Rezension über:

Christian Pfister (Hg.): Am Tag danach. Zur Bewältigung von Naturkatastrophen in der Schweiz 1500-2000, Bern: Paul Haupt 2002, 263 S., 75 Abb.,16 Graph., 3 Tab., ISBN 978-3-258-06436-9, EUR 36,00
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Rezension von:
Christian Rohr
Universität Salzburg
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Christian Rohr: Rezension von: Christian Pfister (Hg.): Am Tag danach. Zur Bewältigung von Naturkatastrophen in der Schweiz 1500-2000, Bern: Paul Haupt 2002, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 10 [15.10.2003], URL: https://www.sehepunkte.de
/2003/10/1487.html


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Christian Pfister (Hg.): Am Tag danach

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Katastrophen sind gestern wie heute stets präsent: verheerende Naturereignisse, technische Katastrophen oder terroristische Anschläge wie die des 11. September 2001 beherrschen fast täglich die Medien. Die Erforschung von Katastrophen, vor allem von Naturkatastrophen, lag bis ins ausgehende 20. Jahrhundert vornehmlich in der Hand der Natur- und Ingenieurswissenschaften. Erst in den letzten beiden Jahrzehnten hat sich auch eine sozialwissenschaftliche Risikoforschung entwickelt und - nicht zuletzt durch zahlreiche Studien des Bandherausgebers Christian Pfister einigermaßen etabliert -, wenn es auch vielen dieser Arbeiten an zeitlicher Tiefe mangelte, wie Pfister im Vorwort kritisiert. Zudem habe es zu wenig Kommunikation zwischen den Natur- und Sozialwissenschaften gegeben; eine leichte Besserung dieses Zustandes sei durch den "linguistic turn" in der Geschichtswissenschaft wieder weitgehend rückgängig gemacht worden, weshalb die andere Seite jeweils als "fachfremd" angesehen wurde (7). Dass sich aber neuerdings gerade Naturkatastrophen und ihre Auswirkungen auf den Menschen eines großen Interesses erfreuen, zeigt sich nicht nur an zahlreichen einschlägigen Publikationen, sondern auch an der Tatsache, dass die Wahrnehmung von Naturkatastrophen zu einem der Hauptthemen des Historikerweltkongresses 2005 in Sydney erkoren wurde.

Der Sammelband, der in einem Seminar am Historischen Institut der Universität Bern im Jahr 1996 wurzelt, versucht gegenseitiges Verständnis und die Zusammenarbeit zwischen Natur- und Sozialwissenschaften zu fördern. Der Schwerpunkt der Beiträge liegt dabei auf den Strategien zur Bewältigung, das heißt den materiellen Schäden sowie den physischen und psychischen Auswirkungen auf die betroffenen Menschen. Die einzelnen Fallstudien sollen, in einem zeitlichen Längsschnitt zueinander in Beziehung gesetzt, langfristige Konstanten und Veränderungen des gesellschaftlichen Umgangs mit Katastrophenereignissen erkennbar machen. Der zeitliche Rahmen erstreckt sich dabei von etwa 1500 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts.

Im Einleitungsbeitrag setzt sich Christian Pfister mit grundsätzlichen Fragen und Definitionsproblemen auseinander. Sie bilden für die weiteren Beiträge wichtige Leitgedanken. Pfister weist etwa darauf hin, dass der Begriff "Naturkatastrophe" vor dem 20. Jahrhundert kaum existierte. Eine Definition von "Katastrophe" muss aber auch er schuldig bleiben; in den Quellen jedenfalls korreliere das Ausmaß der materiellen und immateriellen Schäden mit der Ausführlichkeit der Darstellungen. Pfister weist in diesem Zusammenhang auch auf die im Deutschen vorhandene Unterscheidung zwischen "Risiko" und "Gefahr" hin, wobei im Falle eines "Risikos" Vorbereitungen möglich seien, während die "Gefahr" nicht durch den Menschen beeinflussbar sei.

Für die Analyse der Katastrophenbewältigung unterscheidet Pfister die Akutphase (die ersten zwölf Stunden), die Phase der Räumung und die Phase des Wiederaufbaus. Eine besondere Rolle kommt auch der Krisenkommunikation zu. Sie habe die Funktion, die Gefahr zu versachlichen, Besorgnisse und Ängste abzubauen, das Gefühl der Zusammengehörigkeit durch Verweis auf gemeinsame Werte zu stärken und Ressourcen zur Hilfeleistung zu mobilisieren. Die Formen der Katastrophenkommunikation seien in jeder Gesellschaft streng geregelt und kontrolliert, ja es handle sich um ein "politisches Ritual, das seine eigene Ordnung kennt und gleichsam sekundäre Normalität aufweist" (17). Bei den Strategien zur Risikobewältigung ließen sich drei Methoden unterscheiden: die Vermeidung von Gefahren, etwa durch Bauen außerhalb der Risikozonen, die Verminderung des Risikos durch vorbeugende Maßnahmen und die Vorsorge für den Fall des Schadenseintritts. Die Maßnahmen im Schadensfall bilden einen der wesentlichen Inhalte des Bandes, vor allem unter dem Gesichtspunkt der Katastrophenhilfe. Bei der Analyse derselben spiele eine bedeutende Rolle, ob die Spender ihre Hilfeleistung einer ihnen persönlich bekannten Person direkt zukommen lassen oder ob sie diese dem Empfänger durch eine Institution übermitteln. Zudem sei relevant, ob die Leistung stillschweigend oder ausdrücklich an einen Anspruch auf Gegenleistung geknüpft wird. Daraus ergeben sich vier Grundformen der Katastrophenhilfe, wobei die Grenzen fließend sind.

Alle Einzelbeiträge sind von interdisziplinärer Offenheit geprägt, prägnant formuliert, wissenschaftlich einwandfrei und vor allem mit ausgezeichnetem Bild- und Kartenmaterial illustriert. Sie sollen im Folgenden kurz vorgestellt und kommentiert werden:

Rosemarie Zeller analysiert Flugblätter über Naturkatastrophen, die offensichtlich nicht nur den Sensationshunger und das Unterhaltungsbedürfnis befriedigten, sondern auch zur geistlichen Erbauung und Buße dienten. Martin Stuber zeigt auf, wie sehr im 18. Jahrhundert biblische und wissenschaftlich-instrumentelle Deutungsmuster aufeinander prallten.

Fünf Beiträge machen deutlich, dass Katastrophen und die dazu ins Leben gerufenen Hilfsaktionen in ganz besonderem Ausmaß dazu instrumentalisiert wurden, um den nationalen Zusammenhalt in der Schweiz zu stärken. Es handelt sich hierbei um die Beiträge von Alois Fässler, Agnes Nienhaus, Hans Peter Bläuer und Franziska Sibylle Schmid. Diese hier überall greifbare nationale Solidarität wurde erst nach 1945 überwunden und zu einer weltweiten Solidarität ausgebaut, wie Sascha Katja Dubach am Beispiel von "Glückskette" und Rotem Kreuz aufzeigt. Schließlich zeigt Martin Fässler auf, dass Brandkatastrophen eine maßgebliche Rolle bei der Entstehung von Präventionsideen und Hilfsnetzen zukam.

Mit dem Wald, Lawinenschutz und präventiven Maßnahmen beschäftigen sich folgende Beiträge: Veronika Stöckli analysiert das Spannungsfeld zwischen Schutz und Nutzung des Waldes, das schließlich im Schweizer Forstgesetz von 1876 mündete. Der Entwicklung des Lawinenschutzes sind die beiden Beiträge von Philipp Schoeneich / Denyse Raymond / Mary-Claude Bosset-Henchoz und Martin Laternser / Walter J. Ammann gewidmet. Pierre Ecoffey geht auf die schleichende Zerstörung einer ehemaligen Feriensiedlung im Kanton Freiburg ein. Der im Bereich der Gebäudeversicherung tätige Autor macht deutlich, dass es erst die Katastrophe des Hangrutsches brauchte, damit die Behörden zu einem präventiven Umgang mit den Naturgefahren gelangten. Mit dem Umgang mit den Hochwassern der letzten Jahre, besonders auch unter dem Aspekt zukünftiger Katastrophenprävention, setzen sich die beiden Studien von Daniel Bernet und Andreas Götz auseinander, freilich unter Einbeziehung technischer Eingriffe in das Wasserlaufsystem seit dem 18. Jahrhundert.

Christian Pfister fasst in einem ausführlichen Schlusswort die Beiträge nicht nur zusammen, sondern schafft durch seine strukturierende Gesamtschau den von ihm in der Einleitung geforderten Längsschnitt.

Christian Rohr