Rezension über:

Stephanie Abke: Sichtbare Zeichen unsichtbarer Kräfte. Denunziationsmuster und Denunziationsverhalten 1933 - 1949 (= Studien zum Nationalsozialismus; Bd. 6), Tübingen: edition diskord 2003, 416 S., ISBN 978-3-89295-731-7, EUR 22,00
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Rezension von:
Ingrid Schupetta
NS-Dokumentationsstelle der Stadt Krefeld
Empfohlene Zitierweise:
Ingrid Schupetta: Rezension von: Stephanie Abke: Sichtbare Zeichen unsichtbarer Kräfte. Denunziationsmuster und Denunziationsverhalten 1933 - 1949, Tübingen: edition diskord 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 5 [15.05.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/05/5434.html


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Stephanie Abke: Sichtbare Zeichen unsichtbarer Kräfte

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Stephanie Abke versteht unter Denunziation "eine sprachliche Formel für die Weitergabe von Informationen [...], die das Ziel verfolgen, eine Person oder Personengruppe in den Augen des Adressaten zu diskreditieren und eine Sanktionierung zu bewirken." (61). Ihr "weit gefasstes Denunziationsverständnis" (55) erstreckt sich nicht nur auf mündliche oder schriftliche Anzeigen bei staatlichen oder politischen Organisationen und Institutionen. Es bezieht sich zusätzlich auf Formen der "Alltagskommunikation". Die vom Denunzianten beabsichtigte Sanktionierung muss nach Abkes Verständnis nicht notwendigerweise durch staatliche Instanzen erfolgen.

Das Untersuchungsfeld dieser Dissertation ist räumlich eng begrenzt. Es umfasst drei Landkreise (Bremervörde, Land Hadeln und Stade) im Regierungsbezirk Stade. Für die Auswahl der Region ist nach den Angaben der Autorin das Niedersächsische Staatsarchiv Stade verantwortlich: "Die Archivleitung war der Auffassung, dass in den Akten durchaus Anhaltspunkte zum Thema 'Denunziation' zu finden sein könnten." (29) Die konkrete Zusammenstellung der ländlich geprägten Kreise ergab sich "im Laufe der Archivarbeit" und begründete sich im Nachhinein durch "strukturelle Ähnlichkeiten".

Die Quellenbasis der Arbeit besteht im wesentlichen aus Gerichtsakten. Für die NS-Zeit liegt ein Schwerpunkt auf einer Auswahl aus Ermittlungs- und Prozessakten der Staatsanwaltschaft Stade und aus Akten des Sondergerichtes Hannover. Auch Amtsgerichtsakten und Lokalzeitungen wurden untersucht. Eine geschlossene schriftliche Überlieferung der jeweils zuständigen Gestapostellen ist nicht erhalten. Eine Erklärung zur Begrenzung des Untersuchungszeitraumes fehlt. Definitionen und Erklärungen enden trotzdem erst auf Seite 78. Sie nehmen damit 20 % des Gesamttextes ein.

Der erste Teil der Recherche enthält Schilderungen und Wertungen von Einzelfällen. In der Phase 1933-1939 geht es um die politische Gleichschaltung, die Verfolgung von Juden und so genannte Wirtschaftvergehen. Während des Krieges sind letztere als Verstöße gegen die Kriegswirtschaftsverordnungen kategorisiert, hinzukommen Denunziationen von ausländische Arbeitskräften und wegen der Nichtbeachtung spezifischer NS-Regeln (so genannte Rundfunkverbrechen, Feindbegünstigung und Defätismus). Die Einzelfälle aus der Nachkriegszeit beziehen sich auf Denunziationen wegen der Zugehörigkeit zu NS-Organisationen und bezüglich der weiterhin geltenden Kriegswirtschaftverordnungen.

Der zweite Teil befasst sich mit "analytischen Gesichtspunkten" (271). Die Autorin kommt zu dem Ergebnis, dass die durch den Staat gesetzten Normen in der NS-Zeit andere waren als während der Zeit der britischen Besatzung; indessen unterschieden sich die Adressaten (Ortspolizisten, Lokalpresse) nicht. Die Bereitschaft von Zeugen zur Aussage hing davon ab, wie sie die Vorwürfe persönlich bewerteten und in welchem Verhältnis sie zu den Beschuldigten standen. Die Motive der Denunzianten waren unterschiedlich.

Sowohl für die These, dass Denunziation ein Unterschichtenphänomen gewesen sei, als auch für die Aussage, dass in der Hierarchie vor allem von unten nach oben denunziert worden sei, führt die Autorin Beispiele an, benennt aber gleichzeitig Gegenbeispiele. Untermauert wird die längst belegte Mutmaßung, dass insgesamt mehr Männer denunziert haben als Frauen. Alltagsgerüchten wurde nur in der NS-Zeit nachgegangen. Die Folgen von Denunziationen waren für die Betroffenen in der NS-Zeit "ungleich härter und unmenschlicher als in der Nachkriegszeit" (346).

Die Analyse der Motive der Denunzianten bestätigt die Beobachtung, dass sie zu einem beachtlichen Teil im scheinbar "Privaten" lagen: Neid, Missgunst, Ärger, Rache. Begünstigt wurde der Neid durch das zwangsweise enge Zusammenleben von Einheimischen und Flüchtlingen nach 1945. Abke meint hier, dass möglicherweise hinter noch wesentlich mehr "politischen" Denunziationen als bisher angenommen rein persönliche Motive gelegen haben könnten. Dieses bezeichnet sie als wesentliches Ergebnis ihrer Arbeit.

Wenige Leser werden mit dem Schreibstil der Autorin glücklich werden. Insbesondere für diejenigen, die nicht Kommunikationswissenschaft betreiben, sind Sätze wie: "Der Übergang von informeller zu institutionalisierter Kommunikation stellt aus dieser Perspektive keinen Bruch, sondern eine Fortsetzung des Denunziationsprozesses unter veränderten Bedingungen und mit andern Mitteln dar" (75) und Wort- und Bildballungen wie "die Aktualisierung des antisemitischen Rassendiskurses" (99), "die offenen Ohren der Verfolgungsinstanzen" (118) oder das "noch weiter" zu spannende "kommunikative Feld" (305) nur schwer zu ertragen. Auf der anderen Seite können Formulierungen wie "Die ganze Persönlichkeit des Bauern stand zur Disposition" (133) durchaus für heitere Momente sorgen. Eher von historischer Naivität zeugt die Empörung darüber, dass die Vertreter des NS-Regimes "privat genutzte Räume [...] akribisch" durchleuchteten (133).

Allerdings gibt es grundsätzlichere Einwände gegen diese Dissertation. Wer je einen Blick in Gestapoakten geworfen hat, weiß, dass Denunziationen konstitutiv für die Arbeit der Geheimen Staatspolizei waren. Nun fehlen aber ausgerechnet die Gestapo-Akten für die ohnehin winzige Untersuchungsregion. Es hilft nicht, dass die Verfasserin diese Quellen als weniger wichtig einschätzt, weil sie die örtlichen Polizeiposten nicht als kleinste Außenposten des Aktionsfeldes der Staatspolizei begreift (44 f., 91). Offenbar geht sie von dem Mythos aus, dass Gestapo (Böse), Kriminalpolizei (Gute) und Schutzpolizei (Unschuldige) vollständig getrennte Institutionen waren. Doch auch sie muss feststellen: "Obwohl die Gestapostellen aus der Perspektive der Landbevölkerung dezentral [sic! - müsste logisch eher zentral heißen] positioniert waren, ist die Bedeutung dieser Terrororganisation in den Augen der Zeitgenossen kaum zu unterschätzen" (92).

Es bleibt offen, wie viele Fälle von Denunziationen insgesamt ausgewertet wurden. Angaben über reale Zahlenverhältnisse werden beispielsweise mit Floskeln wie "sukzessive Abnahme" oder "kurzfristiger Anstieg" (86), relativ große Denunziationsbereitschaft (88) oder "so gut wie keine" (122) beziehungsweise "wenige von mir ausgewertete Denunziationsfälle" (151) vermieden. Die Angabe "zahlreich" wird mit fünf Fällen unterfüttert (315). Generalisierende Aussagen für den gesamten ländlichen Raum des Deutschen Reiches erscheinen auf solcher Basis waghalsig. Gewissheiten über die besonderen Gelegenheiten zur Beobachtung des Lebens der Nachbarn im ländlichen Raum verkennen beispielsweise die Lebensbedingungen der Industriearbeiterschaft während des Bombenkrieges: Auch im Luftschutzkeller blieb nichts privat.

Zu dem ist die Abhandlung seltsam unpolitisch. Das NS-Regime öffnete mit dem absichtlichen Appell an das "gesunde Volksempfinden" die Büchse der Pandora. Die Aufforderung zur Denunziation sowie die Lenkung und Beobachtung von Gerüchten waren gleichzeitig Herrschaftsmittel des Staates und Meinungserforschung in einer Gesellschaft, der man das Recht auf freie Meinungsäußerung genommen hatte. Gleichwohl war die "jederzeit mehrheitsfähige Zustimmungsdiktatur [...] als Deutsche Demokratische Diktatur" (G. Aly) populistisch genug, um an Volkes Stimme interessiert zu sein - und sich gegebenenfalls entsprechend zu verhalten.

Denunziation unter den Bedingungen der Diktatur unterscheidet sich wesentlich von der Denunziation unter den Bedingungen anderer Formen der Herrschaft. Es wäre fruchtbarer gewesen, diesen Unterschied stärker in den Blick zu nehmen. So liefert die ganze Arbeit nichts wirklich Neues. Bei der Suche nach den letzten Motiven der Denunzianten kann es letztlich kaum ein tiefer liegendes Movens als das Böse im Menschen, die "anthropologische Konstante" geben. Der letzten Vermutung von Frau Abke soll aus Sicht der Zeitgeschichtsschreibung und der politischen Wissenschaft deswegen energisch widersprochen werden: Nein, in dieser Richtung sind auch weiterhin keine wirklich "wertvollen Erkenntnisse" zu erwarten.

Ingrid Schupetta