Karin H. Grimme (Hg.): Aus Widersprüchen zusammengesetzt. Das Tagebuch der Gertrud Bleichröder aus dem Jahr 1888, Köln: DuMont 2002, 189 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-8321-7819-2, EUR 14,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Rüdiger vom Bruch (Hg.): Die Berliner Universität im Kontext der deutschen Universitätslandschaft nach 1800, um 1860 und um 1910, München: Oldenbourg 2010
Lars Lehmann: "Das Europa der Universitäten". Die Europäische Rektorenkonferenz und die internationale Politik 1955-1975, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2021
Anne Rohstock: Von der "Ordinarienuniversität" zur "Revolutionszentrale"? Hochschulreform und Hochschulrevolte in Bayern und Hessen 1957-1976, München: Oldenbourg 2010
Gertrud Bleichröder, 23 Jahre alte, noch unverheiratete Tochter einer großbürgerlichen, jüdischen Bankiersfamilie, führte während einiger Monate des Jahres 1888 Tagebuch. Dabei handelte es sich nicht um Anfänge schriftstellerischer Ambitionen oder den Versuch, den Alltag, das gesellschaftliche und politische Leben schreibend zu durchdringen. Es war auch keine sentimentalische Selbstbespiegelung, obwohl sie dieses Tagebuch auf Anraten eines Freundes begann, um in einer späteren Zukunft sich vergewissern zu können, "wie man früher zu Eltern gestanden hat und Duldung und Teilnahme für neue Ideen verlangt, was man später aller Wahrscheinlichkeit nach wieder andern verweigern wird" (74). Meist sind es kurze Notizen, oft in unvollständigen Sätzen, mit denen die Autorin knapp ihre Beschäftigung und die Begegnungen des jeweiligen Tages festhält, Stichworte zu ihrem Alltag. Nur gelegentlich sind ausführlichere Beschreibungen oder Reflexionen enthalten. Diese gehen jedoch nicht über das rein Persönliche hinaus. Gertrud Bleichröder schreibt nichts über Geld, Vermögen, das Bankhaus des Vaters. Politische Themen, auch der Tod Kaiser Wilhelms und die kurze Regierung Friedrichs III., werden erwähnt, doch auch dies geschieht mehr nebenbei. All dies ist nicht der Gegenstand dieses Tagebuchs, sondern fließt als Hintergrund ihres Lebens mit ein. Das Tagebuch Gertrud Bleichröders gibt Einblick in den Alltag einer jungen Frau des Großbürgertums, in ihr Selbstverständnis und ihre Zukunftshoffnungen. Das Rollenbild wird sichtbar, das von ihr erwartet, hübsch und charmant, eine gute Gesellschafterin und anregende Plauderin, belesen, gebildet, doch nicht allzu kritisch zu sein. Deutlich wird auch der Umgang der jungen Frau mit diesem Rollenbild, das sie trotz mancher kritischen Äußerung nicht grundsätzlich infrage stellt, sondern vielmehr mit sich hadert, wenn sie ihm nur ungenügend entspricht (zum Beispiel 35).
Das Tagebuch ist damit eine aufschlussreiche Quelle, zumal Selbstzeugnisse dieser Art selten sind und noch seltener gedruckt vorliegen. Es ist allerdings nur ein kurzes Schlaglicht auf ihr Leben, das Gertrud Bleichröder mit ihrem Tagebuch hinterlassen hat, denn mit sechzig Druckseiten ist es nicht sehr umfangreich. Die übrigen zwei Drittel des optisch und grafisch sehr aufwändig und ansprechend gestalteten Bandes nehmen zum Großteil die erläuternden und kommentierenden Texte ein. Warum zudem noch eine fiktionale Erzählung beigegeben ist, deren Verbindung zu Gertrud Bleichröders Aufzeichnungen allein darin besteht, dass auch hier ein Tagebuch vorkommt und die zudem nicht durch besondere literarische Qualität einnehmen kann, bleibt das Geheimnis der Herausgeberin.
Der Band aus der Reihe "Zeitzeugnisse aus dem Jüdischen Museum Berlin" will vor allem einen Beitrag zur jüdischen Erinnerungskultur leisten. Deutlich ausgesprochen wird dies im Abschnitt über die "Geschichte des Tagebuchs" (151 ff). Hier erfährt der Leser, dass Gertrud Bleichröders Sohn die Aufzeichnungen seiner Mutter 1938 mit ins Emigrationsgepäck nahm und dass ihre Enkelin sie dann dem Jüdischen Museum vermachte, zusammen mit vielen Erzählungen und Anekdoten aus dem Leben ihrer Kindheit in Berlin. Auch die erläuternden Texte der Herausgeberin sind wohl primär als Elemente der Erinnerungskultur zu verstehen, als der Versuch also, die vergangene Welt dieser Familie schriftlich wieder aufleben zu lassen. So erschließt Grimme den weitläufigen Verwandten- und Bekanntenkreis Gertrud Bleichröders, die vielen, von ihr oft nur genannten Personen, und trägt auch alles irgend Erfahrbare aus ihrem Leben zusammen. Die Wohnverhältnisse etwa werden rekonstruiert bis hin zur Beschreibung von Einzelstücken der Einrichtung. Bei der Beschreibung des Einzelfalles bleibt Grimme dann allerdings stehen, geht also über die Ebene der Erinnerungskultur nicht hinaus, sie erschließt die Quelle nicht im Lichte der Forschung zum Bürgertum, zu bürgerlichem Lebensstil, zu Alltag, Geselligkeit und zur Rolle der Frau. All diese mittlerweile recht umfangreiche Literatur wird kaum zur Kenntnis genommen, was wohl daran liegt, dass Gertrud Bleichröders Tagebuch als Zeugnis jüdischen großbürgerlichen Lebens, in erster Linie eben aber jüdischen Lebens aufgefasst und gedeutet wird. Ihr Judentum ist daher der Zentralpunkt, auf den Grimme alles zurückführt. Diese Deutung ergibt sich allerdings wohl hauptsächlich aus dem erwähnten Kontext. Das Tagebuch selbst jedenfalls stützt sie eher nicht. Dass sie Jüdin ist, stellt für Gertrud Bleichröder eine selbstverständliche Komponente ihrer Existenz dar, es gibt aber keinen Hinweis, dass es der zentrale Bezugspunkt war. Den aufkeimenden Antisemitismus nimmt sie durchaus wahr, gleich in der ersten Eintragung erwähnt sie ein Tischgespräch über dieses Thema (21). Dabei stellt sie sich selbst als Verfechterin der "Toleranzidee" vor. Sie plädiert für die Integration und wendet sich gegen eine Abschließung der Juden von der übrigen Gesellschaft. Im Weiteren kommt ihre Zugehörigkeit zum Judentum kaum vor. Das Milieu, in dem sie sich bewegt, ist nicht ausschließlich jüdisch, sondern vor allem (groß-)bürgerlich, selbst wenn ein Großteil der Bekannten und häufig weitläufig Verwandten, die "ihre Kreise" bilden, selbst dem Judentum angehören. Jüdische Rituale erwähnt sie nicht, sie spielen hier offenbar ebenso wenig eine Rolle wie Glaubensfragen. Trotzdem erwartet ihr Vater, der Bankier Julius Bleichröder, Bruder des weitaus reicheren und berühmteren Gerson Bleichröder, dass seine Kinder wiederum Juden heiraten. Sie selber wird sich auch daran halten, wird den von ihren Eltern für sie bestimmten Paul Arons akzeptieren, der einer befreundeten und weitläufig verwandten Familie entstammt, das Bankhaus der Familie Arons übernehmen wird und dessen älterer Bruder Leo mit Gertruds Schwester Johanna verheiratet ist. Eine andere Schwester vermählt sich jedoch 1889 trotz anfänglicher Bedenken des Vaters mit einem Christen. Das ändert nichts an, ja, es entspricht vielmehr einer in erster Linie bürgerlichen, großbürgerlichen Identität. Lebensstil, Denkweise und politische Anschauungen sind diejenigen des Bürgertums insgesamt und zeigen insofern aufs Neue, wie wenig lebensweltliche Differenzen in dieser sozialen Schicht zwischen den religiösen Bekenntnissen bestanden. Das wird jedoch durch das Vorwort von Monika Richarz und den Herausgeberkommentar von Karin H. Grimme eher zugedeckt. Beide sehen im Judentum Gertrud Bleichröders Zentrum und Angelpunkt ihrer Existenz und binden alles und jedes hieran zurück, selbst einen Opernbesuch. "Sie besuchte mehrere Opern des trotz seines bekannten Antisemitismus populären Richard Wagner" (93), heißt es da etwa. Dass sie vorher mit der Mutter das Libretto las, ist dann auch nicht Ausdruck von einem bildungsbürgerlichen Bemühen, die Oper besser zu verstehen, sondern wird als Absage an Wagner gedeutet: Sie habe sich "allerdings mehr auf den Text als auf die Musik der Opern" konzentriert (93). Das ist schon von der Idee her unwahrscheinlich und widerspricht den ganz üblichen bildungsbürgerlichen Usancen zur Vorbereitung und Begleitung eines Bildungserlebnisses. Im Gegenteil machte man sich mit dem Text vorher vertraut, um dem Fortgang dem Handlung während der Aufführung weniger Aufmerksamkeit widmen zu müssen und sich umso intensiver auf die Musik und die Inszenierung konzentrieren zu können. Grimmes Deutung widerspricht zudem Gertruds auf der ersten Seite des Tagebuchs gemachten Absage an eine Abschließung der Juden vom Rest der Gesellschaft. Wenn man ihre Äußerung ernst nimmt, darf man davon ausgehen, dass sie zwischen den politischen Äußerungen eines Komponisten und seiner Musik unterschied, dass sie Wagners Opern schätzen konnte und seine antisemitischen Äußerungen gleichzeitig ablehnen und verurteilen. Vielleicht war es ihr noch nicht einmal wichtig; im Zusammenhang mit dem Opernbesuch ist Wagners politische Haltung für sie jedenfalls kein Thema.
Die ausschließliche Fixierung auf das Judentum Gertrud Bleichröders ist damit weniger ein Schlüssel zum Verständnis des Tagebuchs und seiner Schreiberin, als dass sie den Blick auf dieses Leben, seinen Alltag, dessen Bedingungen und Beschränkungen verstellt oder zumindest einengt. Das schränkt allerdings den Wert der Quelle nicht ein, es lässt vielmehr hoffen, dass sie nicht nur als Quelle für das Judentum in Deutschland gelesen, sondern auch von der allgemeinen Bürgertums-, Alltags- oder Frauenforschung wahrgenommen wird.
Barbara Wolbring