Rezension über:

Christine Stangl: Sozialismus zwischen Partizipation und Führung. Herrschaftsverständnis und Herrscherbild der sozialistischen deutschen Arbeiterbewegung von den Anfängen bis 1875 (= Historische Forschungen; Bd. 74), Berlin: Duncker & Humblot 2002, 414 S., ISBN 978-3-428-10609-7, EUR 78,00
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Rezension von:
Claudia Hiepel
Universität Essen
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Claudia Hiepel: Rezension von: Christine Stangl: Sozialismus zwischen Partizipation und Führung. Herrschaftsverständnis und Herrscherbild der sozialistischen deutschen Arbeiterbewegung von den Anfängen bis 1875, Berlin: Duncker & Humblot 2002, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 2 [15.02.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/02/1420.html


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Christine Stangl: Sozialismus zwischen Partizipation und Führung

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Die vorliegende Arbeit - eine von der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg angenommene Dissertation - versteht sich als Beitrag zur Ideen- und Geistesgeschichte der frühen deutschen Arbeiterbewegung, deren Herrschaftsverständnis und Herrscherbild systematisch herausgearbeitet werden. Stangl legt Max Webers Typologie von Herrschaft zugrunde, begrenzt ihre Analyse allerdings ausschließlich - ob aus pragmatischen oder anderen Gründen - auf die Begriffe Herrscherbild, Herrschaftsausübung und Herrschaftsgrundlegung. Da sie in den ordnungspolitischen Vorstellungen frühsozialistischer Denker die geistesgeschichtlichen Wurzeln der frühen Arbeiterbewegung sieht, bietet sie zunächst einen Überblick über die Gesellschaftsutopien von Pierre-Joseph Proudhon bis Auguste Blanqui. Diese werden systematisch nach ihrem Verständnis von Partizipation und Führung hinterfragt.

Nach dieser umfangreichen Einleitung gliedert sich die Arbeit in drei Abschnitte: Im ersten Teil werden Herrschaftsstrukturen in Vereinen und Parteien analysiert. Stangl begreift die organisatorische Form der sozialistischen Vereine und Arbeiterparteien als Vorwegnahme des zukünftigen staatlichen Modells. So werden Statuten, Aufbau und Organisationsformen in chronologischer Folge von den Auslandsvereinen im Vormärz bis zur Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) 1875 vorgestellt. Es gelingt der Verfasserin überzeugend nachzuweisen, dass Fragen der Herrschaftsausübung und -grundlegung über Organisationsfragen entschieden wurden. Die Bandbreite reichte von einem zentralistischen, autoritär geführten Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV), der unter den Nachfolgern Ferdinand Lassalles zum Scheitern verurteilt war, bis hin zur demokratischer geführten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP). Die "Eisenacher" setzten sich letztlich in der Vereinigung von ADAV und SDAP zur Sozialistischen Arbeiterpartei in Gotha 1875 mit ihren Vorstellungen zur Organisation der Partei durch.

Im zweiten Teil untersucht Stangl das Herrschaftsverständnis und Herrscherbild führender Vertreter der deutschen Arbeiterbewegung von Wilhelm Weitling über Marx und Engels, Lassalle und Wilhelm Liebknecht bis hin zu August Bebel. Die Ideen Lassalles, der "schillerndsten Person" unter den Exponenten der deutschen Arbeiterbewegung, zeigten Schnittmengen auf mit den Vorstellungen von einem sozialen Königtum, wie protestantisch-bürgerliche Sozialreformer sie vertraten. Diese werden in einem kurzen Exkurs erwähnt. Ihr tatsächlicher Einfluss auf die sozialistische Arbeiterbewegung bleibt freilich im Unklaren.

Der dritte Teil widmet sich schließlich den Herrscherbildern in der Kultur der Arbeiterbewegung. In sehr anschaulichen Beispielen wird der Personenkult in Liedern, Gedichten, in Festveranstaltungen und in der Symbolik vorgeführt. Der Lassallekult stand dabei im Vordergrund. Er schwächte sich jedoch ab und wurde durch die Verehrung August Bebels abgelöst, die allerdings nicht vergleichbare Züge annahm.

Schließlich versucht die Verfasserin in einer umfangreichen Zusammenfassung, die Erträge ihrer Studie entlang ihres analytischen Konzeptes zu verdichten. Stangl kommt aber über eine Auflistung der Modelle und Konzepte, wie sie sich in den Quellen zu den Arbeiterorganisationen sowie in deren kulturellen Manifestationen widerspiegeln, nicht hinaus. Der ideen- und geistesgeschichtliche Ansatz blendet den politischen und sozialen Kontext aus. Notwendigerweise, so mag man einwenden, doch lassen sich Modelle oder das Handeln einzelner Akteure nur vor dem jeweiligen historischen Hintergrund verstehen. Liebknecht und Bebel waren Politiker, die sich über ihre parlamentarische Arbeit definierten. So fanden - anders als bei Lassalle oder Marx - parlamentarische, demokratische Umgangsformen Eingang in die Arbeiterbewegung und entfalteten gleichsam automatisch einen partizipatorischen Effekt. Damit ließe sich auch der Mittelweg zwischen Partizipation und Führung erklären, den Stangl für charakteristisch für die Sozialistische Arbeiterpartei hält. Doch die tatsächliche Bedeutung des Personenkultes bleibt im Dunkeln, da die Adressaten und Fragen nach der möglichen Wirkung völlig ausgeblendet werden.

Auf dieser Grundlage werden am Ende der Studie in einem Ausblick Linien zur Weimarer Republik gezogen. Der Pluralismus der frühen sozialistischen Arbeiterbewegung erklärt demnach ihre Aufsplitterung nach 1917 und letztlich auch das Scheitern der Weimarer Republik. Ist diese These schon an sich fragwürdig, so lässt sie sich auf der Grundlage der Studie von Stangl sicherlich nicht erhärten.

Claudia Hiepel