Rezension über:

Markus Brandis: La maniera tedesca. Eine Studie zum historischen Verständnis der Gotik im Italien der Renaissance in Geschichtsschreibung, Kunsttheorie und Baupraxis, Weimar: VDG 2002, 400 S., 17 s/w-Abb., ISBN 978-3-89739-272-4, EUR 30,00
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Rezension von:
Hubertus Günther
Kunsthistorisches Institut, Universität Zürich
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Hoppe
Empfohlene Zitierweise:
Hubertus Günther: Rezension von: Markus Brandis: La maniera tedesca. Eine Studie zum historischen Verständnis der Gotik im Italien der Renaissance in Geschichtsschreibung, Kunsttheorie und Baupraxis, Weimar: VDG 2002, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 3 [15.03.2003], URL: https://www.sehepunkte.de
/2003/03/2400.html


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Markus Brandis: La maniera tedesca

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Die mittelitalienische Avantgarde kehrte sich im Zeitraum um 1400 programmatisch von der "mittelalterlichen" Tradition ab und proklamierte buchstäblich die Rückbesinnung auf die Antike. Zumindest seit hundert Jahren - grundlegend bereits durch Julius von Schlosser, umfassend in Paul Frankls Standardwerk "The Gothic" - ist immer wieder überdacht worden, welche Sicht auf das "Mittelalter" mit dieser Wende verbunden war. Dass die Avantgarde die "mittelalterliche" Tradition ablehnte, wenn sie sich von ihr abwandte, kann man sich leicht denken. Die Frage ist, wie verstand sie die vorausgehende Epoche. Kunsthistorisch gefragt: Durch welche Formen oder Prinzipien schien sich aus der Warte der Renaissance der überholte Stil auszuzeichnen? Was waren seine historischen Koordinaten?

Das ist ungefähr der Problemkreis, in den Brandis' Buch gehört. Brandis sucht vor allem nach einer Entwicklung in der Auseinandersetzung mit der gotischen Architektur und nach dem Beginn einer differenzierten Beurteilung des Stils. "Seit wann ist der gotische Stil ... Gegenstand kritischer Auseinandersetzung? Seit wann gibt es etwas, das wir heute unter dem Begriff des "Stilbewusstseins" fassen würden?" Zur Beantwortung dieses Fragenkomplexes stützt sich Brandis hauptsächlich auf die schriftlichen Quellen. Die architektonischen Zeugnisse stellt er weitgehend zurück, obwohl sein eigener Zugang zu der Materie gerade von daher rührt. In "Architectura" 30, 2000, publizierte er aufbauend auf seiner Magisterarbeit eine vorzügliche Analyse von Peruzzis Plänen zur Vollendung der Fassade von San Petronio in Bologna, die sich an den gotischen Stil des begonnenen Baus anlehnen.

Brandis stellt die bekannten schriftlichen Quellen zusammen und kommentiert sie. Die Quellen sind durchgehend übersetzt. Das sollte immer so sein. Denn selbst wenn die Übersetzung gelegentlich unglücklich ist, so wird doch offen gelegt, worauf die Argumentation wirklich basiert. Ein besonderer Gewinn ist, dass Brandis die bis an den Rand der Unverständlichkeit geschraubten Kommentare Cesarianos übersetzt hat. Damit wird eine wesentliche Quelle zum Verständnis der Gotik erst recht zugänglich.

Brandis geht von der Voraussetzung aus, dass mit wachsendem zeitlichen Abstand die Beurteilung der Gotik an geistiger Distanz und Differenziertheit zugenommen habe. Das mag in mancher Hinsicht nahe liegen; bewiesen wird es nicht. Da gibt es viele Probleme. Die behandelten Schriftquellen sind zu wenige und zu disparat, um mit ihnen eine repräsentative Statistik aufzumachen.

Die Kommentare zur Gotik sind schwer auf eine Linie zu bringen, weil sich in ihnen ganz unterschiedliche persönliche Erfahrungen und Konstitutionen niederschlugen. Die realen Kenntnisse von der Gotik schwankten sehr. Enea Silvio Piccolomini alias Papst Pius II. mit seinem Verständnis für die Gotik bildet eine Ausnahme, weil er die Gotik nördlich der Alpen kannte. Filaretes schrilles Verdikt über die Gotik ist durch die Kränkung geprägt, die ihm die Mailänder Dombauhütte zufügte, indem sie ihn brüsk vor die Tür setzte. Palladio stand mit seinem konsequenten Klassizimus seinerzeit ziemlich allein da. In Bologna enervierten präpotente Ignoranten die Architekten. Im Ganzen war das Verhältnis zur Gotik je nach Region sehr unterschiedlich. Ein pauschaler Blick auf Italien in den heutigen Grenzen ist in der Renaissance nur bedingt sinnvoll. In der Lombardei und im Veneto herrschten andere Vorstellungen als in der Toskana oder in Rom. Wenn die Gotik in Mailand und in der Lombardei differenzierter als anderswo behandelt wurde, so zeugt das weniger von einer geistigen Entwicklung in Italien als von dem direkten Kontakt mit einer der bedeutenden gotischen Bauhütten Europas.

Viele Unterschiede zwischen den behandelten Schriftquellen erklären sich dadurch, dass sie in unterschiedliche Zusammenhänge gehören. Die Architekten mussten normalerweise auf die Wünsche und Vorstellungen der Bauherrn Rücksicht nehmen. Wenn ein gewisses Verständnis für die Gotik in den Gutachten zum Tiburio des Mailänder Doms oder in den Kommentaren zur Vollendung der Fassade von San Petronio zum Ausdruck kommt, so zeugt dies zunächst einmal davon, dass die Architekten auf die Bedingungen eingingen, die von den Bauhütten für die Gestaltung der Pläne vorgegeben waren.

Frei von Sachzwängen konnte man im theoretischen Zusammenhang reden. Aber da gab es wieder andere Normen. Brunelleschi wurde gerühmt, die Wende vom Mittelalter zur Renaissance in der Architektur herbeigeführt zu haben, in erster Linie weil er die Kuppel des Florentiner Doms baute. Rein stilistisch lässt sich diese Panegyrik kaum verstehen, denn Brunelleschi führte ein gotisches Projekt aus.

Mehrfach postuliert Brandis uneingeschränkt, "maniera tedesca" bedeute soviel wie Gotik. Aus den Schriften der Renaissance geht das nicht hervor. Der Begriff meinte die gesamte Architektur vom Untergang des Römischen Reiches bis zum frühen Quattrocento. Das zeigen die Bemerkungen über die historische Entwicklung der Architektur und die einzelnen Beispiele, die ausdrücklich für die "maniera tedesca" angeführt wurden. Palladio etwa rechnete zu den Bauten in der Art von San Petronio auch San Marco in Venedig oder den Santo in Padua. Über die gesamte Renaissance hinweg wurde die Geschichte der Architektur im Wesentlichen wie folgt dargestellt: Die Deutschen entwickelten noch in der Antike eine eigene Architektur. Ihre Merkmale sind besonders Spitzbögen, tabernakelartige Verzierungen oder labile Konstruktionen, aber auch fantastische Figuren, wie sie für die italienische Romanik typisch sind. Diesen Stil brachten die Deutschen im Gefolge der Goten und anderer Barbaren nach Italien. Das erste Beispiel dafür bildet Ravenna, denn es war allgemein bekannt, dass die berühmten Bauten dort von den Goten errichtet wurden. Obwohl die Goten untergingen, breitete sich der Stil der Deutschen aus und beherrschte schließlich die ganze italienische Architektur bis zur Zeit des Mailänder Doms.

Das Memorandum zum Romplan Papst Leos X. lehrt, wie man speziell in Rom die Entstehungszeit der Architektur an der Bauweise erkennen könne. Das sei ganz leicht, wird versichert. Es gebe in Rom drei Arten von Bauten. Erstens die Antike, "die zweite aus der Zeit der Gotenherrschaft und des nachfolgenden Jahrhunderts, die dritte endlich von damals bis auf unsere Tage" (Übersetzung Brandis). Die antike Architektur ist exemplarisch schön. Die Architektur der Goten ist scheußlich, aber sie wurde dann von den Deutschen im Lauf der Zeit verbessert. Die dritte, neue Architektur steht qualitativ zwischen beiden. Die Deutschen, deren Stil oft noch andauerte, hatten als Dekor jene erwähnten romanischen Skulpturen und spitze Bögen. Man versuche einmal, nach diesen Kriterien Architektur in Rom historisch einzuordnen.

In Rom gibt es kaum gotische Architektur. Hier gilt es, die Unterschiede zwischen Santa Maria in Trastevere etwa und den Konstantinischen Basiliken zu erkennen. Bisher ist nicht bekannt, dass das jemandem auf Grund der Kriterien des Memorandums gelungen wäre. Auch die Ravennatischen Bauten der Goten lassen sich mit diesen Kriterien nicht leicht von den spätantiken unterscheiden. Umgekehrt hielt man viele mittelalterliche Bauten für antik, obwohl sich die Bauten der Goten oder Deutschen offensichtlich von den antiken unterschieden haben sollen. Aber noch schlimmer, die dritte Architektur soll "hundert Jahre" nach der Gotenherrschaft beginnen, also vor der Zeit Karls des Großen. Dazwischen gibt es keine nennenswerten Unterschiede mehr. Demnach besteht zwischen Santa Maria in Trastevere und Bramantes Neubau von Sankt Peter kein wesentlicher stilistischer Unterschied. So ist es jedenfalls in der ersten Fassung des Memorandums, die Brandis allein zitiert.

Das ist doch alles ein heilloses Chaos. Es sollte inzwischen allgemein bekannt sein, dass die Architekturgeschichte, die in der Renaissance aufgemacht wurde, die unterschiedlichsten Stile miteinander vermengt und umgekehrt stilistisch ähnliches als völlig unterschiedlich hinstellt. Frankl wusste das längst. Nur Brandis schweigt darüber. Wegen dieses Chaos wurde vor Brandis nicht vertreten, dass der "Historismus" (was immer das genau sein soll) bereits in der Renaissance aufgekommen sei. Brandis' These, dass die Gotik zunehmend differenziert betrachtet worden sei, lässt sich nicht allein mit den Schriften begründen. Die Schriften spiegeln generell nicht kohärent die architektonische Auffassung. Sie folgen auch anderen Bedingungen wie rhetorischen oder historischen Maximen. Erst ein Vergleich mit Bauten oder Plänen ermöglicht zu unterscheiden, wo sie wirklich die architektonische Auffassung wiedergeben. Die Werke lassen sich nicht ohne weiteres ausblenden. Das zeigen die von Brandis zitierte Analyse von Brunelleschis Bauten durch Heinrich Klotz und seine eigene Analyse von Peruzzis Plänen für San Petronio.


Hubertus Günther