag dieser Studie zur Lebenswelt des höfischen Adels in Wien. Spannende Einsichten vermittelt die Arbeit immer dann, wenn nah an den Tagzetteln Probleme des Alltags der Gräfin Johanna Theresia Harrach sowie ihrer Familie wiedergegeben werden. So sieht man Johanna auf der Suche nach einer geeigneten Bleibe in der überfüllten und kostspieligen Residenzstadt. Den Wohnungsmangel spürte die Gräfin am eigenen Leib, zum Beispiel wenn ihre Vermieterin, die Frau des niederösterreichischen Landmarschalls, für eine wenig repräsentative Unterkunft in der Stadt mehrfach mit Mieterhöhung drohte, und Angebote für ein repräsentatives Palais in der Stadt entweder ausblieben oder sich zerschlugen. Das Haus, das die Harrachs 1676/77 besaßen und das in der heutigen Bankgasse in unmittelbarer Nähe zur Hofburg gelegen ist, vermochte die Ansprüche ebenfalls nicht zu befriedigen. Auch hier reichte der Platz nicht aus, um neben dem praktischen Raumbedarf für eine mehrköpfige Adelsfamilie samt Dienerschaft auch noch die Repräsentationsansprüche wahren zu können. Erst mit dem Umzug in das Harrach-Palais auf der Freyung Ende des 17. Jahrhunderts war das Wohnungsproblem aus der Welt geschafft und ein repräsentativer Familiensitz in der kaiserlichen Residenz etabliert. Wie sich die Gräfin dabei in ihrem jeweiligen Domizil einrichtete, welche Entscheidungen sie selbst in die Hand nahm und welche sie ihrem Mann überließ, geht aus den Tagzetteln deutlich hervor.
Ein Thema, das im ehelichen Briefwechsel ebenfalls viel Aufmerksamkeit findet, ist die herrschaftliche Küche samt Personal. Über die Person des von Ferdinand Bonaventura eingestellten französischen Kochs kam es zu einem länger anhaltenden Disput zwischen den Eheleuten. Der Gräfin erschien der Koch nicht nur zu teuer zu sein, sie geißelte auch seinen verschwenderischen Umgang mit Lebensmitteln und zog seine Qualitäten generell in Frage. Mit einer neu eingestellten österreichischen Köchin suchte sie Abhilfe zu schaffen. Die Entlassung des französischen Kochs konnte sie allerdings gegenüber ihrem Gatten nicht durchsetzen. Ob es sich hierbei um pure Geschmacksfragen drehte oder auch Prestigeüberlegungen eine Rolle spielten, erfährt man aber leider nicht.
Auch sieht man die Gräfin bisweilen selbst in der Küche mit Hand an legen - dies schien sich mit ihrem Standesideal durchaus zu vertragen. Ebenso übernahm sie auch Erziehungsaufgaben gegenüber ihren Kindern. Die Tagzettel enthalten zahlreiche Hinweise auf gemeinsames Spielen der Mutter mit ihren Kindern, Schulleistungen wurden berichtet und gelegentlich moniert - der Nachwuchs der Harrachs schien die Weisheit nicht mit Löffeln gefressen zu haben, wenn man den Berichten der Gräfin an ihren Mann glauben darf. Dem späteren Erfolg der Zöglinge hat dies gleichwohl nicht geschadet. So erhielt Franz Anton von Harrach die geistlichen Würden und fand sich später im Amt des Erzbischofs von Salzburg wieder, und sein jüngerer Bruder Alois Thomas Raimund wurde unter Karl VI. Vizekönig von Neapel und später Mitglied der Geheimen Konferenz. Der jüngste Sohn des Hauses, Johann Joseph Philipp, brachte es immerhin zum Komtur des Deutschen Ordens.
Die Bedeutung des Kaiserhofes für die Gräfin Harrach, die selbst nicht zum Hofstaat der kaiserlichen Herrschaften zählte, kommt dagegen leider zu kurz. Es wird nicht recht deutlich, ob dies eher dem eventuell spärlicheren Informationsgehalt der Tagzettel oder einer Entscheidung von Susanne Pils zu verdanken ist. Hinweise auf ihr ständiges Bitten um zugesagte Gelder, um die versprochene Verleihung des Ordens vom Goldenen Vlies an ihren Mann sowie um die baldige Abberufung ihres Mannes aus Madrid zurück nach Wien bleiben eher allgemein. Dass die Visiten zur Hauptbeschäftigung der Gräfin zählten, wie Pils behauptet, schlägt sich in der Arbeit nicht nieder. Und auch ihr Hinweis auf einen spannenden Regelverstoß gegen die Bestimmungen des Hofzeremoniells mündet leider in allgemein gehaltene Passagen über die Bedeutung von Ritual und Zeremoniell am Hofe, die wenig Neues vermitteln.
Mit der Verknüpfung von Quellentext und Interpretation ist zugleich das Hauptproblem dieser Arbeit angesprochen. Dass es Susanne Pils schwer fiel, sich bei der Interpretation der Tagzettel für eine Fragestellung zu entscheiden, bekundet sie selbst in ihrer Einleitung, in der sie als mögliche Themenschwerpunkte die Biografie, Frauen- und Geschlechtergeschichte, Körpergeschichte und Stadtgeschichte benennt. Auch über die Konsequenz eines solchen Vorgehens ist sie sich im klaren: "Was als Vorteil der Vielfalt der Quelle gesehen werden kann, wurde durch die 'Zerstückelung' des Quellenkorpus, des Textkörpers, zum Stückwerk" (5).
Leider entgeht das Buch dem hier bereits prognostizierten Schicksal nicht. Statt sich auf eine konzise Interpretation der Gräfin Harrach und ihrer Lebenswelt zu beschränken, werden an die Quellenabschnitte lange Exkurse angelagert, die um die Veränderungen der Stadtwahrnehmung durch die Perspektive des Autofahrers (29), die Entdeckung des Blutkreislaufes (34 f.) und die Relativitätstheorie (40) kreisen; ferner wird bis ins Mittelalter, auf Hartmann von Aues Erec-Roman zurückgegriffen (181), um die Ehe zwischen Johanna Gräfin Harrach und ihrem Mann Ferdinand Bonaventura zu charakterisieren. Dabei bleiben Pauschalisierungen naturgemäß nicht aus. Garniert wird das Ganze mit einem bunten Strauß aus Lesefrüchten, die in postmodern inspirierten Arbeiten wohl nicht fehlen dürfen. Der Zitatenschatz reicht von Laotse über Martin Heidegger bis zu Niklas Luhmann (Kapitel "Sichtweisen"). Dabei geht Susanne Pils mit sozialwissenschaftlichen Begriffen nicht eben zimperlich um: Bourdieusche Kategorien wie "symbolische Strategie" (69) oder "kulturelles Kapital" (76) werden ohne Rücksicht auf ihre ursprüngliche Deutungsfunktion als Metaphern dem Text eingefügt.
Wörtliche Zitate, die nicht selten halbe Seiten füllen, lassen darüber hinaus die Frage aufkommen, ob eine kommentierte Edition der Tagzettel nicht vielleicht angemessener wäre, um den Alltag der Gräfin Harrach zwischen Haushalt und Hofstaat aufzuhellen. Der Anspruch der Autorin, keine Quellensammlung, sondern eine historische Deutung vorzulegen, hätte eine klare Fragestellung zwingend erforderlich gemacht. Der Versuch einer Interpretation jedenfalls, die den Anspruch erhebt, Körper-, Geschlechter-, Adels- und Stadtgeschichte in einem zu sein, hat sich leider nicht ausgezahlt.
Andreas Pečar