Rezension über:

Marian Zgórniak: Europa am Abgrund - 1938 (= Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen; Bd. 100), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2002, 376 S., ISBN 978-3-8258-6062-2, EUR 29,90
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Rezension von:
Hans-Erich Volkmann
Buchenbach
Redaktionelle Betreuung:
Winfried Irgang
Empfohlene Zitierweise:
Hans-Erich Volkmann: Rezension von: Marian Zgórniak: Europa am Abgrund - 1938, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2002, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 1 [15.01.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/01/4884.html


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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Marian Zgórniak: Europa am Abgrund - 1938

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Marian Zgórniak lehrt an der Universität Krakau Allgemeine Geschichte mit Schwerpunkt Militärgeschichte. Er zählt zu jenen polnischen Historikern, die schon während des kommunistischen Regimes intensive wissenschaftliche Westkontakte pflegten, auf Grund derer er Bestände bedeutsamer Archive und Spezialbibliotheken einsehen konnte, so des Bundesarchiv-Militärarchivs und des Piłsudski-Institutes in den USA. Die für das Thema seines Buches eine Schlüsselfunktion besitzenden Archive Frankreichs, Großbritanniens, der Sowjetunion und südosteuropäischer Staaten öffneten ihm ihre Pforten allerdings nicht. Seine Monografie beruht auf zwei bereits 1966 und 1979 in polnischer Sprache publizierten Studien und wird von ihm als deren "ergänzte und verbesserte Auflage" verstanden. Der Text vermag denn auch den Zeitgeist seiner Genese nicht ganz zu verbergen, und dies sowohl in thematischer Ausrichtung wie in historiographischer Urteilsfindung. So wird beispielsweise die in der so genannten bürgerlichen Geschichtswissenschaft unbestrittene Charakterisierung der III. Internationale als "gehorsames Werkzeug Moskaus" als nationalsozialistische Propagandaformel zurückgewiesen. Insgesamt aber hat sich der Autor wie zahlreiche andere renommierte polnische Historiker bemüht, sich ungeachtet gültiger marxistischer Doktrin einen wissenschaftlichen Freiraum mit internationalem Standard zu schaffen. Dabei trat, so auch hier, die Problemorientierung bisweilen hinter die Faktographie zurück. Die Fülle des in der Schrift zusammengetragenen Materials beruht im Wesentlichen auf der Grundlage fremdsprachiger Literatur, wobei der polyglotte Autor seine entsprechende Qualifikation zur Komparatistik für eine klassische europäische Diplomatiegeschichte unter Einschluss militärgeschichtlicher Aspekte nutzte.

Zgórniak versteht es, fokussiert auf das Jahr 1938, das auf machtpolitischer Ranküne und militärischem Druck beruhende Netzwerk intereuropäischer Aktion der Zwischenkriegszeit, in das Deutschland in bändigender Absicht verstrickt werden sollte, sichtbar vor dem Leser auszubreiten. Dabei markiert er gleichzeitig die Schwachstellen dieses ohnehin fragmentarischen Bündnisgefüges, die dann Hitler rücksichtslos zur Restitution ehemaliger Reichsgrenzen und darüber hinausgehender territorialer Arrondierung nutzte. Zugute kam diesem dabei die komplizierte und fragile außenpolitische Gemengelage, zum einen bestimmt von der die französischen Bemühungen um eine Stabilisierung des Versailler Systems konterkarierenden britischen Appeasement-Politik und zum anderen von den rüstungsökonomischen Defiziten einer potenziellen Anti-Hitler-Koalition. Letztlich aber waren es die nationalen Egoismen vor allem der jungen Staaten Ostmittel- und Südosteuropas in zumeist umstrittenen Grenzen mit in der Regel großen nationalen Minderheiten als Unruheherde, die den Hitler zum Vorteil gereichenden Zustand außenpolitischer Labilität in Europa schufen. Die immensen deutschen Aufrüstungsanstrengungen vor Augen, von einer geschickten Propaganda noch in ihrer Eindrücklichkeit potenziert, griff in ganz Europa die Überzeugung Platz, die Versailler Ordnung werde sich letztendlich nicht aufrechterhalten lassen, ja sie bedürfe geradezu der Korrekturen, wobei es nun für die einzelnen Staaten darauf ankam, auf der Seite des Stärkeren in der Auseinandersetzung zwischen Frankreich und Deutschland - darauf würde der Konflikt, so die weit verbreitete Ansicht, hinauslaufen - die eigenen Interessen zu vertreten und durchzusetzen.

Österreich und der Tschechoslowakei bot sich keine Chance, Verbündete zu finden. Das Krisenjahr 1938, dies sieht der Verfasser ganz richtig, ist weniger durch die militärische Aggressivität des NS-Regimes als durch die Unfähigkeit der europäischen Politik, in Sonderheit der ostmitteleuropäischen Staaten, zu gemeinsamem Handeln verursacht worden. Und in diesem Kontext hätte man auf die bilateralen polnisch-tschechoslowakischen Beziehungen näher eingehen können, um einer verständlichen Erwartungshaltung des Lesers gegenüber einem polnischen Historiker zu entsprechen. Schließlich bildete das latente, durch territoriale Ansprüche und hegemoniales Konkurrenzdenken belastete polnisch-tschechoslowakische Verhältnis eine der wesentlichen Präliminarien Hitler'scher Annexionspolitik. Die Problematik wird in knapper Form angeschnitten, ohne dass der eigentliche Hintergrund polnischer außenpolitischer Intentionen aufgehellt würde. Die lapidare Feststellung, Polen habe sich in der tschechoslowakischen Krise "unentschieden" verhalten, befriedigt denn auch wenig. Auch die vielfach aufgeworfene Frage, ob Warschau etwa im Windschatten der Ereignisse des Jahres 1938 eigenen außenpolitischen Ambitionen, unter Umständen in partiellem Einklang mit Berlin, gefolgt sei, wird nicht beantwortet. Stattdessen weist der Autor die damalige "Weltmeinung" zurück, wonach sein Land in der gegebenen Konstellation die litauische Frage aktualisiert habe, um Deutschland die Möglichkeit der Rückgliederung des Memelgebietes zu eröffnen. Es muss daher erlaubt sein, auf das Arrangement zwischen Hitler und Piłsudski hinzuweisen, auch darauf, dass, wenngleich mit nachlassender Tendenz, die sehr intensiven, vorwiegend rüstungsökonomischen Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und Polen bis zum Herbst 1938 intakt blieben, so lange, bis beide Seiten erkannten, dass sie wegen der eigenen Hochrüstung (Aufbau des polnischen Zentralen Industriereviers) ihren wechselseitigen handelspolitischen Erwartungen nicht mehr zu genügen vermochten [1]. Die rüstungswissenschaftliche Kooperation zwischen Berlin und Warschau in der Piłsudski-Ära mit gemeinsamem antisowjetischem Vorzeichen wird nicht thematisiert, wenngleich der polnischen Aufrüstung im Rahmen der Pläne "Ost" und "West" auch und gerade in ihren Unzulänglichkeiten hinlänglich Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Es mag mit diesen kritischen Anmerkungen sein Bewenden haben. Sie werden relativiert durch die Entstehungsgeschichte des Buches, deren Spuren man sich gründlicher verwischt gewünscht hätte, insbesondere angesichts eines gewissen Perspektivenwandels, der die Inaugenscheinnahme auch der Schwächen und Illusionen eigener nationaler Politik erlaubt. Bleibt noch ein Hinweis des Rezensenten in eigener Sache: Er wurde im Literaturverzeichnis, nicht in den Anmerkungen, mit dem Historiker des ehemaligen Reichsarchivs Ernst Otto Volkmann verwechselt.

Anmerkung:

[1] Hans-Erich Volkmann: Polen im politisch-wirtschaftlichen Kalkül des Dritten Reiches, in: Der Zweite Weltkrieg, hrsg. von Wolfgang Michalka, München, Zürich 1994, S. 74-92.

Hans-Erich Volkmann