Karsten Brüggemann: Die Gründung der Republik Estland und das Ende des "Einen und unteilbaren Rußland". Die Petrograder Front des russischen Bürgerkriegs 1918-1920 (= Veröffentlichungen des Osteuropa Instituts München. Reihe: Forschungen zum Ostseeraum; Bd. 6), Wiesbaden: Harrassowitz 2002, 515 S., ISBN 978-3-447-04481-3, EUR 76,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Bei der vorliegenden leicht gekürzten und überarbeiteten Fassung einer Hamburger Dissertation aus dem Jahr 1999 handelt es sich um eine breit angelegte und gründlich erarbeitete Monografie von hoher Qualität. Im Unterschied zur Berliner Dissertation von Sigmar Stopinski "Das Baltikum im Patt der Mächte. Zur Entstehung Estlands, Lettlands und Litauens im Gefolge des Ersten Weltkriegs" aus dem Jahr 1997, die faktisch eine reine Literaturarbeit mit starker Fixierung auf deutsche Forschungsarbeiten darstellt (vergleiche unter anderem meine Rezension in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 52 [2002], 597-598), ist Brüggemanns monumentale Analyse der Jahre zwischen dem Ende des Weltkrieges und vor Beginn der so genannten Zwischenkriegszeit - zwischen November 1918 und dem Frieden von Dorpat/Tartu im Februar 1920 - aus einer Vielzahl von Quellen gearbeitet: zahlreichen ungedruckten aus Archiven in Reval/Tallinn, St. Petersburg, Moskau, Bonn, Berlin, Marburg und Lüneburg sowie einer Fülle von "gedruckten Quellen und Memoiren". Das Quellen- und Literaturverzeichnis (459-503) ist eine vielsprachige Fundgrube. Die Arbeit profitiert zum einen von den souveränen Sprachkenntnissen des Autors, der estnische, russische, englische und natürlich auch deutsche Quellen verarbeitet hat, die in dieser Fülle noch niemals herangezogen werden konnten; zum anderen verfügte Brüggemann als erster Autor zu den Themenblöcken "Nordwest-Armee", "Staatsgründung Estlands" und "Russischer Bürgerkrieg" über einen offenbar nahezu unbegrenzten Zugang zu Quellen, die älteren Autoren verborgen oder unzugänglich geblieben sind.
Es berührt sympathisch, dass Brüggemann in seiner spannenden wissenschaftlichen Einleitung zu den Quellen und zum Forschungsstand über diese Jahre einer tief greifenden Zäsur die beiden Bände "Von den baltischen Provinzen zu den baltischen Staaten", die 1971 und 1977 im Auftrag der Baltischen Historischen Kommission im Verlag des Herder-Instituts Marburg erschienen sind, positiv würdigt. Freilich kann man sich bei seiner Gesamtbewertung der bisherigen Literatur zum Thema des Eindrucks nicht erwehren, dass er sie mehr oder weniger pauschal unter Ideologieverdacht stellt: die sowjetische kaum stärker als die deutschbaltische oder die nationalestnische. Danach legen Deutsche eben den Nachdruck "traditionell" auf die "Rolle der deutschen Minderheit" (48). Haben sie denn in seinen Augen primär Vorurteile bestätigt, oder haben sie nicht doch, wenn vielleicht auch auf einer zu schmalen Basis, wissenschaftlich gearbeitet? Zu Recht weist Brüggemann allerdings darauf hin, dass der damals geplante dritte Band dieses Sammelwerks, der sich zentral mit den russischen Armeen im Baltikum beschäftigen sollte, das heißt mit Judenič und Bermondt, nie erschienen ist. Über Bermondt liegen immerhin zwei Arbeiten von Wilhelm Lenz vor, deren Erweiterung geplant ist. Die Lücke über die Rolle der Nordwest-Armee und Judenič schließt nunmehr Brüggemann in einem wesentlich breiteren Rahmen. Er handelt über den Zusammenhang von Russischem Bürgerkrieg, Staatsgründung Estlands sowie Aufstieg und Niedergang der Nordwest-Armee - über nicht mehr, aber auch nicht weniger. Sein Buch ist vor allem ein grundlegender Beitrag zum "Ende des 'Einen und unteilbaren Rußland'", das mit den Staatsgründungen Finnlands 1917 und Estlands 1918, bzw. mit dem estnisch-sowjetischen Frieden von Tartu am 2. Februar 1920 seinen Anfang nahm. Die Überschrift in Cornelius Hasselblatts Rezension - "Ein künftiges Standardwerk zur estnischen Geschichte" (Estonia 18 [2003], H. 1, 56-61) - greift deshalb im Hinblick auf den gesteckten Rahmen zu kurz: Brüggemanns Buch könnte ebenso ein Standardwerk zur Rolle der Nordwest-Armee im Russischen Bürgerkrieg werden und auch in dieser Hinsicht eine Lücke füllen.
Nach der knappen Klärung der wichtigsten Voraussetzungen (52-84) werden zwei große Abschnitte in den Mittelpunkt gerückt: "Der Estnische Unabhängigkeitskrieg (November 1918 bis Juli 1919)", also die Zeit vom Abzug der deutschen Truppen aus ganz Estland bis über die Schlacht von Wenden/Cēsis hinaus (85-211), sowie "Der Russische Bürgerkrieg an der Petrograder Front (Mai 1919 - Februar 1920)" (212-441). Brüggemann arbeitet im ersten Abschnitt mit vielen guten Argumenten und Belegen heraus, dass die Behauptung der Kommunisten, mehr als 500.000 estnische Arbeiter seien verkappte Anhänger der Boľševiki gewesen, völlig haltlos und "reine Erfindung" (209) gewesen ist. Tatsächlich konnten zum Ende des Jahres 1919 nur knapp über 500 estnische Kommunisten gezählt werden, die den nationalen Esten nichts entgegenzusetzen hatten.
Das Hauptaugenmerk der Arbeit liegt allerdings auf dem Scheitern der Nordwest-Armee in Estland und an der Petrograder Front. Die schwungvoll geschriebene Darstellung mit einem äußerst differenzierten Anmerkungsapparat und detaillierten Angaben über militärische Handlungen und politische Beweggründe unterschiedlicher Akteure gibt hier vielfältige neue Aufschlüsse über das Ineinanderwirken unterschiedlicher Interessen, die jeweils sehr eigenständig von der estnischen Führung (Laidoner und Poska!), der Nordwest-Armee, der Nordwest-Regierung und der Britischen Mission mit General Gough an der Spitze vertreten wurden und schließlich zum politischen Sieg der estnischen Führung über eine immer mehr in sich zerfallende Nordwest-Armee führten.
Ein Höhepunkt der Darstellung ist "Der Frieden von Tartu" (435-441) mit dem politischen Drahtseilakt der estnischen Führung zwischen "Weißen" und "Roten" unter Leitung des estnischen Außenministers Piip. Dieser Friedensschluss "zementierte das Ende des Einen und unteilbaren Rußland und damit das Scheitern der weißen Russen" (442), deren Vertreter in Petrograd Judenič sein wollte. Die Achse Omsk - Paris konnte jedoch nicht zulassen, dass dieser im alten St. Petersburg, der Zarenresidenz, die Oberhand gewann. Deshalb wurde eine Konzentration der Hilfe aus dem Westen auf Judenič verhindert. Brüggemann spricht von einer "paralysierenden Heterogenität" in der weißen Bewegung, die auch darin ihren Ausdruck fand, dass Judenič in Estland keine "soziale Basis" finden konnte (446). Diese Wertung leuchtet ein und bliebe dennoch abstrakt und blass, wenn der Autor diesem Scheitern nicht betont die estnische Erfolgsgeschichte gegenüberstellen würde. Der Estnische Unabhängigkeitskrieg war nach Brüggemann ein "Sezessionskrieg ohne Annexionsabsichten" (447). Die estnischen Politiker hätten mit der Unterstützung der Nordwest-Armee die Schaffung eines nicht-bolschewistischen Pufferstaates östlich der eigenen Grenze verfolgt und favorisiert. Es sei Laidoner und anderen nicht um die Vernichtung der bolschewistischen Herrschaft gegangen: vielmehr seien ihre Ziele defensiver Natur gewesen. Es musste die vorrangige Aufgabe der Politik sein, den Krieg zu beenden. Dass Estland Ende 1919 zwei Eisen im Feuer hatte - ein rotes und ein weißes -, musste ausgenutzt werden. Nach Brüggemann scheint es oberflächlich, Estland als strikt antikommunistisches Land zu sehen, wie das insbesondere nach dem gescheiterten Kommunisten-Putsch vom Dezember 1924 vielfach behauptet wurde. In seinem Ausblick stellt er vielmehr fest, dass ein Lavieren zwischen Moskau und Berlin spätestens nach Beginn des Autoritären Regimes Päts angezeigt gewesen sei.
Brüggemann hat mit diesem Buch zur Diskussion um politische Mythen und ihre Rolle in der Geschichte Estlands einen substanziellen Beitrag geleistet. Ein nützlicher chronologischer Überblick (451-454), ein Abkürzungsverzeichnis sowie einige Fotoreproduktionen und Kartenskizzen runden den anspruchsvollen Band ab. Gelegentlich nehmen die Abkürzungen überhand und stören den Lesefluss. Im Übrigen aber ist der Autor zu diesem grundlegenden Werk, das viel mehr ist als eine "normale" Doktorarbeit, zu beglückwünschen.
Gert von Pistohlkors