Ina Stephan: Aufstieg und Wandel der Parti socialiste in der Ära Mitterrand (1975-1995) (= Europa- und Nordamerika-Studien; Bd. 8), Opladen: Leske & Budrich 2001, 239 S., ISBN 978-3-8100-3118-1, EUR 24,90
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Der Aufstieg der Sozialistischen Partei Frankreichs von einer Oppositions- zur Regierungspartei ist untrennbar mit dem Namen François Mitterand verbunden. Er gilt als der Gründervater der "parti d'Epinay" (nach dem Veranstaltungsort des entscheidenden Parteitages von 1971) und wurde als ihr Kandidat am 10. Mai 1981 der erste sozialistische Präsident der Fünften Republik. Auch bei den Parlamentswahlen im Juni 1981 errang die Parti socialiste zum ersten Mal die absolute Mehrheit und übernahm die Regierungsverantwortung. Der Euphorie des Aufbruchs folgte jedoch bald die Ernüchterung des Alltags. So endeten die Parlamentswahlen 1986 mit dem Sieg des bürgerlich-rechten Lagers und der Ernennung Jacques Chiracs zum Premierminister. Dennoch gelang François Mitterand 1988 seine Wiederwahl als Präsident, und auch die Sozialistische Partei kehrte von 1988 bis 1993 in die Regierungsverantwortung zurück.
Gleichwohl befand sich die Parti socialiste (PS) seit 1986 in einer schweren Krise, die nur durch die Emanzipation vom "Übervater Mitterand" und durch innerparteiliche Reformen gelöst werden konnte. Das gelang der PS schließlich unter Führung von Lionel Jospin, der zwar bei den Präsidentschaftswahlen 1995 dem konservativen Kandidaten Jacques Chirac unterlag, seine Partei jedoch hinter sich zu einen wusste und sie 1997 sogar wieder an die Regierung brachte. Damit hatte die Parti socialiste nicht den "typisch französischen" Weg von Parteien - die Auflösung und Neugründung - gewählt, sondern ihre Überlebensfähigkeit ohne die legendäre Führungsfigur Mitterand unter Beweis gestellt. Allerdings scheiterte der neue Hoffnungsträger Lionel Jospin dann bei den Präsidentschaftswahlen im April 2002 völlig überraschend schon im ersten Wahlgang, verkündete seinen sofortigen Rückzug aus der Politik und stürzte die Parti socialiste sowie die französische Linke insgesamt damit in eine erneute Krise, von der sie sich bis heute nicht erholt hat. Welche Auswege aus der gegenwärtigen Lage sind möglich? Gibt es Parallelen zur Situation Ende der 1980er-Jahre?
Auf diese Fragen kann die im Jahr 2001 erschienene politikwissenschaftliche Dissertation von Ina Stephan über "Aufstieg und Wandel der Parti socialiste in der Ära Mitterand (1971-1995)" natürlich keine direkte Antwort geben. Man liest das Buch aber gerade auch vor dem Hintergrund der aktuellen Situation mit doppeltem Gewinn: Zum einen gewinnt der Leser ein klares Bild der Geschichte der PS von den 1970er- bis zu den 1990er-Jahren, zum anderen erhält er am Beispiel der PS aber auch einen systematischen Einblick in den Aufbau und die Rolle politischer Parteien in Frankreich insgesamt, der dazu beiträgt, die aus deutscher Perspektive häufig schwer nachvollziehbaren politischen Entwicklungen im Nachbarland besser zu verstehen.
Ina Stephan verweist in ihrer Einleitung zunächst auf die traditionelle Schwäche der französischen Parteien im Hinblick auf Organisationsstrukturen, Mitgliederzahl und Finanzmittel, die sich aus der starken Orientierung auf den Präsidenten und der nachrangigen Rolle des Parlaments ergibt: Wichtigste Aufgabe der Parteien ist die Unterstützung des Präsidenten und die Absicherung seiner Politik in der Nationalversammlung. Erst durch die "Cohabitation" - die erzwungene Zusammenarbeit des Präsidenten mit einem Premierminister aus dem anderen politischen Lager (Mitterand / Chirac 1986-1988, Mitterand / Balladur 1993-1995, Chirac / Jospin 1997-2002) - wurde eine Aufwertung des Parlaments und damit auch der Parteien möglich, die sich darüber hinaus in verbesserten rechtlichen Regelungen zur Parteien- und Wahlkampffinanzierung niederschlug. Die funktionale Stärkung der Parteien in Frankreich insgesamt führte auch zur organisatorischen Stabilisierung der Parteien im Einzelnen.
Diesen Prozess zeichnet Ina Stephan am Beispiel der Parti socialiste nach. Dabei stehen für sie neben dem Aufstieg der PS "von der Neugründung zur Regierungspartei" 1969 bis 1988 (Kapitel 1) vor allem die innerparteilichen Reformen im Vordergrund, die in der PS in der Phase "zwischen Mitterandismus und Emanzipation" 1988-1995 (Kapitel 2) diskutiert wurden: "Welche Ursachen hatten die verschiedenen Ausprägungen der Parteienkrise? Welche Reformen wurden von wem eingeleitet und wie erfolgreich waren sie?" (15). Damit schließt Ina Stephan eine Forschungslücke, denn die meisten der bisherigen Untersuchungen zur Parti socialiste beschäftigen sich überwiegend mit der Regierungspolitik von 1981 bis 1988, kaum aber mit der internen Entwicklung von 1988 bis 1995. Quellengrundlage der Studie sind vor allem Artikel aus der Parteipresse und Berichte aus den großen französischen Tageszeitungen, insbesondere aus Le Monde. Parteiakten konnten dagegen kaum herangezogen werden, da in Frankreich keine Parteiarchive in deutschem Sinne existieren beziehungsweise viele Unterlagen der Forschung nicht zugänglich sind. Bewusst verzichtet hat Ina Stephan allerdings auf die Benutzung der "literarisch ambitionierten Publikationen einzelner Politiker [...], da ihr originärer Aussagewert für das zu bearbeitende Thema sehr gering ist", und man "diese fast als eigenes Genre zu betrachtenden Publikationen" besser einmal unter kulturhistorischen Aspekten untersuchen solle (17). Methodisch greift Ina Stephan auf den Ansatz Angelo Panebiancos zurück, der ein Modell zur Analyse von organisatorischer Stabilisierung, Institutionalisierung, Krise und Wandel politischer Parteien entwickelt hat, das Ina Stephan am Beispiel der Parti socialiste im Einzelnen nachvollzieht.[1]
Ina Stephan kann in ihrem Buch zeigen, dass die schwere Krise der PS, die auf dem Parteitag in Rennes 1990, auf dem der Machtkampf um die Nachfolge François Mitterands offen ausbrach, und in den katastrophalen Niederlagen der PS bei den Parlamentswahlen 1993 und bei den Europawahlen 1994 ihren deutlichsten Ausdruck fand, sich schon seit langem angekündigt hatte: Vor allem das seit 1971 geltende Strukturprinzip der proportionalen Repräsentation der verschiedenen Parteiflügel ("courants") in den Gremien der PS erwies sich nicht mehr als vorteilhaft für die innerparteiliche Demokratie, sondern im Gegenteil als "Grundübel der Nachfolgekämpfe um Mitterands Position": "Dienten die courants, die z. T. älter als die Partei selbst waren, in den 70er Jahren noch der Integration der verschiedenen Gruppierungen des linken nichtkommunistischen Lagers sowie als Ideenlieferanten, mutierten sie mit der zunehmenden Präsidentialisierung der Partei zu 'Rennställen' potentieller Präsidentschaftskandidaten in den 80er Jahren" (215).
Darüber hinaus hatte sich nach den ersten Regierungserfahrungen der PS von 1981 bis 1986 ein "programmatisches Vakuum" (215) gebildet, das nur durch die Konzentration auf Mitterand als nationale Integrationsfigur gefüllt werden konnte. Eine wirkliche inhaltliche Neuausrichtung der Parti socialiste war dagegen umso schwerer möglich als die PS zu Beginn der zweiten Amtszeit Mitterands durch die Aufdeckung zahlreicher Skandale und Affären - denen Ina Stephan in der Mitte ihrer Studie einen Exkurs widmet - nicht nur politisch, sondern vor allem auch moralisch stark diskreditiert war.
Nach zahlreichen Reformbemühungen einzelner Parteiführer und courants, die Ina Stephan detailliert beschreibt, gelang es erst Lionel Jospin, die Direktwahl des Parteivorsitzenden durch die Mitglieder und damit eine weitgehende Entmachtung der Parteiflügel durchzusetzen. Darüber hinaus entwickelte Jospin - Überraschungskandidat für die Präsidentschaftswahlen 1995 - ein neues Programm, das sich an visionärer Kraft zwar nicht mit dem "Projet socialiste" François Mitterands von 1981 vergleichen ließ, aber vielleicht gerade deshalb Zustimmung bei den Parteimitgliedern und schließlich auch bei den Wählern fand. Gleichwohl konnte dieser Aufschwung nach dem Ende der Ära Mitterand die unerwartete Niederlage Lionel Jospins in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen 2002 nicht verhindern, - der Schock des "21 Avril" wirkt auch Jahre später noch nach. Vermutlich kann der Ausweg aus der Krise deshalb nur in einem noch viel tiefgreifenderen Wandel der Parti socialiste - und der französischen Linken insgesamt - liegen als ihn Ina Stephan in ihrem sehr lesenswerten Buch für die Jahre 1971 bis 1995 dargestellt und wissenschaftlich untersucht hat.
Anmerkung:
[1] Panebianco, Angelo: Political parties: organization and power, Cambridge 1988.
Christian Scharnefsky