Rezension über:

Thomas M. Safley (Hg.): Die Aufzeichnungen des Matheus Miller. Das Leben eines Augsburger Kaufmanns im 17. Jahrhundert (= Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft. Reihe 6: Reiseberichte und Selbstzeugnisse aus Bayerisch-Schwaben; Bd. 4), Augsburg: Wißner 2003, 214 S., ISBN 978-3-89639-381-4, EUR 19,80
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Rezension von:
Tobias Wulf
Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande, Universität Bonn
Redaktionelle Betreuung:
Michael Kaiser
Empfohlene Zitierweise:
Tobias Wulf: Rezension von: Thomas M. Safley (Hg.): Die Aufzeichnungen des Matheus Miller. Das Leben eines Augsburger Kaufmanns im 17. Jahrhundert, Augsburg: Wißner 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 2 [15.02.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/02/4486.html


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Thomas M. Safley (Hg.): Die Aufzeichnungen des Matheus Miller

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Wenn die Arbeit über ein Selbstzeugnis oder seine Edition im Titel den Begriff 'Aufzeichnungen' enthält, ahnt der Leser, dass eine genauere Einordnung schwer fällt. Auch das schriftliche Werk des Augsburger Kaufmanns Matheus Miller (1625-1685) kann demnach nicht einfach als vollständige Autobiografie bezeichnet werden. Zwar gibt es Bezugspunkte, zum Beispiel die 'ricordanze' italienischer und deutscher Kaufleute; zudem ähnelt Millers Art des Schreibens den meisten Lebenserzählungen der Zeit. Dennoch hat er, wenngleich chronologisch vorgehend, kein Tagebuch im engeren Sinne des Wortes verfasst. Der Bearbeiter Thomas Safley spricht von 'Erinnerungen' (Memoir) und proklamiert die Einzigartigkeit der von ihm publizierten Quelle und ihres Autors; dessen Perspektive bleibe eine sehr individuelle: "Identität verschwindet in den Ereignissen nicht, sondern sie dient als Blickwinkel zur Untersuchung persönlicher Erfahrungen" (38).

In dem Gesagten unterscheiden sich die Aufzeichnungen allerdings kaum beziehungsweise wenig von anderen zeitgenössischen 'Ego-Dokumenten'. Die Quelle entspricht vielmehr der engeren und weniger umstrittenen Definition des Begriffs: der freiwilligen Darstellung spezifischer Eigenschaften eines Individuums. "Das Tagebuch umschreibt die Erwartungen und Handlungen von Matheus Miller und dadurch auch seine Werte, Hoffnungen und Ängste. Es bietet eine Wahrnehmung des Selbst in der Gesellschaft" (40). Damit einher gehen eben auch die üblichen Schwierigkeiten der Deutung. Im Falle Millers ist nicht einmal der Entstehungszeitraum einzugrenzen: Der Autor beginnt mit einer kurzen Zusammenfassung der Jugendzeit; es folgt ein in drei Teile gegliederter Lebenslauf, bestehend aus einer chronologischen Abfolge von Episoden, die sich von seiner ersten Ehe 1647 bis zu seinem Tod 1685 erstrecken. Safley vermutet aufgrund der gleichmäßigen Perspektive, aus der heraus die Erinnerungen verfasst sind, und ihrer relativ stabilen Ausdrucksweise, die als durchweg sachlich und nüchtern bezeichnet werden kann, eine zeitlich begrenzte Niederschrift. Auffällig ist, dass die Eintragungen im Rahmen der Berichte über seine erste Ehe, vor allem deren späte Phase Anfang der 1660er-Jahre, häufiger werden und engagierter wirken. Daraus sind aber kaum Schlüsse zu ziehen, denn Millers drei Ehen bestimmen ohnehin die Struktur der Aufzeichnungen - wie insgesamt die Familie und die engeren sozialen Bindungen das Zentrum und den deutlichen Schwerpunkt ausmachen. Berufliche Aktivitäten, öffentliche Ämter und geschäftliche Bekanntschaften werden lediglich protokolliert, eine Erläuterung ihrer Vorzüge bleibt aus, und wenn Miller von Ehen, Geburten und Todesfällen berichtet, erwähnt er nicht die Auswirkungen auf Rang oder Reichtum. Oft ist dabei eine gewisse Gleichförmigkeit in Ausdruck und Aufbau zu bemerken.

Neben anderen gängigen Motiven, die wahrscheinlich auch eine Rolle gespielt haben werden - dem Lob Gottes, der Belehrung der Nachkommen, der Anerkennung der Vergänglichkeit des menschlichen Daseins -, steht dabei vor allem der Gedanke der Rechtfertigung stark im Vordergrund: Entscheidungen seiner Jugend in Sachen Ehe und Karriere, mutmaßlich spontan getroffen und von den sozialen Normen der Zeit abweichend, könnten ein Bedürfnis nach Erklärung bewirkt haben. "Doch bot Matheus keine Entschuldigung für sein vergangenes Tun, sondern er versuchte Aufrichtigkeit und Anstand sich selbst, seinen Lesern und höchstwahrscheinlich auch seinem Gott durch die Berichterstattung verschiedener Lebensereignisse und durch die Untersuchung ihrer Bedeutung und Ursachen zu erklären" (2). Das Tagebuch ist also "eine Rechtfertigung nicht in der jenseitigen, sondern in dieser Welt" (39). Das macht die Quelle interessant, denn Miller reflektiert die Konventionen seiner Zeit kritisch. Doch sind die Begebenheiten, über die er schreibt, dadurch höchst selektiv zusammengestellt. Es handelt sich nur um fragmentarische Episoden aus dem Leben, die sich zeitlich zwar zuordnen lassen; der Zusammenhang bleibt aber oft unerwähnt. Miller trifft "eine bewusste Auswahl von Themen, die seine Werte und Würde so spiegeln, wie er es in seiner klassischen Ausbildung am Gymnasium gelernt hatte" (28). Ursachen und Hintergründe des Geschilderten bleiben meist im Dunkeln. Eine Bewertung fällt schwer. Und damit müssen sich auch die Interpretationsversuche des Herausgebers bei aller Plausibilität im Vagen bewegen.

Thomas Safley allerdings ist ein Kenner der frühneuzeitlichen Stadt Augsburg. [1] Entsprechend fundiert sind die Kommentierung mit ihren umfangreichen prosopografischen Angaben und Erläuterungen zum geschichtlichen Umfeld sowie in der Einleitung die Einordnung der Quelle und ihres Verfassers in den historischen Kontext mit Bezug zu aktuellen Fragestellungen. Hier erweist sich Safley als Experte: Der vorliegenden Edition ging ein eigenes Buch über Miller und sein Werk voraus, in dem er seine Überlegungen vorstellt. Ihm gelingt dabei die Rekonstruktion der geschäftlichen Aktivitäten Millers, die aus dem Tagebuch kaum hervorgehen, doch handelt es sich bei der Arbeit weniger um eine Biografie, sondern - entsprechend der Quelle mit ihren eher kryptischen Beschreibungen - um eine Studie zu Haltungen und Werten des Kaufmanns. [2] Safley ordnet die punktuellen Berichte um Schlüsselthemen herum an (patriarchalische Autorität, affektive Beziehungen im Familienleben, allgemeine Soziabilität, religiöse und persönliche Identität), leitet allgemeine Erkenntnisse ab und vergleicht Millers Ansichten mit der Forschungsmeinung, von der sie nicht selten abweichen. Die zum Teil durchaus weitreichenden Interpretationen, die sich auch in der Einleitung und in den Anmerkungen zur Quellenedition niederschlagen, sogar wesentlich zum Verständnis beitragen, können deshalb nicht ohne Weiteres abgetan werden - auch wenn sie gerade bei den privaten Angelegenheiten lückenhaft und von Vermutungen geprägt bleiben müssen.

Wer also nicht nur nach vereinzelten Informationen zur Sozialgeschichte der Stadt Augsburg sucht, sondern etwas über die Einstellung und Werte eines ihrer Bürger erfahren möchte, wird in Matheus Millers Erinnerungen fündig - und möglicherweise überrascht. Denn die Bedeutung der Quelle - und damit bewegt sich die Ausgabe im Trend der Erforschung von 'Ego-Dokumente' - liegt tatsächlich in der sehr persönlichen Perspektive ihres Autors, dessen Sichtweise von "Patriarchat, Öffentlichkeit, Hierarchie und Konfession [...] individuell und einzigartig" ist (3). Die Aufzeichnungen enthalten wenig Auskünfte über politische Ereignisse, der Krieg wird beispielsweise so gut wie gar nicht thematisiert; ebenso selten angesprochen wird die Konfessionalisierung, obschon der Lutheraner Miller sich häufig direkt an Gott wendet und das Tagebuch von seinem Glauben durchdrungen ist. Er erwähnt viele Namen aus seinem weiteren sozialen Umfeld, doch kommentiert oder beschreibt er die genannten Personen kaum. In dieser Hinsicht kann die Quelle nur ergänzend zu den bereits vorliegenden Erkenntnissen hinzugezogen werden.

Da diese Kenntnisse aber ohnehin, vor allem für die wirtschaftlichen Eliten Augsburgs, vergleichsweise umfangreich vorhanden sind, bietet die Edition eine andere Herangehensweise an das Thema, und dies ganz im Sinne der Selbstzeugnisforschung: Es wird - wenn auch ausschnitthaft - ein individueller Blick eröffnet, zum Beispiel auf die personalen Verflechtungen in der Augsburger Oberschicht. Das Problem ist dabei das übliche: Gerade wegen seines Sonderstatus' ist Miller so interessant, aber auch schwer einzuschätzen, und der Befund seiner Aufzeichnungen lässt sich nicht ohne Weiteres verallgemeinern. Die Einstellungen und Ansichten zu seinem persönlichen Umfeld können jedoch nicht übergangen werden. Das bislang oft abstrakte und pauschale Bild wird von Thomas Safley durch ein Beispiel konkretisiert, das es - bei allen Besonderheiten - wert ist, in die allgemeinen Überlegungen mit einbezogen zu werden.

Anmerkungen:

[1] Unter anderem befasste er sich schon vor einigen Jahren ausgiebig mit der Beziehung zwischen Wohlfahrt, Kapital und Konfession in den Augsburger Waisenhäusern: Thomas M. Safley: Charity and Economy in the Orphanages of Early Modern Augsburg (= Studies in Central European Histories, 8), Atlantic Highlands, NJ 1997.

[2] Thomas M. Safley: Matheus Miller's Memoir. A Merchant's Life in the Seventeenth Century (= Early modern history), Basingstoke u.a. 2000.

Tobias Wulf