Roland Kanz: Die Kunst des Capriccio. Kreativer Eigensinn in Renaissance und Barock, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2002, 419 S., 121 Abb., ISBN 978-3-422-06392-1, EUR 65,50
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In der Wissenschaft ist es bei umfangreichen Büchern durchaus angemessen, danach zu fragen, wie sie denn zu lesen seien. Es gibt Bücher hohen und bleibenden Wertes, die man eher punktuell konsultieren denn als Ganzes lesen sollte. Roland Kanz hat mit seiner Düsseldorfer Habilitationsschrift "Die Kunst des Capriccio" eine Untersuchung vorgelegt, die sich zum Nachschlagen kaum eignet, obwohl die Struktur des materialreichen Bandes aus einer langen Reihe kurzer Einzelbetrachtungen besteht. Wer dem Thema Interesse entgegenbringt, wird das Buch von Anfang bis Ende lesen müssen, denn die Originalität des Textes besteht vor allem in der Gesamtansicht, die er vermittelt. Nur wer das Buchganze überschaut, wird erkennen, wie der Verfasser in weitem Ausgriff ein Stück wissenschaftlichen Neulandes erschlossen und die Grundlinien eines vernachlässigten Problemfeldes sichtbar gemacht hat. Wer sich dagegen auf die Lektüre ausgewählter Kapitel beschränkt, wird nur hier und da auf Überraschendes stoßen, denn der Stoff, aus dem das Buch besteht, ist zu einem nicht geringen Teil bestens bekannt.
Auch im Methodischen bietet der Band auf den ersten Blick nur wenige Überraschungen. Fast immer entsprechen die Denk- und Sprachmuster den Verfahrensstandards, die sich in der jüngeren Fachdiskussion bewährt haben. Die Methodik der Interpretation favorisiert - glücklicherweise - keine der herrschenden kunstwissenschaftlichen Schulrichtungen. Die Anwendung unterschiedlichster Methoden erfolgt durchweg ebenso unprätentiös wie phänomengerecht. Aber nicht die Menge des Materials und der Gesichtspunkte (auch nicht die Sicherheit im anspruchsvollen sprachlichen Zugriff) verdient die stärkste Hervorhebung; das größte Lob verdient die argumentative Kohärenz, die Roland Kanz in der Auseinandersetzung mit einem interdisziplinär höchst anspruchsvollen Thema erzielt, indem er eine Fülle divergierender Einzelphänomene in einer übergreifenden Forschungsperspektive zusammenführt. Ein wenig zugespitzt kann man sagen: Die Kohärenz der Argumentation ist der Inkohärenz des Themas mühsam abgerungen.
Der Kunst bezogene Capriccio-Begriff, der an der Wende zum 16. Jahrhundert als Metapher für sprunghafte Kreativität und willkürliche Einfälle eingeführt und als kunsttheoretischer Begriff für Normverstöße und Novitäten weitergeführt wurde, bezieht sich auf künstlerische Tatbestände, die eine Tendenz zur Regel- und Systemlosigkeit erkennen lassen. Dem Capriccio als Prinzip und Phänomen in der europäischen Kunst ist daher mit schulmäßigen Definitionen nicht beizukommen, sondern nur mit einer historisch-systematischen Darstellung seiner Exponenten, also einer Problemgeschichte, die eine statische Definition ihres außerordentlich komplexen Gegenstandes zu vermeiden sucht. Den Problemgehalt des Capriccio als dynamische Größe im ästhetisch-kulturellen System der frühen Neuzeit erstmals im Rahmen einer Gesamtdarstellung zu erschließen, ist Aufgabe und Leistung der vorliegenden Studie. In wechselnden Formulierungen, doch in gleich bleibendem Sinne benennt Kanz immer wieder den Punkt, der für den Umriss des Themas entscheidend ist: Unter Capriccio ist "keine Gattungsbezeichnung" zu verstehen, sondern "eine ästhetische Kategorie". Dass ein solches Thema erst im Zwischenreich verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen zureichend behandelt werden kann, liegt auf der Hand. Die von Kanz eröffneten Ausblicke auf die Verwendungsgeschichte des Capriccio-Begriffs in den Bereichen Musik und Dichtung waren also von der Sache her zwingend gefordert.
Der Begriff des Capriccio (bzw. das Verbum "raccapricciare") hat einen ehrwürdigen Stammbaum, und dieser reicht weit vor die Neuzeit zurück - bis in das Zeitalter Dantes. In den Kommentaren zur "Divina Commedia" bedeutet "Capriccio" ("Haarsträuben") so viel wie Bestürzung, Schrecken, Schauder. Nachdem er die Frühgeschichte des Begriffs skizziert hat, untersucht Kanz die Theorietradition des Capriccio von Vasari über Lomazzo bis zu Passeri. Dabei zeigt sich in aller Deutlichkeit, dass die Semantik des Capriccio immer wieder dazu dient, künstlerische Ausnahmeleistungen zu exponieren, die der Wirkungsästhetik des "stupore" und der "maraviglia" zuzuordnen sind und als Erscheinungen gegenklassischer Kunst einen Kontrapunkt des Norm setzenden Akademismus darstellen. Die Kunst des Capriccio verschränkt sich daher mit dem Begriff der künstlerischen Freiheit, und sie opponiert gegen das Postulat der Naturnachahmung. Es versteht sich daher fast von selbst, dass dem Capriccio-Begriff als Vokabel barocken Kunstlobes keine unangefochtene Stellung zukommen konnte, aber im Einzelfall ist ihm durchaus eine beherrschende Position im Kunsturteil eingeräumt worden. In Passeris Traktat "Il Silenzio" (1670), das auf Grund seiner Bedeutung und Rarität von Kanz im Anhang seines Buches vollständig abgedruckt und der Forschung somit leichter zugänglich gemacht wird, heißt es: "[...] l'Arte perfetta deve esser capricciosa." In lapidarer Kürze wird das Capriccio zur Conditio sine qua non für die Vollkommenheit einer künstlerischen Leistung erhoben. Dennoch: nicht jeder fand Gefallen an den Capricci. Die Maler, die nach Lust und Laune bzw. nach Maßgabe ihrer Fantasie vorgehen ("che dipingono a suo capriccio"), werden von Bellori in seinen Künstlerviten (1672) scharf verurteilt. Der Buchgelehrte und Altertumskenner Bellori war beileibe nicht der Erste, der mit Blick auf die Capriccio-Kunst gegen ein Übermaß an künstlerischer Freiheit votierte. Bereits in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts war der Capriccio-Begriff als pejorativer Terminus der Kunstkritik verwendet worden und zwar als Kampfbegriff reformkatholischer Gefechte. Hier sei nur der früheste Belegfall angeführt: Ein anonymer Brief aus dem Jahr 1549, der sich - indirekt - auf Michelangelos römische Pietà bezieht, zählt die Figurengruppe in St. Peter zu den "capricci luterani", die Glauben und Andacht in den Schmutz ziehen.
Was unter "Capriccio" in diesen und anderen Verwendungszusammenhängen jeweils zu verstehen ist, lässt sich nicht von den begrifflichen Voraussetzungen her explizieren, sondern nur auf Grundlage der Argumente, in deren Kontext der Begriff jeweils erscheint. Indem Kanz die textlichen und historischen Zusammenhänge sorgfältig rekonstruiert, entfaltet er Schritt um Schritt das dem Begriff innewohnende Bedeutungsspektrum. Der Autor beschränkt sich aber keineswegs darauf, zwei Jahrhunderte des Schreibens und Theoretisierens über das Capriccio zusammenzufassen. Mit seiner Arbeitsweise gibt Kanz vielmehr eine Probe avancierter Renaissance- und Barockforschung, die den Theorie-Praxis-Dualismus überwunden hat. Was bei Kanz wie selbstverständlich aussieht, hat sich die Kunstgeschichte in vielen Generationen erarbeiten müssen: Kunstliteratur und Kunstpraxis werden nicht länger als relativ selbstständige Größen betrachtet, sondern in ihrer wechselseitigen Durchdringung erforscht. Wenn man will, kann man diesen Ansatz diskursgeschichtlich nennen. Im Unterschied zu dem, was üblicherweise unter dem Namen Diskursgeschichte firmiert, ist das Buch von Kanz aber gut zu lesen, und es kommt ohne die fast unvermeidlich gewordenen Abscheulichkeiten heutiger Wissenschaftsprosa aus.
Da die bisherige Forschung im Capriccio in erster Linie ein Gattungsproblem der Druckgrafik und ein Epochenproblem des 18. Jahrhunderts erblickt hat, ist es sehr verdienstvoll, dass Roland Kanz in seinem neuen Buch die wichtigsten und wirksamsten Manifestationen der Capriccio-Ästhetik in allen Bereichen der Renaissance- und Barockkunst in den Blick nimmt. Dabei steht eine derart große Zahl von Texten und Objekten zur Untersuchung an, dass die Ergebnisse hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden können. Bündiger lässt sich aufzeigen, wie Kanz exemplarische Positionen und Artefakte aus der Fülle der Überlieferung heraushebt, um dem Problemkomplex des "Kapriziösen" durch eine am konkreten Beispiel entlanggeführte Studie gerecht werden zu können. Das Problem der Beispielauswahl bestand darin, dass es für die Kunst des Capriccio nur Möglichkeiten, aber keine Bedingungen zu geben scheint. "Freilich ist das Capriccio [...] nicht durch normierte Begrifflichkeit beschreibbar und folglich auch nicht zwingend feststellbar", bekennt Kanz am Eingang des Buches (13). In aller Regel hat der Verfasser nur solche Werke in die Betrachtung einbezogen, die in ihrer Entstehungsepoche mit dem Capriccio-Begriff in Verbindung gebracht worden sind. Dass ein Kunstwerk an der ästhetischen Kategorie des Capriccio partizipieren kann, ohne dass die unmittelbare Mit- und Nachwelt ihm das Prädikat 'Capriccio' in einer heute nachzuweisenden Form verliehen hat, weiß Kanz natürlich, und an verschiedenen Stellen seiner Untersuchung spielt dieser Gedanke auch eine Rolle. Trotzdem bleibt als Desiderat bestehen, das Verhältnis von Capriccio-Begriff und Capriccio-Korpus näher zu bestimmen. Auch lässt Kanz die Frage unbeantwortet, weshalb die Kunstliteratur der frühen Neuzeit kein Interesse an der begrifflichen Darstellung des formalen, funktionalen und inhaltlichen Variantenreichtums des Capriccio gezeigt hat.
Im Verhältnis zu anderen Schauplätzen der europäischen Kulturgeographie wird Italien als Ursprungsland der Capriccio-Ästhetik von Kanz einseitig favorisiert. Eine Untersuchung des Capriccio kann in solcher Beschränkung nicht vollständig gelingen. Da aber nun die Grundlinien des Problemfeldes zutreffend gezeichnet sind, ist die Erweiterung der Perspektive auf Frankreich, die Niederlande, Spanien und die slawischen Länder Ost- und Südosteuropas nur noch eine Sache des Fleißes. Hier werden andere nachhelfen.
Marcus Kiefer