Rezension über:

Klaus-Peter Friedrich: Der nationalsozialistische Judenmord in polnischen Augen. Einstellungen in der polnischen Presse 1942-1946/47. Phil. Diss. Köln 2003. Elektronische Ressource: http://kups.ub.uni-koeln.de/volltexte/2003/952/

Rezension von:
Andrzej Żbikowski
Institut für Nationales Gedenken, Warschau
Redaktionelle Betreuung:
Marco Wauker
Empfohlene Zitierweise:
Andrzej Żbikowski: Rezension von: Klaus-Peter Friedrich: Der nationalsozialistische Judenmord in polnischen Augen. Einstellungen in der polnischen Presse 1942-1946/47. Phil. Diss. Köln 2003. Elektronische Ressource: http://kups.ub.uni-koeln.de/volltexte/2003/952/, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 7/8 [15.07.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/07/6636.html


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Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Klaus-Peter Friedrich: Der nationalsozialistische Judenmord in polnischen Augen

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Der Bestand der polnischen Untergrundpresse aus den Jahren des Zweiten Weltkriegs ist gewaltig. Allein in Warschau kamen über 700 Pressetitel heraus, davon 1943 nicht weniger als 343. Da sind spezielle Forschungsmethoden anzuwenden, um die Problematik im ganzen zu erfassen. Mit Erfolg hat sich zuletzt Klaus-Peter Friedrich dem Thema gewidmet, der Verfasser der hier vorzustellenden, bislang nur über das Internet zugänglichen Doktorarbeit. Friedrich befasst sich eingehend mit der Widerspiegelung des NS-Judenmordes in der konspirativen Publizistik. Er beginnt seine Analyse an der Jahreswende 1941/42 und setzt sie bis zum Ende der deutschen Okkupation fort. Spätere Kapitel seiner Arbeit (insgesamt etwas mehr als ein Drittel) sind den Abrechnungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit in Polen vorbehalten. Sie stehen mit dem Hauptthema meines Erachtens nur indirekt in Verbindung, wenngleich zu sagen ist, dass es dem Autor gelungen ist, viele heute nahezu völlig vernachlässigte Probleme ans Tageslicht zu bringen. So ist es zum Verständnis der späteren Entwicklung überaus wichtig, daran zu erinnern, dass es gleich nach dem Krieg eine lebhafte Diskussion über die polnisch-jüdischen Beziehungen unter der Okkupation gegeben hat. Die Beobachtungen des Verfassers im Hinblick auf die Nachkriegsstreitigkeiten zwischen Kommunisten, Katholiken und Repräsentanten der Bauernbewegung über die Interpretation des Verhältnisses der Polen zum Holocaust stellen einen wichtigen Beitrag zur Analyse polnischer antisemitischer Phobien dar.

Aus dem Hauptteil der Arbeit sind einige der wichtigsten Feststellungen des Autors hervorzuheben. Die zentrale Presse der Heimatarmee (AK) und der Vertretungsorgane der Exilregierung in London schätzt Friedrich für ihre umfangreichen, genauen und äußerst zeitnah vermittelten Berichte über die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung sowie ihres abgewogenen Tones wegen sehr hoch ein. Die größte Sensibilität zeigten Publizisten des AK-Blattes Biuletyn Informacyjny, und sie schrieben auch als einzige die Begriffe Żyd (Jude) und Żydzi (Juden) konsequent groß, indem sie diese Gruppe als nationale und nicht allein als religiöse Minderheit auffassten. Friedrich stellt fest, dass eine Häufung der Nachrichten in den Zeitraum zwischen Mitte 1942 bis Mitte 1943 fällt. Das Verhältnis der Publizisten von Biuletyn Informacyjny, Rzeczpospolita Polska und sogar des Nachrichtenorgans Kraj angesichts der jüdischen Tragödie war von Mitgefühl und Solidarität geprägt; mit besonderer Anerkennung schrieb man 1943 über die Aufständischen im Warschauer Getto. Selbstverständlich sparte man nicht mit Worten der Verurteilung über die Besatzer, und die Gesellschaft wurde gewarnt, dass nach den Juden die Polen an die Reihe kommen könnten.

Die zentrale "staatstragende" Presse hatte den größten Einfluss auf die Stimmungen im Land. Der Großteil der in ihr publizierten Mitteilungen durchlief jedoch zuvor einen groben Filter, durch den allzu radikal erscheinende Äußerungen abgefangen wurden. Einen besseren Überblick über Stimmungen gibt die Lektüre der illegalen Parteipresse, in der sich ein breites Spektrum von Einstellungen in unterschiedlichen Sektoren der Gesellschaft niederschlug. In den Blättern der nicht kommunistischen Linken (Lewica), die in der Okkupationszeit 80 Titel herausgab, nahm die jüdische Thematik - abgesehen von der katholischen Prawda - den vielleicht größten Raum im Vergleich mit der Presse anderer politischer Strömungen ein. Auch hier lässt sich eine Konzentration der Berichterstattung von der Jahresmitte 1942 bis zur Mitte des folgenden Jahres feststellen, und im Oktober 1942 gelangten Nachrichten über die Judenvernichtung sogar auf die ersten Seiten der linksorientierten Zeitungen. Die Artikel waren stets im Geiste von Mitleid und Solidarität mit den Opfern der Morde gehalten.

Im Gegensatz zur Linken war die Untergrundpresse der polnischen Rechten (Prawica) von einer zweideutigen Haltung gegenüber dem Schicksal der jüdischen Bevölkerung gekennzeichnet. Dieses Thema ist etwas besser bekannt und wurde von den Historikern zuletzt häufig thematisiert. Friedrich stellt fest, dass in dieser nationalistischen Publizistik hauptsächlich über den "Verrat der Juden", ihre Kollaboration mit den Sowjets und überhaupt die Inspiration und Steuerung des Kommunismus durch Juden (żydokomuna) geschrieben wurde. Die Äußerungen in der Presse der Nationalpartei (Stronnictwo Narodowe) unterschieden sich demnach von denen der radikalen und extremen Rechten nur durch den Ton und die Wortwahl und nicht durch ihre Art des Herangehens an die angeblich notwendige "Lösung der Judenfrage" nach dem Krieg - das heißt die Vertreibung der am Leben gebliebenen Juden und die Festschreibung ihrer vollständigen Enteignung.

Ein eigenes Kapitel widmet Friedrich den in der Besatzungszeit nicht allzu aktiven Sanacja-Gruppierungen. Ihre Blätter schenkten der Judenvernichtung relativ wenig Aufmerksamkeit; ihre Nachrichten stammten außerdem gewöhnlich aus zweiter Hand. Über Juden schrieb man meist im Kontext der Abrechnung mit dem Bolschewismus.

Mit offensichtlicher Sympathie stellt Friedrich das Verhältnis zum Judenmord in den demokratischen katholischen Gruppen dar, obgleich er wahrnimmt, wie viele dem nationalistischen Diskurs entlehnte Vorstellungen über die Juden und die polnisch-jüdische Beziehungsgeschichte auch dieses Milieu prägten. Doch war es gerade die Gruppe um die Zeitung Prawda, welche am stärksten darüber beunruhigt war, dass ein Teil der Polen am Judenmord beteiligt war. Nur in diesem Blatt wurde, unmittelbar nach Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges, über Pogrome geschrieben, an denen sich Polen beteiligt hatten. Es unterstützte auch voll und ganz die Bemühungen des Polnischen Untergrundstaats, der Erpressung von sich außerhalb der Gettos und Lager versteckenden Juden Einhalt zu gebieten.

Den beiden verbleibenden politischen Untergrundgruppierungen der Bauernbewegung und der Kommunisten widmet Friedrich etwas weniger Aufmerksamkeit. Für die Bauernbewegung war das Thema zweit- oder drittrangig. Ihr Nachrichtenorgan Wieś enthielt die meisten Nachrichten über die Morde in der Provinz, doch wurde hier genauso oft von Juden berichtet, die Bauern, welche sich ihnen gegenüber barmherzig gezeigt hatten, an die Deutschen auslieferten. Die Darstellung der Judenvernichtung in der prosowjetischen Untergrundpresse wurde, wie Friedrich zu Recht bemerkt, von taktischen Erwägungen der kommunistischen Bewegung beherrscht. Man schockierte die Leser mit makabren Mordschilderungen, um sie zu überzeugen, dass der einzige Weg, sich gegen ein ähnliches Schicksal zu wehren, ein unverzüglich zu beginnender allgemeiner Nationalaufstand sei. Zugleich warf man den übrigen Parteien Antisemitismus und eine entsprechende mangelnde Hilfe für die jüdische Bevölkerung vor.

Friedrichs Darstellung bereichert ganz wesentlich unser Wissen über das Verhältnis der polnischen Gesellschaft zum Mord an der jüdischen Bevölkerung in den Jahren während des Zweiten Weltkriegs.

Andrzej Żbikowski