Wilma Iggers / Georg G. Iggers: Zwei Seiten der Geschichte. Lebensbericht aus unruhigen Zeiten, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, 304 S., 15 Abb., ISBN 978-3-525-36265-5, EUR 22,90
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Glücklicherweise entsprechen die Erinnerungen von Wilma und Georg Iggers in vielen Punkten nicht dem Typ der Gelehrtenautobiografie. Hauptkennzeichen dieser trockensten Form des Selbstlebensbilds ist, dass das 'Er wurde geboren und lebte' meist zu einem 'Er wurde geboren und saß am Schreibtisch' verdörrt, der Mensch hinter seiner wissenschaftlichen Leistung zurücktreten soll. Dem entgegen steht vor allem der erklärte Anspruch des deutsch-amerikanischen Paares, mit dem Band ein dezidiert politisches Interesse zu verfolgen. Das Werk ist - so die treffende Charakterisierung der Verfasser - "ein Zeitdokument, das nationale, kontinentale, religiöse und ideologische Grenzen überschreitet und zwei Lebensgeschichten schildert, die sich unter Juden und Nichtjuden, Weißen und Schwarzen und zur Zeit des Kalten Kriegs in West und Ost abspielen" (7). Geschildert wird das Leben zweier Menschen, die, nach ihrer Nationalität befragt, keine Antwort nennen können, die ihrem Zugehörigkeitsgefühl gerecht würde, die, nach Nationalismus, Rassismus und Einschränkung von Menschenrechten gefragt, aber immer etwas zu sagen imstande sind.
Das Ehepaar Iggers wurde in deutschsprachiger Umgebung geboren: Sie als Wilma Abeles 1921 in dem Dorf Mirschikau im Böhmerwald; er als Georg G. Iggersheimer 1926 in Hamburg. Beide wuchsen in jüdischen Familien auf: Sie als Tochter wohlhabenderer Gutsbesitzer; er als renitenter Sohn aus bürgerlichem Haus. Der Aufstieg des Nationalsozialismus, die Institutionalisierung und Verrechtlichung des Antisemitismus, das zugeschriebene Leben als Jude, soziale Benachteiligung und existenzielle Bedrohung wurden zu prägenden Lebenserfahrungen beider. Der Shoah entkamen sie durch die Flucht mit den Eltern 1938 nach Kanada (Wilma) beziehungsweise in die USA (Georg). Dort folgte eine Phase der Existenzgründung. Sie absolvierte ein philologisches Studium (Deutsch, Französisch) und wurde Dozentin, später Professorin, zuletzt am jesuitischen Canisius-College in Buffalo; er studierte Linguistik, deutsche Literatur, Philosophie sowie Geschichte und wurde Professor 1963 in Chicago, 1965 an der State University of New York ebenfalls in Buffalo. Nachdem beide sich in Chicago kennen gelernt hatten, heirateten sie 1948 und bekamen drei Söhne. Die orthodoxe religiöse Haltung, die Georg noch in Deutschland zu entwickeln begonnen hatte, verschliff sich, ohne dass das Zugehörigkeitsgefühl zur jüdischen Glaubensgemeinschaft je verloren ging; Antisemitismus wurde hin und wieder erfahren, verlor aber seine lebensprägende Stellung.
Bei vielen Personen mit Verfolgungsgeschichte beginnt die eigentliche Auseinandersetzung mit diesem Lebensabschnitt erst im Pensionsalter, wenn Existenzgründung und Karriere abgeschlossen, der Horizont der Zukunft gegenüber den Erinnerungen an Zurückliegendes schrumpft (zum Beispiel Primo Levi, Cordelia Edvardson). Es ist wohl das Bemerkenswerteste an der Iggersschen Autobiografie, dass dies hier nicht so ist. Wilma und Georg Iggers gewannen aus der Erfahrung von Verfolgung und Benachteiligung einen aufklärerischen Impuls, der prägend für ihr Leben und Schaffen wurde. Breite Passagen der Memoiren sind dem Engagement gegen die soziale Ungleichstellung farbiger Menschen gewidmet, die in Richmond, wo beide an Colleges für Schwarze lehrten, besonders deutlich erlebt wurde. Dieses Engagement, zum Teil in leitenden Funktionen, war nicht nur auf das Black People Movement und die größte US-Bürgerrechtsbewegung "National Association for the Advancement of Colored People" beschränkt. Auch für die Esperanto-Bewegung waren beide tätig. Als Kritiker der amerikanischen Kriegspolitik in Korea, Kuba und Vietnam beteiligte sich das Paar an Friedensinitiativen und gründete eigene Friedensgruppen ("New Orleans Coucil for Peaceful Alternatives", 1962). Georg wurde vom Zentralverband der Kriegsdienstverweigerer (CCCO) zum Berater ausgebildet.
Der aufklärerische Impuls schlug sich auch im wissenschaftlichen Werk der Iggers nieder. Wilma, deren Dissertation über Karl Kraus 1967 erschien, veröffentlichte 1986 ein Lesebuch über "Die Juden in Böhmen und Mähren" und 2000 über "Prager Frauen"; Georg schuf mit "The German conception of history. The national tradition of historical thought from Herder to the present" (1968) einen Meilenstein der Historiografiegeschichte. Die These, dass die wissenschaftlich-philosophische Tradition in Deutschland vom naturrechtlichen Denken der westeuropäischen Aufklärung abgewichen und damit den Weg in die Katastrophe des Nationalsozialismus mitgebahnt habe, konnte möglicherweise zu dieser Zeit nur von jemandem aufgestellt werden, der über den "anderen historischen Blick" (so der Titel eines weiteren Werks von 1995 mit Bezug zur ostdeutschen Sozialgeschichte) verfügte. Iggers stand nicht wie viele spätere Doyens der Sozialgeschichte in einem Schülerverhältnis zu Historikern mit NS-Vergangenheit; die deutsche Geschichte war nicht mehr seine Nationalgeschichte; die Position eines internationalen Humanismus enthob ihn der Parteinahme in einer Wissenschaft im Zeichen des Kalten Kriegs; und er war mit 'westeuropäischen' Strömungen sozialgeschichtlicher Arbeit bestens vertraut. Das große Netz wissenschaftlicher Kontakte, das hinter dieser Arbeit stand, wird durch die Autobiografie offenbar. Mit Zentrum in Göttingen, wo die Iggers heute halbjährig leben, arbeitete Georg mit westdeutschen (Jörn Rüsen, Hans-Ulrich Wehler) und ostdeutschen Kollegen (Hans Schleier, Wolfgang Küttler, Werner Berthold) zusammen. Als nicht in die deutsch-deutschen Streitigkeiten Verwickeltem gelang ihm die Organisation eines wissenschaftlichen Austauschprogramms zwischen seiner amerikanischen Heimatuniversität und Partneruniversitäten in West- und Ostdeutschland.
Typisch ist die Iggerssche Autobiografie für eine Gelehrtenautobiografie, insofern sie den literarischen Anspruch gegenüber einem mitunter (gerade gegen Ende des Buchs) eintönigen Berichtsstil zurückstellt. Gleichwohl bietet die gewählte Erzählform, in der beide Seiten ihre jeweils eigene Sicht darstellen, eine interessante Doppelperspektive mit der Möglichkeit zu gegenseitiger Kritik. Untypisch für eine Gelehrtenautobiografie ist der Band, weil das Leben der beiden Protagonisten nicht glatt und nicht nur am Schreibtisch verlief. Wenn das Leben zu einem Politikum wird, so wird es auch die davon zeugende Lebensbeschreibung.
Stefan Jordan