Peter Becker: Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, 448 S., 26 Abb., ISBN 978-3-525-35172-7, EUR 46,00
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"Einfach, schlicht und ordentlich erscheint die Wohnstube des Knochenhauermeisters Leberecht, in der er seinen vierzigsten Geburtstag im Kreise der Familie zelebriert. ?...? Eine Flasche Branntwein und ein Glas stehen bereit, um den Geburtstag entsprechend zu feiern. ?...? Der Branntwein ist kein unbelastetes Thema im Hause Leberecht. Darauf deutet die abwehrende Haltung der Ehefrau hin ?...?. Der Glückstag wird zum Unglückstag, der Branntwein zum Verhängnis", subsumiert Peter Becker die Szenerie einer Bildergeschichte von 1854, mit der er den ersten Teil seines Buches "Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis" beginnt (35 f.). Unter der Überschrift "Verderbnis und Entartung" diskutiert er in dieser Studie - seiner Göttinger Habilitationsschrift - die Produktion von kriminologischem Wissen zwischen dem späten 18. und dem frühen 20. Jahrhundert auf der Grundlage philosophischer, anthropologischer, juristischer, literarischer und medizinischer Schriften. Becker fragt nach dem politischen, sozialen und intellektuellen Kontext, in dem sich bestimmte Vorstellungen vom Verbrecher entwickelten, durchsetzten und veränderten. Dem Autor geht es dabei um die Kontinuitäten und Diskontinuitäten, um die Diskursteilnehmer, deren Position, Autorität und Einfluss auf die Kriminalpolitik sowie um die Verfahren der Strafverfolgungsbehörden. Dass es sich nicht um eine reine Diskursanalyse handelt, davon zeugt sowohl die enge Verquickung von diskursiven und institutionellen Praktiken als auch die Verwendung sozial-, rechts- sowie politikgeschichtlicher Methoden. Becker arbeitet zwei zentrale Erzählmuster heraus, nach denen er sein Buch gliedert: Im späten 18. und bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hinein dominierte das Bild vom "gefallenen Menschen" (Kapitel 1-4), in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und vor allem um die Jahrhundertwende hingegen das des "verhinderten Menschen" (Kapitel 5-6). Beide beinhalteten "eine Dichotomie zwischen dem bürgerlichen Selbst und dem kriminellen Anderen" (12), der im kriminologischen Diskurs je anders definiert war.
Charakteristisch für die Erzählweise über den 'gefallenen Menschen' ist die eingangs geschilderte Szene aus Ferdinand Naumanns Bildergeschichte 'Die Flasche. Eine Erzählung in acht Bildern'. Denn nachdem Leberecht bewusst den ersten Schritt in die falsche Richtung getan hatte, folgte unabänderlich der Fall: Er stahl und stiftete auch seine Kinder dazu an, tötete seine Frau und endete schließlich als Mörder in der Irrenanstalt. Die biografische Struktur Leberechts, die Naumann in seiner didaktischen Geschichte entwarf, entsprach der Logik des kriminalistischen Diskurses der damaligen Zeit. Tonangebend bis in die erste Jahrhunderthälfte waren Praktiker in Polizei und Gericht. Sie rückten nicht nur die Tat, sondern auch den Täter in den Blick und suchten nach signifikanten biografischen Ereignissen. Zentral für die Konstruktion des Verbrechers als eines 'gefallenen Menschen' ist das moralphilosophische Konzept der Gesinnung und der biblische Mythos vom Sündenfall: Der Verbrecher hatte sich willentlich vom moralisch-sittlichen Lebensentwurf des Bürgers abgewandt; er besaß eine "verkehrte Gesinnung" (60). Dem Erzählmuster des 'gefallenen Menschen' entspricht der Begriff 'Verderbnis' im Buchtitel, worunter Becker eine "Veränderung der sittlich-moralischen Handlungsleitlinie" (30) versteht. Welche Auswirkungen diese Vorstellungen vom Verbrecher auf den kriminologischen Diskurs, die Kriminalpolitik und die polizeiliche Praxis hatten, zeigt Becker an drei sozialen und sicherheitspolizeilichen Problemen: Alkoholmissbrauch, Prostitution und die Vergesellschaftung der Berufsverbrecher. In diesem Zusammenhang diskutiert er auch die vielfältigen Präventionsstrategien, die die Zeitgenossen entwarfen (zum Beispiel Erhöhung der Schanksteuer, Kontrolle der Prostitution). Die paradigmatisch kriminellen 'Anderen' dieser Zeit waren die Gauner, eine kleine Gruppe von Eigentumsverbrechern, und zwar nicht, "weil sie quantitativ dominierten, sondern weil sie vollständig mit zeitgenössischen Erwartungen an Bürgerlichkeit und Devianz sowie mit der Organisation der polizeilichen und gerichtlichen Arbeit kompatibel waren" (21). Gegen Ende des 19. Jahrhunderts machten diese einer neuen Gruppe von Kriminellen Platz: den Gewalt- und Sexualverbrechern.
Mit Fotografien von einem Kannibalen, seinem Werkzeug und Überresten seines Opfers, wie sie in Erich Wulffens "Der Sexualverbrecher. Ein Handbuch für Juristen, Verwaltungsbeamte und Ärzte" (1.-11. Auflage, Berlin 1910-1928) zu finden sind, leitet Becker den zweiten Teil seines Buches ein. Die erschreckend und zugleich faszinierende Wirkungsmacht, die mit diesen Abbildungen unweigerlich einhergeht, reflektiert die Aufmerksamkeit, die man ab Mitte des 19. Jahrhunderts extremen Gewaltfällen zollte. Sie wurden als willkommener Anlass gewählt, "um die Triebkräfte aufzuspüren, die den Menschen an die Grenzen des Menschseins führten" (257). Lustmörder und Kannibalen verletzten nicht nur die Regeln der bürgerlichen Gesellschaft, sondern des Menschseins überhaupt. Der 'verhinderte Mensch' hatte keine Wahlmöglichkeit für oder gegen die Integration in die Gesellschaft, da er auf Grund seiner psycho-physischen Defekte zu abweichendem Verhalten bestimmt war. Um diese Defekte herauszufinden, bedurfte es nicht mehr des praktischen, sondern vielmehr eines wissenschaftlich-theoretischen Blickes von Kriminologen (Mediziner, Psychiater, Anthropologen, Strafrechtsexperten). Neben die Täterforschung auf Grundlage der Biografie trat nun das Interesse an der Genealogie und Psychopathologie. Denn der 'verhinderte Mensch', so war man sich einig, war eine pathologische Persönlichkeit, nicht vernunftbegabt und gleichberechtigt wie der 'gefallene Mensch', sondern körperlich defekt, von devianter Natur. Er wurde entweder mit der Theorie der Degeneration erklärt oder als atavistische Form des Menschseins, also als Rückfall in frühere Evolutionsstufen, bezeichnet. Alkoholmissbrauch und Prostitution wurden nun als erbliche Belastung und nicht als freie Willensentscheidung aufgefasst. Auch in kriminalpolitischer Hinsicht führte die neue Deutung des Verbrechers zu Akzentverschiebungen. So wurden insbesondere für Rückfalltäter strafrechtliche Maßnahmen wie zum Beispiel Sterilisation, Todesstrafe, Verschickung in Kolonien vorgeschlagen. Dem 'verhinderten Menschen' entspricht der zweite Begriff im Buchtitel, die 'Entartung', die Becker als "Bestimmung zum Anderssein durch Vererbung und Umwelteinflüsse" (31) rekonstruiert.
Das besondere Verdienst des Buches liegt in der pointierten Darstellung der beiden Erzählmuster, ihrer Entstehung und Wirkung. Da Peter Becker nicht bei der systematischen Rekonstruktion der diesen Mustern zu Grunde liegenden "Menschenbilder" (29f.) stehen bleibt, sondern auch nach deren Implikationen für diskursive und institutionelle Praktiken fragt, deckt er die Bedeutung dieser Bilder für die kriminalistische Praxis und kriminologische Theorie auf und verbindet Diskurs und Praxis. So kommt er zu der Erkenntnis, dass, auch wenn wie zum Beispiel bei Lombroso und seinen Kritikern die Ursachen für eine 'Verbrecherlaufbahn' durchaus verschieden definiert wurden, es doch folgenreiche Gemeinsamkeiten gab. Grundsätzlich stellte der Kriminelle das politische, soziale, moralische und kulturelle Gegenbild zum idealisierten Bürger dar. Außerdem gelingt es Peter Becker in seinem Buch, die Gemeinsamkeiten von verschiedenen Erklärungsansätzen einer Zeit hinsichtlich ihrer sozialpolitischen und legislativen Konsequenzen zu verdeutlichen. An einigen Stellen möchte man allerdings gern mehr wissen über die Unterschiede und die Vielfalt der Meinungen. Zudem wäre eine genauere geografische Einordnung der Muster hilfreich - sowohl für die Einschätzung ihrer Relevanz als auch für die Lektüre selbst. Um so beeindruckender ist die Menge der Quellen, die der Arbeit zu Grunde liegt. Der Autor bietet eine wichtige inhaltliche und methodische Ergänzung zu neueren Studien der historischen Kriminologie ?1?.
Das Buch sei auch denen empfohlen, die sich für die Verortung 'des Bösen' in der Gesellschaft interessieren. Peter Becker beschreibt den Übergang von einer 'Moralgeschichte' zu einer 'Naturgeschichte des Bösen'. An welchem Ort das Böse heute aufzufinden ist, bleibt offen. Aber die von ihm beobachtete Faszination, die Gewalt- und Sittlichkeitsverbrecher auf Juristen, Mediziner, Kriminalisten, Statistiker, Theologen, Politiker und auch Literaten ausübten, ist auch heute vielfach zu beobachten.
Anmerkung:
[1] Siehe zum Beispiel Richard F. Wetzell: Inventing the Criminal. A History of German Criminology, 1880-1945, Chapel Hill / London 2000.
Kerstin Brückweh