Andreas Goltz / Andreas Luther / Heinrich Schlange-Schöningen (Hgg.): Gelehrte in der Antike. Alexander Demandt zum 65. Geburtstag, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2002, 330 S., ISBN 978-3-412-02802-2, EUR 34,90
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Gab es in der Antike den Typus des Gelehrten? Im heutigen Sprachgebrauch gibt es den Unterschied zwischen der Eigenschaft 'gelehrt' und Personen, die durch sie so bestimmt sind, dass sie sie als 'Gelehrte' musterhaft verkörpern. Dabei sind alle Gelehrten gelehrt (oder sollten es zumindest sein), aber nicht alle gelehrten Menschen sind Gelehrte.
Wer den hier zu besprechenden Band über 'Gelehrte in der Antike' aufschlägt und in der Einleitung, in einem Eingangs- oder Schlusskapitel entsprechende Überlegungen und Definitionen erwartet, wird enttäuscht werden. Das Buch - es handelt sich um eine Festschrift zum 65. Geburtstag des Althistorikers Alexander Demandt, verfasst von seinen ehemaligen und derzeitigen Schülerinnen und Schülern - ist im Vollsinn des Wortes ein Sammelwerk. Die Autoren stellen ein breites Spektrum gebildeter Menschen der Antike vor (Philosophen, Rhetoren, Literaten, Historiker), deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie über ein gewisses Maß an Bildung verfügten und diese irgendwie einsetzten. Angemessener wäre daher wohl die Überschrift 'Gebildete in der Antike', wobei 'gebildet' (paideutós, doctus, litteratus, eruditus) als bloßes Eigenschaftswort zu verstehen wäre: zugegebenermaßen ein sehr allgemeiner Titel. Aber der hätte dann der inhaltlichen Spanne der Beiträge entsprochen, die so unterschiedliche "Gelehrte" wie Sokrates, Tacitus und anonyme Schreiberinnen in christlichen Skriptorien behandeln. Keine besondere Rolle spielt dagegen das je unterschiedliche kulturhistorische Phänomen der Herausbildung eines Gelehrtentyps, meist verbunden mit der mehr oder weniger vollendeten Ausgliederung eines entsprechenden Teils aus dem Ganzen der gesellschaftlichen Prominenz und Kompetenz, wodurch ein mehr oder weniger autonomer Bereich 'Bildung und Gelehrsamkeit' entstand, dessen Inhalt und Konnotationen variieren konnten. Zugang zu diesen Prozessen hätten auf die Synthese zielende Untersuchungen verschaffen können, etwa bezogen auf die Begriffe oder auf affirmative und kritische Texte (Biografien, Grabinschriften, Gelehrtenspott).
Aber kommen wir zur 'Habenseite' des Werks. Die verschiedenen Beiträge, jeweils mit ausführlichen Anmerkungen und Literaturverzeichnis, sind in chronologischer Folge angeordnet. Andreas Luther behandelt die antike (weitgehend legendarische) Überlieferung zu Chilon von Sparta, einem der so genannten Sieben Weisen. Dies spielt auch in die Kontroversen um die frühe Verfassung Spartas hinein, da Chilon als Schöpfer des Ephorats galt, das somit eine relativ späte Einrichtung darstellen würde. Luther ist hier skeptisch und neigt der Ansicht zu, dass die Spartaner noch im 5. Jahrhundert mit der übrigen Verfassung auch das Ephorat fraglos auf den mythischen Gesetzgeber Lykurg zurückführten. Heinrich Schlange-Schöningen beschäftigt sich mit der Stellung früher Philosophen und Sophisten zu Verdienst und Reichtum sowie mit ihrer gesellschaftlichen Herkunft. Dabei wird auch in dieser Hinsicht die Sonderstellung des Sokrates deutlich, der als erster Philosoph einen Handwerker zum Vater hatte und das Ideal materieller Bedürfnislosigkeit propagierte.
Kay Ehling stellt die 'gelehrten Freunde' der Seleukidenkönige vor und gibt in diesem Zusammenhang auch einen kurzem Forschungsüberblick zum Phänomen der hellenistischen philoi. Anschließend diskutiert er die Nachrichten über am Hof von Antiochia wirkende Dichter, Geografen, Historiker, Philosophen und Ärzte (die hier von diesen 'Fachrichtungen' die bedeutendste Rolle spielten). Dass allerdings schon Isokrates gefordert habe, "Gelehrte" in die Schar der königlichen Freunde zu berufen, ist eine problematische Aufstellung, namentlich vor dem Hintergrund fehlender begrifflicher Klärungen (siehe oben). Ehling kann sich dabei nur auf eine Stelle in der Rede Ad Nicoclem stützen (43, 45), wo von (Dichtern und) "Sophisten" die Rede ist, womit bei Isokrates sicher Redner beziehungsweise Redelehrer gemeint sind. Udo Hartmann widmet sich in einem besonders materialreichen Beitrag den griechischen Philosophen, die in die Verbannung gehen mussten, vom 5. Jahrhundert vor Christus bis in justinianische Zeit.
Den Übergang in die römische Zeit bilden Stephan Schmals Überlegungen zu Politik und Geschichtsschreibung am Beispiel von Cato, Sallust und Tacitus. Dass auch ersterer, der übrigens das Zensorenamt nicht von 184 "bis zu seinem Tod 149" bekleidete, sondern nur die üblichen 18 Monate 184/83, als 'Gelehrter' vereinnahmt werden soll, und zwar in dem Sinn, "daß seine Schriften auf der Höhe der Zeit waren" (88), stört dabei. Markiert er nicht eher die römische Geringschätzung jenes Primats der Theorie, der, wenn überhaupt irgendetwas, den eigentlichen Gelehrten ausmacht? Cornelius Motschmann behandelt die "Gelehrsamkeit in der römischen Verssatire" und versucht dabei, auf wenigen Seiten einen Bogen von Lucilius über Horaz und Persius bis zu Juvenal zu ziehen. Einzelnes, etwa Juvenals 7. Satire, die gerade nicht von echtem Bedauern geprägt ist (109), muss dabei konturenlos bleiben. Überhaupt ist der antike Gelehrtenspott - weil von wechselnden Voraussetzungen ausgehend - ein zu komplexes Thema, als dass er auf engem Raum adäquat abgehandelt werden könnte. Einer anderen Art von Kritik an (griechischer) 'Gelehrsamkeit' widmet sich Egon Flaig: Ausgehend von der römischen Abneigung gegenüber Philosophie und philosophischer Lebensweise behandelt er konkurrierende 'Habitusformen' in der Kaiserzeit, etwa die von Sophisten und Philosophen, und sucht die Kultur der so genannten Zweiten Sophistik durch soziopolitische Umbrüche in den griechischen Poleis zu erklären. Die Situation in Rom gerät dabei etwas aus dem Blick und damit die interessante Paradoxie, dass dort die später so beliebte und als "Feindin der Philosophie" in Stellung gebrachte rhetorische Bildung (im Sinne einer autonomen Technik) zur Zeit der Republik ebenso der aristokratischer Sozialisation entgegenstand (und entsprechendes Misstrauen hervorrief) wie die Philosophie (siehe etwa Sueton, de grammaticis 26,1).
Mit dem Beitrag Monika Staesches beginnt der spätantike Teil des Werkes, der - passend zum Hauptforschungsgebiet des Jubilars - am umfangreichsten ist. Sie befasst sich mit den gebildeten Frauen der römischen Oberschicht, exemplifiziert vor allem an Eudokia, Sosipatra und Hypatia. Ihre generelle Einführung in die Schulbildung der römischen Oberschicht ist allerdings nicht auf dem neuesten Stand (Friedländer et cetera). Auffallend ist auch, dass sie auf den Elementarunterricht gleich die Rhetorik folgen lässt (137), obwohl es gerade die Unterweisung beim Grammatiker (wenn auch nicht in der Öffentlichkeit) war, [1] die eine Frau zur 'litterata' machte. Werner Portmann führt biblische Anspielungen und Zitate in Athanasius' 'Geschichte der Arianer' vor und damit einen neuen Typ von 'Gelehrten', für den die literarische Gelehrsamkeit der Antike weder ein Ziel noch ein Wert an sich darstellte. Im 'mainstream' spätantiker Bildung befinden wir uns dagegen mit Harald Völkers Behandlung des Lehrer-Schüler-Verhältnisses bei Himerios und Libanios, die auch deshalb willkommen ist, weil Esterer von der Forschung bislang eher stiefmütterlich behandelt wurde. Ein Vergleich mit dem spätantiken Westen (Ausonius, Augustinus) wäre interessant gewesen. Thomas Gerhardt beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Philosophie und Herrschertum beim spätantiken Panegyriker und Philosophen Themistios, der seinen lang andauernden Erfolg am Hof von Konstantinopel mit zahlreichen Kompromissen erkaufte. Der Beitrag geht der Frage nach, wie Themistios das genannte (platonische) Thema immer wieder neu aufgriff und den machtpolitischen Realitäten anpasste.
Tankred Howe untersucht das Verhältnis von Weisheit und Demut bei Augustinus, oder konkreter: die Bedeutung des Studiums der Schrift für den christlichen Glauben. Trotz der bewussten Abkehr des Kirchenvaters von der eigenen Bildungstradition blieb er ihr doch unter anderem [2] dadurch verpflichtet, dass er Lektüre und Interpretation für die Mehrzahl der gebildeten Gläubigen für notwendig erachtete. Einen ganz anderen Typ von 'Gelehrten' behandelt Alina Soroceanu: Es geht um Schreiberinnen in christlichen Skriptorien. Der Begriff 'gelehrt' ist hier somit ganz auf seine Grundform reduziert: jemand, der eine Lehre empfangen hat. Hierfür könnte man übrigens durchaus eine spätantike Parallele anführen: auch 'litteratus' kann in der Spätantike (und im Mittelalter) jeder genannt werden, dem die 'litterae' beigebracht wurden, im Gegensatz also zum Analphabeten. [3] Soroceanus These, dass die Hochschätzung der Bibellektüre und der Produktion christlicher Codices in Frauenklöstern in eine neue, sich in der Gesellschaft verbreitende "christliche Bildungstendenz" mündete (239), ist allerdings nur schwach begründet. Ob wirklich viele Mädchen oder Frauen in monastischen Gemeinschaften lesen und schreiben lernten, die dies im 'weltlichen' Umfeld nicht getan hätten, muss wohl offen bleiben. Richtig ist, dass die Hochschätzung der Heiligen Bücher der Tätigkeit des Kopierens und Kalligrafierens eine neue Dignität verlieh, und dies auch bei Mädchen und Frauen.
Die letzten Beiträge beziehen sich auf die Zeit, als im Westen das Römische Reich und seine Traditionen schon zusammenbrachen. Hartmut Leppin beschreibt das platonische Schulhaupt Proklos und die für den spätantiken Neuplatonismus typische "Verschwisterung von Magie und Philosophie" (257), Karl Feld den ägyptischen Grammatiklehrer, Dichter und Proklos-Schüler Pamprepius, der unter Kaiser Zeno in den inneren Machtzirkel des Hofes geriet, dann aber wegen seiner offen propagierten nicht-christlichen Haltung verjagt wurde. Er nahm an einem (letztlich erfolglosen) Usurpationsversuch teil, der sich vor allem auf Ägypten stützte und bei dem er das noch immer nicht bedeutungslose, gebildete Heidentum aktivieren sollte. Stefan Krautschick und Andreas Goltz widmen sich schließlich dem Verhältnis der germanischen Oberschicht zur antiken Bildung, Ersterer bezogen auf Boethius und die Ostgoten, Letzterer mit allgemeiner Perspektive. Damit ist der Weg der antiken Gelehrsamkeit bis zu ihrem Ende verfolgt; denn in den germanischen Nachfolgestaaten hatte sie ihre frühere Bedeutung fast völlig eingebüßt.
Die Vielfalt und Verschiedenartigkeit der Beiträge ist zwar nicht durch Indizes erschlossen (zumindest ein Verzeichnis der behandelten Personen vermisst man sehr), vermittelt aber ein ebenso anschauliches wie zu weiteren Forschungen anregendes Bild der Bandbreite antiker Gelehrsamkeit, ihrer Wirkweisen und ihrer Vertreter. Der aufs Ganze gesehen mehr enzyklopädische als problemorientierte Zugang entspricht dabei - zufällig oder bewusst - dem breit gefächerten Oeuvre des Berliner Gelehrten, der durch dieses Buch geehrt wird.
Anmerkungen:
[1] Vergleiche hierzu demnächst Konrad Vössing in: Klio 86 (2004).
[2] Konrad Vössing: Saint Augustin et l'école antique - traditions et ruptures; in: Pierre-Yves Fux u.a.: Augustinus Afer. Saint Augustin: africanité et universalité. Actes du Colloque international Alger-Annaba, 1 - 7 avril 2001, Fribourg 2003, 153-166.
[3] Herbert Grundmann: Litteratus - illitteratus. Der Wandel einer Bildungsnorm vom Altertum zum Mittelalter; in: Archiv für Kulturgeschichte 40 (1958), 1-65; wieder in: ders.: Ausgewählte Aufsätze, Bd. 3: Bildung und Sprache, 1. Aufl., Stuttgart 1978, 1-66.
Konrad Vössing