Christian Kiening: Das andere Selbst. Figuren des Todes an der Schwelle zur Neuzeit, München: Wilhelm Fink 2003, 262 S., 10 Farb-, 107 s/w-Abb., ISBN 978-3-7705-3819-5, EUR 29,90
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Christian Kiening ist Professor für ältere deutsche Literatur an der Universität Zürich. Ein Blick auf seine umfangreiche Publikationsliste verrät seine Vertrautheit mit kulturanthropologischen Fragestellungen und Methoden. Insofern fügt sich das Thema des Buches nahtlos ein: Es behandelt Repräsentationen des Todes in der Frühen Neuzeit, genauer: im Zeitraum von etwa 1500 bis 1550. Allerdings liegt der Schwerpunkt unübersehbar auf den bildlichen Repräsentationen. Wenn ein Historiker oder Literaturwissenschaftler sich den Bildern zuwendet, verschärft sich der Blick des Kunsthistorikers automatisch auf das Methodische: Werden die Bilder am Ende nur illustrativ eingesetzt oder in platter Analogie zu literarischen Texten? In seinem Einführungskapitel demonstriert Kiening, wie vertraut er mit den Diskursen einer Kulturwissenschaft ist, die ihre Lehren aus dem Poststrukturalismus und dessen Angriffen auf eine zu unproblematische Korrelation zwischen Kunstwerken und Geschichte gezogen hat. Deutlich unterscheidet er seine Untersuchung ausgewählter literarischer Texte und künstlerischer Bilder, also verdichteten und im Zustand der Verhandlung begriffenen symbolischen Materials, von der mentalitätsgeschichtlichen Historie des Todes, die sich aus guten Gründen vorrangig "Quellen eher serieller Art" (14) gewidmet hatte. Eine zeitlich eng begrenzte Reflexionsgeschichte des Todes ist es also, die Kiening schreiben möchte und dabei ist er sich auch der Differenz sehr bewusst, die zwischen literarischen Texten und Bildern noch klafft; er unterscheidet die "explizite Thematisierung" (20) durch die Literatur von der "bildspezifische[n] Ambiguisierung" (20).
Was dann erarbeitet wird, ist vielleicht weniger eine "Geschichte" der Reflexion des Todes in dem Sinne, dass deutlich sich abzeichnende Veränderungen nachverfolgt würden (obgleich dies hin und wieder ansatzweise möglich wird), sondern - entsprechend der Fokussierung auf ein enges Zeitfenster - eher eine Art Profil, ein synchroner Schnitt durch das symbolische Gefüge der Zeit in seiner Beziehung zum tradierten heilsgeschichtlichen Rahmen des Mittelalters und zu neuen Diskursen und Problemfeldern innerhalb dieser "Schwellenzeit", die nach Kiening durchaus so genannt werden darf, insofern sie sich selbst als eine solche wahrnimmt.
Was den Tod in seinen Repräsentationen so besonders macht, ist seine grundlegende Undarstellbarkeit. Der Tod ist etwas Abstraktes, eine Negation, ein Wendepunkt. Die verschiedenen Bilder des Todes können alle nur approximative Versuche sein angesichts dessen, was die Negation des Lebens und seiner Formen, eben das "Andere", sein soll. In diesem Zusammenhang verweist Kiening auch auf die mehrfache Bedeutung des Wortes "Figur", sowohl in Handlungs- wie auch in rhetorischen Zusammenhängen, die allesamt für die Strategien der Todesrepräsentation Gültigkeit beanspruchen können. Kadaver, die als Handelnde auftreten, können immer nur metonymische Verweise auf den Tod sein und ihre genaue Funktion bleibt häufig unklar: Sind sie Spiegelbilder der mit ihnen dargestellten Menschen, die Exekutive des Todes oder tatsächlich Personifikationen des Abstraktums, die sich zum Dialog einstellen? Viele frühneuzeitliche Darstellungen verweigern sich einer Vereindeutigung auch nur dieser Pluralisierung, geschweige denn einer einsinnigen Aussage zum Tod. Repräsentationen des Todes in der frühesten Neuzeit, so eine zentrale Erkenntnis Kienings, haben zwar den heilsgeschichtlichen Rahmen des Mittelalters nicht ganz verloren, bleiben aber oft so ambig, dass das Augenmerk von der Botschaft zum Repräsentationszusammenhang selbst gelenkt wird und neue Fragen auftreten, die das Wesen des Todes selbst und die Mittel seiner Denk- und Darstellbarkeit ins Zentrum stellen. Figuren des Todes tragen ihre Zeichenhaftigkeit, ihre "Differenz zwischen Erscheinung und Sache" (20) immer mit sich herum und stellen dem Betrachter unangenehme Fragen, auch zu den "Technologien des Selbst" (nach Foucault) und der Konstruktion von Alterität allgemein. Damit versteht Kiening die Schwellenzeit, in der "Sinnformationen neu ausgehandelt" (24) werden, als eine Vorgeschichte des modernen Umgangs mit dem Tod.
Kiening beginnt seine Analysen mit einem Predigtzyklus des Geiler von Kaysersberg aus dem Jahre 1495. Dessen figurative Arbeit an einem äußerst artifiziellen und sich ständig absichtlich defigurierenden Todesbild im Medium des Textes öffnet dem Leser die Augen für die Strategien der Uneigentlichkeit und das Bewusstsein für die Paradoxa der Repräsentation, zu denen diese Epoche bereits fähig war, wenn auch bei Geiler noch an eine klare soteriologischen Stoßrichtung gekoppelt.
Der Totentanz des Niklaus Manuel Deutsch in Bern, der nur noch über Kopien des 17. Jahrhunderts zu erschließen ist, steht im Mittelpunkt des 2. Kapitels, das neben der ubiquitären Reflexion über die Darstellung des Undarstellbaren vor allem das Verhältnis von Gesellschaftlich-Imaginärem und den sozialen Strukturen der Gesellschaft beleuchtet. Überzeugend wird in der Analyse dargelegt, wie das hierarchische Ordnungsprinzip sichtbar in Frage gestellt und gleichzeitig durch die implizite Funktion als Portraitgalerie verdienter Zeitgenossen affirmiert wird. Wie bei den meisten anderen Bildbesprechungen schärft Kiening auch hier das Auge für die experimentelle Selbstbespiegelung, die eine Gesellschaft im Wandel und auf der Suche nach einer Identität vollzieht. Die wichtigen Diskurse der Zeit spielen wie selbstverständlich in die Darstellung des Todes hinein, Fragen von Macht, Begehren und immer wieder die Problematik einer Grenzziehung gegen das Andere durchziehen die Bildwelten, so auch die Beispiele weiterer Kapitel, die auf den Söldner und die begehrenswerte Frau als beliebte Figuren in Todesbildern fokussieren. Niklaus Manuel Deutsch, wie Urs Graf als malender "Reisläufer" ein besonders interessanter Fall, setzt sich selbst in seinen Totentanz hinein und zwar als im Malvorgang der menschlichen Figuren begriffen. Hier ist das Spiel mit dem Verhältnis von Modi der Repräsentation und deren Negation auf die Spitze getrieben; die propagierte Vergänglichkeit eines jeden tritt mit künstlerischer Imaginations- und Überzeugungskraft in eine Spirale der gegenseitigen Übertrumpfung. Gerade an dieser für seine Fragestellungen so prägnanten Stelle bleibt Kiening nicht nur unzureichend kurz angebunden, sondern macht einen kleinen Fehler, der möglicherweise daher rührt, dass er eben kein Kunsthistoriker ist. Der Tod, so Kiening, versuche mit einem Stock, dem Maler den Pinsel "abzulenken oder herabzuziehen" (64). Tatsächlich ist der dargestellte Stock aber keine Waffe des Todes, sondern ein übliches Hilfsmittel der Malerei und es scheint angemessener, hier eher oder zumindest auch eine subtile Einflussnahme zu erkennen, sodass es zu einer unbemerkten grausigen Zusammenarbeit kommt.
Dass innerbildliche Reflexionen über den Tod und seine Darstellung nicht unisono funktionieren, beweist Kiening äußerst anschaulich durch eine subtile Rekonstruktion gegenseitiger Bezugnahmen, Verschiebungen und vielleicht auch Kritik zwischen Dürer und seinem ehemaligen Schüler Hans Baldung Grien, der als pessimistischer und innerweltlicher erkennbar wird. Ein weiteres Kapitel fasst die zunehmende Privatisierung der Bilder ins Auge, die als Korrelat ihrer zunehmend auf gelehrte Individuen zugeschnittenen Appellstruktur begriffen werden kann. Besonders interessant sind die Überlegungen zu Holbeins "Gesandten" und seinen illustrierten Initialen mit Totentanzmotiven. In beiden Fällen drängt ein "Entweder-oder" der Register von Tod und Leben die Frage nach der Möglichkeit einer Perspektive auf den Tod inmitten des Lebens auf.
Den Abschluss bildet der "Triumph des Todes" von Pieter Bruegel dem Älteren im Prado, der noch einmal viele zentrale Fragen der vorherigen Kapitel in sich schließt und einen Anschluss bietet für einen Exkurs in die Moderne, zu Ingmar Bergmans Film "Das siebente Siegel". Die Ähnlichkeiten sind durchaus frappierend und auch hier überzeugt Kienings Interpretation, aber gerade für seine zentrale These von der Vorgeschichte des modernen Todesbewusstseins erweist sich ein einziges Beispiel, das zudem in einem mittelalterlichen Setting spielt und dessen Motive gebraucht, als zweischneidiges Schwert. Eine mehr strukturelle Analogie bei inhaltlicher Verschiedenheit wäre hier vielleicht ein stärkeres Argument gewesen.
Die vorliegende Studie befindet sich unzweifelhaft auf der Höhe der einschlägigen kulturwissenschaftlichen Theorien und appliziert diese mit dem gebotenen Augenmaß. Es ist schwer abzuschätzen, wie viele Kunsthistoriker in der Lage gewesen wären, mit diesem Background an solche Bilder heranzutreten und das Ergebnis ist dementsprechend aufschlussreich, und zwar für Kunsthistoriker, Kulturanthropologen und Historiker gleichermaßen. Besonders erfreulich ist der erkennbare Wille und die Lust daran, das Bild mit seinen spezifischen Strategien der Sinnproduktion ernst zu nehmen.
Marius Rimmele