Rezension über:

Gerd Koenen: Vesper, Ensslin, Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2003, 365 S., ISBN 978-3-462-03313-7, EUR 22,90
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Rezension von:
Bastian Hein
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Bastian Hein: Rezension von: Gerd Koenen: Vesper, Ensslin, Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 2 [15.02.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/02/4544.html


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Gerd Koenen: Vesper, Ensslin, Baader

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Im Sommer 1967, zu Beginn der heißen Phase der westdeutschen Studentenbewegung, treffen in Berlin Bernward Vesper, Gudrun Ensslin und Andreas Baader aufeinander. Für den radikalen Anarchisten Baader verlässt die schwäbische Pfarrerstochter ihren Verlobten, den linken Nachwuchsverleger Vesper, und den gemeinsamen, erst wenige Wochen alten Sohn. In einem scheinbar geradlinigen Radikalisierungsprozess werden die beiden zu Gründern der Roten Armee Fraktion und zu Idolen des westdeutschen Linksradikalismus der 70er-Jahre.

Der mit seinem Sohn, dem Politverlag und den eigenen künstlerischen Ambitionen heillos überforderte Vesper schlägt einen anderen, für ihn persönlich nicht minder verheerenden Weg ein. Mit Hilfe von Drogen und Experimenten der freien Liebe versucht er, sich selbst zu einem "neuen Menschen" zu schulen. Diese Entwicklung, zu der auch eine Abrechnung mit dem dominanten Übervater, dem NS-Dichter Will Vesper, gehört, will er zu einem Roman verarbeiten. Zunehmend psychotisch wird er 1971 in eine Anstalt eingeliefert. Wenige Monate darauf nimmt er sich das Leben. Sein Werk erscheint stark überarbeitet 1977 unter dem Titel "Die Reise" und wird unter dem Eindruck der Eskalation des Deutschen Herbstes als "Generationsdokument par excellence" rezipiert.

Nach dem eher auf Strukturen und Gruppenprozesse ausgerichteten Panoptikum des "Roten Jahrzehnts" von 2001 bemüht sich Gerd Koenen einen weiteren, diesmal enger auf die handelnden Figuren bezogenen "Schlüssel [...] der 68er-Revolte" anzubieten und Licht in die "unklare Gärung von Psyche und Intellekt, ohne die man von dieser Zeit und ihren Akteuren wenig verstehen wird", zu bringen. Aus zwei Gründen ist das größtenteils gelungen: Zum einen schafft es der ehemalige SDS- und K-Gruppen-Aktivist Koenen in vorbildlicher Weise, den Vorteil des Zeitzeugen, der viele Prozesse aus eigener Anschauung kennt und die Codes der Zeit dechiffrieren kann, mit einer zugleich empathischen und (selbst)kritischen Haltung zu verbinden. Zum anderen hat Koenen vor allem mit Blick auf Vesper und Ensslin eine große Menge an Material gefunden, das Einblick in ihre persönliche Entwicklung bietet und hilft, gerade der "zur Ikone erstarrten Figur" Ensslin "ein Gesicht und eine Stimme" zurückzugeben.

Durch längere Zitate aus der persönlichen Korrespondenz sowie durch die gewählte Grundkonstellation der "in großen Zügen nachgezeichneten Dreiecksbiographie" wird deutlich, wie sehr die scheinbar stringente politische Entwicklung durch die persönlichen Bedürfnisse der drei Akteure geprägt war. So kann Koenen zum Beispiel überzeugend darlegen, dass Vesper das Postulat der freien Liebe, der Auflösung bürgerlicher Beziehungsstrukturen genau in dem Moment für sich entdeckt, als er Ensslin an Baader zu verlieren droht. Die Politisierung des Privaten ist für Vesper zumindest auch ein Instrument, um gegen die neue Zweierbeziehung seiner Verflossenen zu protestieren. Aus den Briefen Ensslins geht hervor, wie sehr diese zwischen ihren Rollen als Mutter und als selbst ernannte Revolutionärin schwankte. Ihre immer radikalere Haltung und die spätere Aggressivität gegen die unter dem gleichen Konflikt leidende Ulrike Meinhof erscheinen als Versuche, die eigenen Schuldgefühle über den vollständigen Bruch zu verdrängen beziehungsweise in einer politischen Scheinlogik zu rationalisieren. Aufschlussreich ist auch die Analyse des Zeitpunkts, an dem sich Baader und Ensslin auf der Flucht endgültig dafür entscheiden, als Stadtguerilla nach Berlin zu gehen, nämlich erst nachdem sie erfahren hatten, dass die sie betreffenden Gnadengesuche abgelehnt worden waren. Aus den scheinbar zielstrebigen "Heroen" der linken Szene werden hier von den eigenen Ängsten und Geltungsbedürfnissen Getriebene, deren Verhalten sich nur noch über selbstreferentielle Gruppenbezüge nachvollziehen lässt.

Schwächen weist das Buch dagegen, nicht zuletzt in Ermangelung entsprechender Quellen, in der Zeichnung Baaders auf. Es gelingt Koenen kaum, dessen Selbstinszenierung beziehungsweise Mythologisierung zu durchbrechen. Baader bleibt in weiten Teilen der stereotype "Prototypus eines rebel without a cause". Über ihn erfährt man weniger als in der Biografie von Dorothea Hauser.[1]

Insgesamt wird das Buch seinem Anspruch gerecht, "die Anfänge und Ursprünge des Terrorismus in Deutschland" herauszuarbeiten, die im Gegensatz zur weiteren Entwicklung in den 70er-Jahren bisher in der Tat zu wenig untersucht worden sind. Allerdings bietet es einen Anlass auf zwei grundsätzliche Schieflagen der bisherigen Forschung hinzuweisen. Erstens neigt die bisher fast ausschließlich von ehemaligen Aktivisten oder aber ihren entschiedenen Gegnern geleistete "68er"-Forschung prinzipiell dazu, sich auf den radikalsten Teil der Bewegung und ihre prominentesten Exponenten zu konzentrieren. Darüber, ob zum Beispiel die drei hier beschriebenen extremen Lebensläufe - wie von Koenen behauptet - "exemplarische Biographien" für die 68er-Generation oder auch nur für die politisierte Minderheit dieser Alterskohorte darstellen, ließe sich trefflich streiten.

Zweitens ist zu fragen, ob es Sinn macht, weiterhin so ausschließlich die Eskalationsspirale von Terror und unmittelbarer staatlicher Reaktion zu untersuchen. Vielmehr wäre es an der Zeit, die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen, die dem Phänomen RAF erst seine überproportionale Bedeutung verschafften, systematisch zu untersuchen. Koenen weist hier den richtigen Weg, wenn er anmerkt, der Prozess sei nicht ohne die "komplementären Hysterien" der 70er-Jahre zu verstehen. Während im konservativen Milieu übersehen wurde, dass es sich tatsächlich nur um eine winzige Fraktion einer halluzinierten Roten Armee handelte, stellte die Linke jede staatliche Gegenmaßnahme unter eine Art präventiven Faschismusverdacht.

Anmerkung:

[1] Dorothea Hauser: Baader und Herold. Beschreibung eines Kampfes, Berlin 1997.

Bastian Hein