David Bankier / Israel Gutman (eds.): Nazi Europe and the Final Solution, Jerusalem: Yad Vashem 2003, 572 S., ISBN 978-965-308-163-5, USD 49,00
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Die israelische Forschungs- und Gedenkstätte Yad Vashem gehört zu den wenigen Institutionen, die seit Jahrzehnten regelmäßig internationale Konferenzen zur europäischen Geschichte unter dem Nationalsozialismus abhalten. Der neueste Band, der auf den Vorträgen eines Forschertreffens in Warschau 1999 beruht, geht ein besonders schwieriges Thema an: die Reaktion der Gesellschaften in Europa auf den Massenmord an den Juden.
Die Ansätze der Autoren sind recht verschiedenartig gewählt: von der Analyse der zugelassenen wie der illegalen Presse über die Rolle von Kommunalverwaltungen und Berufsorganisationen, die "Volksmeinung" bis hin zur Einstellung der Untergrundbewegungen und Exilregierungen. Freilich gestalteten sich schon die Rahmenbedingungen sehr unterschiedlich: Die Einwohner des Reiches waren von der NS-Führung als "Herrenvolk" auserkoren, in den Achsenstaaten herrschten andere Bedingungen als im besetzten Europa, wo wiederum deutliche Unterschiede zwischen den polnisch / sowjetischen Gebieten, Südosteuropa und den west- und nordeuropäischen Staaten offensichtlich sind.
Deutlich wird auch, dass der Forschungsstand für die einzelnen Länder sehr ungleich entwickelt ist. In der Sektion zum Deutschen Reich überrascht der Herausgeber David Bankier mit seinem Beitrag über die deutsche Presse, die zwar in verklausulierter Form, aber doch viel öfter über die europaweite Judenverfolgung berichtete, als man dies bisher wusste. Michael Wildt zeigt die Kontinuität der Boykottmaßnahmen gegen jüdische Geschäfte vor Ort auf der Basis der Akten des Centralvereins. Die Drangsalierung vor Ort hörte nach dem reichsweiten Boykott im Jahr 1933 nicht auf und war immer wieder von physischer Gewalt begleitet. Allein Trude Maurer thematisiert die alltäglichen Kontakte zwischen Juden und Christen unter den Bedingungen der Verfolgung. Beate Kosmala resümiert die Ergebnisse eines Forschungsprojektes über Retter untergetauchter Juden in Berlin: Die Motive der Retter erscheinen nach der empirischen Bestandsaufnahme noch weniger eindeutig als bisher.
Ein ähnlich hohes Niveau lässt sich den Artikeln über Westeuropa attestieren. Vicky Caron relativiert die Ansicht, der Antisemitismus unter den Franzosen sei 1942 wegen der Deportationen deutlich geschwunden. An den mittelständischen Berufsorganisationen zeigt sie die Kontinuität antisemitischer Ideen von den dreißigern bis Ende (!) der Vierzigerjahre. Auch die Analyse der Verhältnisse in Belgien macht klar, dass die immer wieder hervorgehobene dortige Solidarität vieler Nichtjuden mit den Verfolgten nur eine Seite der Medaille war. Die Entwicklung in Italien, mit seiner vergleichsweise kleinen jüdischen Gemeinde, wird erneut mit Blick auf die "klassischen", am heftigsten debattierten Aspekte untersucht: der Antisemitismus in der faschistischen Politik und das Verhalten der Kirche angesichts der Verfolgungen.
Die Beiträge zu Osteuropa sind deutlich gröber strukturiert. So wird zur polnischen Situation ein Bild gezeichnet, wie es früher die Diskussion bestimmte. Die Konferenz hat weder die Impulse der Jedwabne-Debatte noch die bahnbrechenden Forschungen von Gunnar Paulsson zu den polnischen Rettern aufnehmen können. Den ersten Gesamtüberblick über das Verhalten der Einwohner in den besetzten sowjetischen Gebieten überhaupt gibt Yitzhak Arad. Mit regionalem Fokus nähert sich Daniel Romanovsky den Einstellungen der Bevölkerung im östlichen Weißrussland, die teilweise durch die antisemitische Rezeption stalinistischer Verfolgung, teilweise aber durch antikapitalistische Ressentiments gegen Juden geprägt blieben. Dagegen wirken die Artikel zu Litauen und zur Ukraine deutlich konventioneller. Die Beiträge über die Tschechoslowakei konzentrieren sich mehr auf die Verfolgungsgeschichte, deuten aber zugleich die Komplexität der "Arisierung" in diesen Gebieten an, von der überwiegend staatliche Stellen, kaum aber Durchschnittsbürger profitierten. Jean Ancel erörtert die bisher unbekannte Rolle der oppositionellen Parteiführer in Rumänien. Diese nahmen die Massenmorde im Sinne einer pervertierten "patriotischen Zurückhaltung" 1941 zunächst hin und intervenierten dann erfolgreich im August 1942, waren dabei allerdings tunlichst um die Verwischung aller Spuren einer rumänischen Mitarbeit an den Verbrechen bemüht.
Insgesamt gibt der Band einen breiten Überblick über die "bystander"-Forschung bis in die 90er-Jahre, die immer wieder zwischen den Kategorien Rettung - Apathie - Indifferenz - passive Komplizenschaft - Kollaboration oszilliert, ohne dass genaue Quantifizierungen möglich wären. Nahezu allen Gesellschaften gemeinsam war die Vorstellung, die Juden als gesonderte Bevölkerungsgruppe zu sehen; Besatzung und Propaganda verstärkten diesen Eindruck massiv.
Der Band zeigt aber auch die Grenzen bisheriger Ansätze. Während für Westeuropa und das Reich zahlreiche Lokalstudien vorliegen, fehlen diese weitgehend für die Schauplätze des Massenmords. Stärker als bisher wird man wohl die zentrale Frage untersuchen müssen, ob die Kontinuität antisemitischer Strömungen aus den Dreißigerjahren im Krieg gebrochen wurde. Überhaupt bleibt die Einbettung in die jeweilige Gesellschaftsgeschichte von großer Bedeutung. Erst neuerdings rückt dabei ein zentraler Aspekt ins Visier: der Anteil der Einheimischen, auch der Auslandsdeutschen, an der Beraubung der Juden. Für die Kriegszeit fehlt es einerseits an Mikrostudien, die die Beziehungen von Juden und Nichtjuden vor Ort plastisch deutlich machen, andererseits an vergleichenden Untersuchungen, in denen die jeweils regional und sektoral spezifischen Eigenheiten dieser Beziehungen zu Tage treten. Bedenkt man den hohen Stellenwert, den gerade das moralische Verhalten der Kriegsgeneration in der heutigen Identität vieler Gesellschaften hat, so ist eine gesteigerte Intensität der Forschung auf diesem Feld in den nächsten Jahren zu erwarten. Als Bestandsaufnahme und als Ausgangspunkt für eine Vielzahl neuer Untersuchungen kann dem Buch deshalb bleibende Bedeutung zugesprochen werden.
Dieter Pohl