Ulrike Zeuch: Umkehr der Sinneshierarchie. Herder und die Aufwertung des Tastsinns seit der Frühen Neuzeit (= Communicatio; Bd. 22), Tübingen: Niemeyer 2000, XI + 332 S., ISBN 978-3-484-63022-2, EUR 66,00
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Diese Rezension erscheint auch in PERFORM.
Seit einigen Jahren ist der Körper in den Mittelpunkt des Interesses kulturwissenschaftlicher Forschungen gerückt. Ausgehend von einer Kritik an der einseitigen Dominanz klassischer sozialwissenschaftlicher Erklärungsmuster zur Analyse historischer und gegenwärtiger Lebenswelten zeugen die vielfältig durchgeführten oder angemahnten 'Turns' von der Suche nach einem neuen archimedischen Punkt, an dem die Geisteswissenschaften ihre Einheit zu bestimmen vermögen. Auch der Körper ist Objekt des Versuchs einer solchen kategorialen Neubestimmung geworden. Er ist nicht nur ein weiterer Gegenstand der Forschung, sondern nach dem Linguistic- und dem Visual Turn in Gestalt des 'Body -' oder neuerdings des 'Performative Turn' - ein Versuch, Wissenschaft auf ein neues Fundament zu stellen.
In diesem Kontext, in dem Leiblichkeit als ein Wirklichkeit konstituierender Sinn begriffen wird, steht auch die vorliegende Habilitationsschrift zu Herders Aufwertung des haptischen Sinns. Das Interesse an Johann Gottfried Herder ist in den vergangenen Jahren gestiegen, wohl auch, weil mit ihm nach der postmodernen Kritik an einer einseitigen Dominanz des Rationalismus eine andere Form von Aufklärung denkbar wird. Es war Herder, der die Bedeutung der Sprache für die Konstituierung dessen, was Vernunft genannt wird, erkannte. Dieser Weg aber, von der Sprache zum Körper, erinnert an den Weg vom Linguistic Turn mit seinen Derivaten in den unterschiedlichen Formen der Diskursanalyse und Begriffsgeschichte, zur Wende zum Körper und den körperlichen Performanzen. Es ist dieser Weg der Kulturwissenschaften der letzten Jahre, der eine Parallele zu dem Entwicklungsweg Herders darstellt, und der aus der vorliegenden Arbeit nicht nur eine spannende und erfahrungsreiche Lektüre historischer Sinnestheorie am Beginn der Moderne macht, sondern Anregungen für mögliche Antworten auf eine breite Teile der historischen und systematischen Kulturwissenschaften beschäftigende Frage erwarten lässt.
Vordergründig jedoch will der vorliegende Text nur als historische Studie über die Aufwertung des Tastsinns zum zentralen Wirklichkeitssinn seit der frühen Neuzeit bis 1800 gelesen werden. Er will die Gründe für diese Aufwertung sowie ihre Folgen für die Wahrnehmungstheorie und die Ästhetik als der Lehre vom Schönen herausarbeiten. Das gewachsene Interesse an der Körperlichkeit und - mit dieser verbunden - an der Sinnlichkeit von Wirklichkeitskonstituierung und -erkenntnis, hat sich historisch besonders am 18. Jahrhundert als dem vermeintlichen Zeitalter der Vernunftdominanz festgemacht. Ließe sich hier, inmitten des Diskurses der Aufklärung, das Andere der Vernunft entdecken, wäre es um so leichter, dies in die gegenwärtigen Theoriediskussionen einzubringen, ohne sich dem Vorwurf auszusetzen, den Rahmen der Aufklärung zu verlassen. Kronzeuge dieser Entdeckung der Körperlichkeit ist Herder. An diesem Punkt setzt die Argumentation im vorliegenden Buch an, die in minuziösen Detailanalysen den Vorläufern und diskursiven Voraussetzungen der herderschen Aufwertung des Tastsinns nachgeht. Dass sie dabei in relativ klassischer Weise ideengeschichtlich verfährt und die historische Kontextualisierung gegenüber den philosophischen Entwicklungslinien zurücktritt, ist dem textanalytisch orientierten Ansatz der Arbeit geschuldet. Auf diese Weise entsteht aber eine Archäologie der herderschen Sinnesphilosophie, die deren Aporien ebenso zu erklären vermag wie Widersprüche in deren bisheriger Auslegung durch die Forschung.
Bewusst entscheidet sich die Autorin gegen werkhistorische, rein textimmanente oder rezeptionshistorische Zugriffsweisen auf ihre Fragestellung. In der Aufdeckung der Vorgeschichte der Umwertung der Sinne, die ihr relatives Ende in Herders Aufwertung des Tastsinns zum allgemeinen Sinn erfährt, wird ein neues Verständnis seiner Theorie der Sinne gesucht. Dass sich dies nicht direkt in den Texten nachweisen lässt, weil es untergründig wirkt, liegt in den Axiomen der archäologischen Methode, die nach den diskursiven Potenzialen der Entstehung einer Theorie sucht. Es wird nicht mehr gefragt, was Herder bewusst aufnahm, sondern vorgeführt, wie diskursive Elemente auch jenseits einer reflektierten Rezeption Wirkung entfalten können. Wenn nicht mehr über die historische Entwicklung der Zusammenhalt von Texten konstruierbar ist, dann bedarf es eines anderen Aspektes, der diesen herzustellen vermag. Die Autorin findet ihn in einer überzeitlich gültigen, anthropologisch konstanten Physiologie der menschlichen Sinne: "... halte ich weder die Anzahl der Sinne noch ihre Reihenfolge für bloße subjektive Setzungen bzw. Konventionen; aus der Beobachtung, dass die Hierarchie der Sinne zu unterschiedlichen Zeiten verschieden festgelegt wurde und auch weiterhin wird, ist nicht zwingend zu schließen, sie sei arbiträr. Vorliegende Untersuchung belegt, dass das Gegenteil zutrifft: Zwar sind die Umstände, die zur Umkehr der Sinneshierarchie geführt haben, geschichtlicher Natur. Das heißt aber nicht, dass auch die Sache selbst: das Wesen der menschlichen Wahrnehmung, der jeweilige Gegenstand der Sinne und deren Anzahl selbst dem historischen Wandel unterliegen." (36-37). Es soll dahingestellt bleiben, inwiefern eine Arbeit, die sich mit den Texten ausgewählter Philosophen beschäftigt, zu 'beweisen' vermag, dass eine Sinnesphysiologie ahistorisch zu bestimmen und über die Menschheitsgeschichte hinweg konstant ist: In der Arbeit ist das Argument notwendig, um das gewählte Vorgehen zu legitimieren.
Ausgangspunkt der Argumentation ist Herders Überzeugung, nur der Tastsinn zeige mit Gewissheit, dass man einen Gegenstand vor sich habe. Um eine Einordnung dieser Argumentation vorzunehmen, beginnt die Autorin ihre Analysen dort, wo die Gewissheit der Sinne, besonders aber des Auges, in Frage gestellt wird: bei William Ockham. Ausgehend von der Darstellung der Sinnestheorie bei Thomas von Aquin, die paradigmatisch für eine vor-ockhamsche Begründung der Richtigkeit von Erkenntnis steht, wird Ockhams Zweifel an der sinnlichen, besonders der visuellen Erkenntnis herausgearbeitet und die Wirkung über Bacon, Leibniz, Hume und andere bis zu Herder verfolgt. Die hier vollzogene Wendung in der Hierarchie der Sinne bereitet eine Analyse von Herders Sinnestheorie vor. Mit der räumlichen Ausdehnung als Qualität der Objekte rückt ihre haptische Erfahrbarkeit in den Mittelpunkt der Theoriebildung.
Im zweiten Teil des Buches wird die Analyse des Tastsinns auf den Begriff der 'Schönheit' bezogen, dessen Relevanz sich aus zwei Argumenten ergibt. Einerseits aus seiner Bedeutung für die Theorie der Sinne in der Frühen Neuzeit selbst, besonders für Herder, der in ihr den zentralen Gegenstand der Gewissheit von Erkenntnis sieht, andererseits daraus, dass postmoderne Ästhetik zwar die Bedeutung des Tastsinns rezipierte, nicht aber die mit diesem verbundene Lehre vom Schönen.
Nach Ulrike Zeuchs Analyse lassen sich die Gründe für die in der Forschung immer wieder angemahnten Widersprüche in Herders Theoriebildung auf diskursive Prozesse zurückführen, die sich in der frühen Neuzeit ereigneten, von denen die Autorin mehrere herausarbeitet. Dazu gehört unter anderem die als Umkehr der Sinneshierarchie bezeichnete Abwertung der ehemals so genannten primären Sinne wie Sehen und Hören zu Gunsten der sekundären wie dem Tasten, welches Gestalt und Bewegung, mithin räumliche Qualitäten, wahrzunehmen vermag. Der Fokus liegt auf dem Begriff der Schönheit, der zum Zentrum der Gegenstandserkenntnis wird. Indem die Sinne an den Gegenständen ein Ideelles vermitteln, das in der Schönheit gipfelt, wird diese zum Gegenstand ganzheitlicher Wahrnehmung. Die damit verbundene Problematik, in der Suche nach der Einheit die Mannigfaltigkeit zu verlieren, wurde am Ende des 18. Jahrhunderts als Verlust gewertet. Herder entdeckt die Sprache als alternativen Ort, an dem sich Wesenhaftes offenbart. In ihr werden die inneren Regungen des Menschen und damit seine Seele offensichtlich. Dem Tastsinn kommt dann die Aufgabe zu, "die Vorstellungswelt in ihrer Totalität vorbewusst zu vergegenwärtigen [...] Als Tastsinn kann der Tastsinn dies nicht leisten, sondern nur, wenn er zugleich sensus communis, Zentrum von Synästhesie und Organ der Selbstwahrnehmung ist." (312). Damit schließt sich der argumentative Kreis, den die Autorin von der Neudefinition der Hierarchie der Sinne im späten Mittelalter über die Konstituierung der Schönheit bis zur Entdeckung körperlicher Akte als Konstitutionsweisen von Wirklichkeit nachgegangen ist. Die gleichsam in Herders Theoriebildung eingelagerten Sedimentschichten dieser Geschichte, die teilweise ohne bewusste Rezeptionsleistungen entstanden, macht die Autorin verantwortlich für die Widersprüche in Herders Theoriebildung. Damit kann einer einseitigen Vereinnahmung Herders als Vorläufer postmoderner, körperzentrierter Ästhetik eine differenziertere Beurteilung entgegen gestellt werden, die auch die Verluste an diskursivem Potenzial erkennt.
Die in der Einleitung angekündigte Suche nach einem ganzheitlichen Sinn und dadurch nach einem von Sprache unverstellten Zugang zur Wirklichkeit durch Neuformulierung einer Sinnestheorie in der gegenwärtigen Theoriebildung wird am Ende der Arbeit nicht wieder aufgenommen. Und dennoch durchzieht diese Frage den gesamten Text. Auch wenn im Schlusskapitel das Buch sehr bescheiden daherkommt und seine Ergebnisse primär entlang der Auslegung von Herder formuliert, bietet es dennoch mehr. Es ist eine ideengeschichtliche Analyse der Schwierigkeiten, im Rahmen eines rationalitätszentrierten Denkens ein Jenseits der Vernunft logisch stringent zu formulieren.
Stefan Haas