Rezension über:

Beate Mehlin: Gestörte Formation. Erdbebenbewältigung in Benevent und Verwirklichung von Herrschaft im Kirchenstaat von 1680-1730 (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom; Bd. 104), Tübingen: Niemeyer 2003, XIII + 423 S., EUR 64,00

Rezension von:
Birgit Emich
Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg/Brsg.
Redaktionelle Betreuung:
Michael Kaiser
Empfohlene Zitierweise:
Birgit Emich: Rezension von: Beate Mehlin: Gestörte Formation. Erdbebenbewältigung in Benevent und Verwirklichung von Herrschaft im Kirchenstaat von 1680-1730, Tübingen: Niemeyer 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 7/8 [15.07.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/07/5238.html


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Beate Mehlin: Gestörte Formation

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Die Katastrophenforschung hat zwar Konjunktur, aber auch ein Problem: Ob Sturmfluten, Erdbeben oder Feuersbrünste - in aller Regel untersucht sie isolierte Ereignisse, bei denen primär die mentale Auseinandersetzung der Zeitgenossen mit dem Geschehen interessiert. Die Bedeutung der Religion in diesem Prozess wird immer wieder betont, ihr langsamer Rückgang ebenso oft beschrieben. Eine Einbindung in den politischen und ökonomischen Kontext findet hingegen kaum statt; Untersuchungen, die den Umgang mit Katastrophen auch als Phase erhöhter gesellschaftlicher Dynamik, als Machtkampf sehen, sind rar gesät. Genau diesen Mangel will Beate Mehlin in ihrer in Fribourg / Schweiz vorgelegten Dissertation beheben ("Einleitung: Forschungsperspektiven", 1-16).

Umsetzen will Mehlin ihr Vorhaben am Beispiel zweier Erdbeben, die die im Königreich Neapel gelegene, politisch aber zum Kirchenstaat gehörige Exklave Benevent 1688 und 1702 heimgesucht haben. Das Beispiel ist gut gewählt. Denn zum einen sind die Erdbeben samt Folgen zwar schlecht untersucht, aber gut dokumentiert. Und zum anderen erlaubt es der Blick auf zwei Erdbeben innerhalb weniger Jahre, Unterschiede wie Lernprozesse festzuhalten. Um aber auch längerfristige Entwicklungen in den Blick zu bekommen, dehnt Mehlin ihren Untersuchungszeitraum auf insgesamt 50 Jahre aus.

Als drittes Argument für Benevent präsentiert Mehlin den in der Geschichtsschreibung bis heute unreflektiert tradierten Heldenmythos um Vincenzo Maria Orsini. Seit 1686 Erzbischof von Benevent, beim Erdbeben von 1688 nach eigenem Bekunden wundersam gerettet durch den Heiligen Filippo Neri, 1702 ebenfalls vor Ort, ab 1724 als Papst Benedikt XIII. auf dem Stuhl Petri zu finden, nutzte Orsini die Erdbeben, um sich als Retter der Stadt Benevent zu stilisieren und sich damit für Höheres, nämlich für (erreichtes) Papsttum und (gescheiterte) Heiligsprechung, zu empfehlen. Diesen Orsini-Mythos rückt Mehlin in den Mittelpunkt der Studie, allerdings in kritischer Absicht: Sie hinterfragt, wie es zu diesem Bild kommen konnte, und sie überprüft, was Orsini zunächst als Erzbischof, danach als Papst tatsächlich für "seine" Stadt tat. Mit dieser Fokussierung auf Orsini ist keine Verengung des Themas intendiert. Im Gegenteil: Über die Figur des Erzbischofs will Mehlin einen Zugang zu dem finden, was sie eigentlich interessiert: die "gestörte Formation" oder vorsichtiger: die Entwicklung von Staat und Gesellschaft.

Der Aufbau der Arbeit ist übersichtlich und einleuchtend. Anstatt das Geschehen in einzelne Phasen zu zerlegen und diese chronologisch abzuarbeiten, behandelt Mehlin nacheinander die mentale, die politische und die wirtschaftliche Dimension der Beben und ihrer Verarbeitung.

In Teil 1 werden unter der Überschrift "Das Denken, der Glaube und die soziale Realität" (17-85) primär gelehrte Traktate herangezogen und zunächst die Deutungen von Erdbeben und Wundern von der Antike bis zum 17. Jahrhundert referiert. Vor diesem Hintergrund entpuppt sich Orsinis mit Bedacht verbreitete Version des Geschehens als Anspruch auf Herrschaft und Status. Indem er das Beben als Strafe Gottes interpretiert, plädiert er für die traditionelle Position der Kirche und deren Überlegenheit gegenüber den Konkurrenzmodellen der Naturwissenschaft. Indem er sich selbst noch vor dem weltlichen Gouverneur als "Erdbebenmanager" inszeniert, stellt der Erzbischof die Kirche auch über den Staat. Dass er vom Heiligen Filippo Neri gerettet wird, ist ein Prestige förderndes Zeichen göttlicher Auserwähltheit. Und da Neri zu Lebzeiten selbst als Inbegriff kirchlicher Erneuerung galt, ist klar, wofür Orsini erwählt ist: Er ist der Erneuerer der Kirche von Benevent, der auf die Hilfe seines (Schutz-)Patrons Neri bauen und für Benevent damit selbst zum Patron werden kann.

Diesen 1688 formulierten Anspruch unterstreicht Orsini im Beben von 1702: Seine neuerliche Rettung durch den Heiligen erwähnt er nur beiläufig, wichtiger ist nun die von ihm veranlasste Rettung der Reliquien eines weiteren Stadtpatrons. Orsini, so die Botschaft, kann sich auf seinen Patron Neri ebenso selbstverständlich verlassen wie Benevent auf Orsini. Ein Blick auf alternative Deutungen des Geschehens zeigt allerdings, dass Orsinis Lesart nicht unumstritten, das Spektrum der Möglichkeiten breit und eine Einlösung seines Anspruchs in der Praxis nötig war.

Der zweite Teil ("Erdbebenbewältigung im Spiegel der Weltordnung", 87-171) nimmt daher eine Mikroanalyse der politischen Dimension vor. Beleuchtet werden nach den administrativen Rahmenbedingungen die jeweiligen Handlungsweisen und Strategien der Akteure in Rom, in Benevent und auch in Neapel. Ausgestattet mit Kategorien, die Mehlin dem sehr gut untersuchten Pontifikat Pauls V. (1605-1621) entnimmt, konstatiert sie noch für das späte 17. Jahrhundert die gleiche Mischung aus sachbezogenen und personenbezogenen Kriterien bei der Entscheidungsfindung. Diese Verhältnisse, etwas unscharf mit Mikropolitik bezeichnet, kommen Orsini entgegen: Dank seiner guten Beziehungen nach Rom mobilisiert er die Unterstützung der Staatsgewalt, die ihre Hilfe für die Opfer keineswegs als Amtspflicht, sondern als Gnadenakt versteht und daher auch den Untertanen Spaniens im Königreich Neapel zuteil werden lässt. Sowohl diese durch die Schwerfälligkeit des Apparats verstärkte politische Abstinenz der Zentrale als auch die Schwäche der lokalen Akteure erleichtern es Orsini, die praktische Bewältigung der Beben in die Hand zu nehmen: In Rom überlässt man die Aufgabe nur zu gern einem verlässlichen Repräsentanten vor Ort, und da Orsini somit neben dem Patronage- auch den Dienstweg besetzt hält, kann er in Benevent die Führung übernehmen.

Der dritte Teil widmet sich der wirtschaftlichen Dimension ("Gewinner? Verlierer? oder: Die Kosten der Ereignisse", 173-327). Nach einem Blick auf die ökonomischen Rahmenbedingungen werden nacheinander die Kosten der Erdbeben für die Apostolische Kammer, für die Bürger der Stadt und für die Kommune ermittelt. Diese Darlegungen sind in weiten Teilen so akribisch wie scharfsinnig. Mehlins Bemühen, trotz der buchhalterischen Kreativität der Betroffenen (269) zu verlässlichen Zahlen zu kommen, lässt zuweilen an Finanzbeamte im Jagdfieber denken. Zweifel anzumelden sind allerdings an dem Versuch, aus der tatsächlichen Vergabe eines päpstlichen Kredits an die Bürger von Benevent auf die gewünschten Kriterien der Geldvergabe zurückzuschließen. Wenigstens dürften die von Mehlin durchaus erwähnten klientelären Beziehungen der Antragsteller zu den entscheidenden Instanzen die Umsetzung abstrakter Kriterien in der Praxis erheblich erschwert haben.

Die ökonomische Schlussbilanz bleibt gleichwohl überzeugend: Auch wenn das Erdbeben die Finanzmisere der Kommune zwar verstärkt, aber nicht ausgelöst hatte, bot es doch für Orsini die Möglichkeit, sich nun auch als Retter der städtischen Finanzen zu präsentieren. Kaum Papst geworden, spendierte Benedikt XIII. der Stadt einen höchst erfolgreichen Sparfonds. Dass er für die Sanierung Benevents Ansprüche der Kammer und damit des Staates hatte aufgeben müssen, störte ihn nicht: Orsini blieb einem paternalistisch-klientelären Herrschaftsverständnis verhaftet, das letztendlich zum Niedergang des Kirchenstaats führen sollte.

Als Gesamtergebnis (Schluss, 328-332) bleibt festzuhalten: Das Bild Orsinis als Retter von Benevent ist in einem Prozess entstanden, der zwar von Orsini selbst maßgeblich gestaltet, aber erst durch die mentalen, politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Zeit möglich wurde. Diesen Prozess nachzuvollziehen lehrt daher einiges über Staat und Gesellschaft. Die eigentliche Sonde in diese Tiefenschichten sind jedoch die Erdbeben. Weil sie zur Neuordnung der erschütterten Verhältnisse zwingen, machen sie nicht nur den Weg für Karrieren, sondern auch den Blick für ihre Hintergründe frei. Dass sie die Formation von Staat und Gesellschaft gestört hätten, wird man dem Titel zum Trotz bezweifeln dürfen. Dass die Beben diesen Prozess beleuchten, steht nach der Lektüre des Buches aber unerschütterlich fest.

Und das Gesamturteil? Natürlich hat die Fokussierung auf Orsini ihren Preis. So erfährt man nichts über Deutungen und Bewältigungsstrategien der unteren Schichten, nichts über ihre Handlungsweisen und auch nichts über ihre Sicht der Orsini'schen Version. Überdies ist Mehlins Lektüre der Quellen hin und wieder so stark auf Orsini fixiert, dass man einwenden möchte, nicht jeder habe nur wegen, gegen oder für Orsini zur Feder gegriffen. Und weil Mehlin die politische Grenze zwischen Neapel und dem Kirchenstaat zu stark einebnet, bleiben mit den Unterschieden zwischen dem spanischen und dem päpstlichen Herrschaftssystem auch die Spezifika des Kirchenstaats im Dunkeln.

Aber insgesamt ist ein dreifacher Ertrag der durch ein nach Personen und Orten getrenntes Register (417-423) erschließbaren Arbeit festzuhalten: Wer sich für den Kirchenstaat interessiert, findet in Mehlins Buch eine gründliche mikrohistorische Detailstudie zum päpstlichen Herrschafts- und Wirtschaftssystem, die Licht auf die in der Forschung vernachlässigte Zeit um 1700 wirft und nicht zuletzt wegen der zahlreichen Tabellen im über 60-seitigen Anhang (333-394) auch in steuer- und finanzgeschichtlicher Hinsicht einiges zu bieten hat. Wer sich mit Katastrophen befassen will, sollte Mehlins konsequente Kontextualisierung als methodische Anregung verstehen und auch nutzen. Und wer noch immer glaubt, Benedikt XIII. sei ein vergeistigter Unpolitischer auf dem Stuhl Petri gewesen, müsste eigentlich zur Lektüre dieser Studie verpflichtet werden.

Birgit Emich