Reiner Prass / Jürgen Schlumbohm / Gérard Béaur / Christophe Duhamelle (Hgg.): Ländliche Gesellschaften in Deutschland und Frankreich im 18. und 19. Jahrhundert (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte; Bd. 187), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003, 341 S., ISBN 978-3-525-35185-7, EUR 38,90
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Im November 2000 veranstaltete das Göttinger Max-Planck-Institut für Geschichte in Zusammenarbeit mit der Mission Historique Française en Allemagne ein Treffen französischer und deutscher Agrarhistoriker und -historikerinnen, dessen Ergebnisse im nun vorliegenden Band dokumentiert werden. Themen und Ansätze einer "erneuerten" Agrargeschichte, die sich in beiden Ländern seit etwa zehn Jahren in ähnlichen Zusammenschlüssen, der "Association d'Histoire des Sociétés Rurales" und dem "Arbeitskreis für Agrargeschichte", institutionalisiert, sollten bei dieser Tagung verglichen und diskutiert werden. Das in der deutschen und französischen Forschung gleichermaßen auffallende Interesse für das 18. und 19. Jahrhundert, das sich in etlichen die Epochengrenze überschreitenden Arbeiten äußert, ließ eine Konzentration der Tagung auf diesen Zeitabschnitt als sinnvoll erscheinen.
In einer Einleitung bieten Gérard Béaur und Jürgen Schlumbohm einen Überblick über die verschiedenen Forschungstraditionen in Deutschland und Frankreich und die Geschichte ihrer wechselseitigen Beziehungen. Während die Agrargeschichtsschreibung in den 1960er- und 1970er-Jahren in der französischen Historiografie eine erhebliche Rolle spielte, die vor allem durch das Interesse für historische Demografie sowie Wirtschafts- und Sozialgeschichte in der Tradition der Annales-Schule bedingt war, blieb der deutschen Agrargeschichte ein ähnlicher Erfolg verwehrt, wenngleich die Arbeiten von Franz, Lütge und insbesondere Abel und seinen Schülern über Spezialistenkreise hinaus rezipiert wurden und in der DDR die Agrargeschichte eine prominente Stellung einnahm. Die französischen Ansätze, serielle Geschichte, Regionalstudien und Feudalismusanalysen, wurden erst in den späten 1970er-Jahren in Deutschland aufgegriffen, in Frankreich wurde nur wenig von der deutschen Forschung bekannt. Nach einem Erlahmen der agrarhistorischen Produktion in den Achtzigerjahren in beiden Ländern formierte sich in den 1990er-Jahren unabhängig voneinander eine "neue" Agrargeschichte, deren Fragestellungen sich zu ähneln scheinen. An fünf Themenkomplexen, die von jeweils zwei bis drei Autoren bearbeitet wurden und die einen Übersicht über den Stand der Forschung und Forschungsdesiderate geben, werden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der "neuen" Agrargeschichte überprüft: Seigneurie - Gutsherrschaft; Groß- und Kleinbetriebe; Vererbung - Familie - Geschlecht; kollektive Nutzungen; Bodenmarkt.
Ähnliche Ansätze, die weitgehend unabhängig voneinander entwickelt wurden, zeigen sich in den neueren Analysen von Gutsherrschaft und Seigneurie / Grundherrschaft. In einem breit angelegten Beitrag fasst Werner Trossbach die Geschichte der ostelbischen Gutsherrschaft seit dem 16. Jahrhundert und ihrer Historiografie zusammen. Standen früher Fragen nach dem Anteil gutsherrschaftlichen Landes, der Frondienste und ihrer Auflösung sowie der bäuerlichen Widerstandsbereitschaft im Mittelpunkt des Interesses, so widmete sich die Potsdamer Forschergruppe um Jan Peters seit den 1990er-Jahren der Erforschung der Herrschaftspraxis. Mit der Beobachtung eines "asymmetrische Balancierens" im Verhältnis zwischen Gutsherren und Bauern verkennt dieser Forschungsansatz nicht den repressiven Charakter der Gutsherrschaft, kann aber mit der Konzentration auf Mikrobereiche die Handlungsspielräume der Beteiligten besser ausleuchten.
Der Forschungsüberblick zur Seigneurie / Grundherrschaft in Frankreich von Annie Antoine zeigt, dass auch hier nach rechts-, sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Schwerpunkten in früheren Jahrzehnten seit einiger Zeit nach der lokalen Funktionsweise von Grundherrschaft gefragt wird - mit ähnlich relativierenden Ergebnissen: Erstattete ein Bauer seinen in der Regel nicht sehr hohen Grundzins, kaufte er kein Land und war er in keinen Rechtsstreit einbezogen, dann, so Annie Antoine, bemerkte er von der Institution Grundherrschaft recht wenig.
Mit der Frage der Innovationsfähigkeit unterschiedlicher Betriebsgrößen befassen sich Jean-Marc Moriceau, Jean-Michel Boehler und Frank Konersmann. Während Moriceau und Boehler, aufbauend auf dem Material ihrer großen Thèses, die Voraussetzungen für agrarischen Fortschritt in Groß- und Kleinbetrieben untersuchen, resümiert Konersmann die Behandlung der Betriebsgrößenfrage in der deutschen Agrar- und Sozialgeschichte. Verstärkte Marktorientierung, Veränderungen in der inneren Betriebsstruktur durch die Zwischenschaltung von Vorarbeitern zwischen Landwirt und Arbeitern und die Reduktion der Arbeitskräfte pro Flächeneinheit sowie technische Modernisierung und Zuchterfolge sind als deutliche Zeichen des Wandels in den innovativen Großbetrieben im Umland von Paris seit der Mitte des 18. Jahrhunderts festzustellen. Ermöglicht wurde dieser Fortschritt durch die strukturellen Vorteile der Großpächter dieser Betriebe: ein hohes Bildungsniveau, gute Kommunikationsnetze, starke Familientraditionen, langfristige Pachtverträge, ein guter Bestand an Vieh und Maschinen. Befindet sich Moriceau mit diesen Befunden in einer langen Tradition wirtschaftstheoretischer Diskussion, die den landwirtschaftlichen Fortschritt nur in Großbetrieben für möglich hielt, so stellt Boehler mit seinen Untersuchungen zu eher kleinbäuerlich dominierten Regionen westlich des Rheins, namentlich Elsass und Flandern, dem ein anderes Modell entgegen. Intensive Landwirtschaft wurde hier möglich durch einen hohen Einsatz von Dünger, durch die Diversifizierung im Pflanzenbau und ausgeklügelte langjährige Fruchtfolgen. Damit wurden eine Erschöpfung des Bodens vermieden und Erträge erzielt, die denen des Pariser Umlandes durchaus gleich kamen.
Konersmann zeichnet die Debatten über die Leistungsfähigkeit unterschiedlicher Betriebsgrößen in der deutschen Agrarwissenschaft und Agrargeschichte seit dem 18. Jahrhundert nach. Einer an der Subsistenz und Steuerfähigkeit der Untertanen orientierten und somit Kleinbetriebe befürwortenden Sichtweise der Kameralisten des 18. Jahrhunderts folgte seit dem Ende des Jahrhunderts zunehmend eine Favorisierung größerer Wirtschaftseinheiten. Im 19. Jahrhundert dominierte die auf empirischen Beobachtungen und ökonomischen Prinzipien basierende Überzeugung, dass aus volkswirtschaftlicher Sicht eine Mischung unterschiedlicher Betriebsgrößen einem Vorherrschen von Großbetrieben vorzuziehen sei, während sich dann die nationalökonomische Ansicht durchsetzte, dass Großbetriebe betriebswirtschaftlich profitabler seien. Mikrohistorische Untersuchungen der letzten Jahre, die die ökonomische Praxis einbinden in den "Alltag" der Akteure, in ihre sozialen Beziehungen, ihre kulturellen Orientierungen und Traditionen, rücken von auch in der Agrargeschichte verbreiteten Urteilen nach betriebswirtschaftlichen Kriterien ab. Am Beispiel der agrarhistorisch bekannten Dörfer Unterfinning, Belm, Neckarhausen und Laichingen weist Konersmann die Existenzfähigkeit unterschiedlicher Modelle auf.
Mit ihrer Darstellung von Diskursen in Politik und Wissenschaft und "Praktiken in der ländlichen Gesellschaft" arbeitet sich Susanne Rouette ähnlich wie Konersmann an ihr Thema "Erbrecht und Besitzweitergabe" heran. Ausgehend von einer Kritik an der von der "Kulturraumforschung" der 1930er-Jahre geprägten Einteilung deutscher Regionen in Realteilungs- und Anerbengebiete skizziert sie die Diskussion über bäuerliches Erbrecht vom 19. Jahrhundert bis zum nationalsozialistischen Reichserbhofgesetz. Auch in diesem Bereich hat sich in den letzten Jahrzehnten die Aufmerksamkeit von der Norm zur Praxis verschoben, wie Rouette an den Arbeiten über Belm, Bretzwil, Neckarhausen und eigenen Forschungen zum westfälischen Diestedde nachweist. Antoinette Fauve-Chamoux verbindet mit der Frage nach der Besitzweitergabe die nach den familiären Machtverhältnissen und der Rolle der Frauen in Systemen mit egalitärer und mit inegalitärer Vererbung sowie nach den durch den Code Civil angestoßenen Veränderungen im Erbrecht. Durch den Hinweis auf flexible familiäre Anpassungen auf soziale und ökonomische Verschiebungen in Regionen inegalitärer Besitzweitergabe fügt sie der alten Vorstellung eines deutlich zu unterscheidenden Südens mit Alleinerbrecht und eines Nordens mit Erbteilung eine deutlich komplexere Realitätskomponente hinzu.
Vornehmlich am Beispiel des Themas Arbeit erläutert Heide Wunder die Relevanz der Geschlechtergeschichte für die Agrargeschichte. Ihre Überlegungen zu Arbeitsteilung und Arbeitsbeziehungen führen zu einer Differenzierung eines haushaltsbezogenen und eines volkswirtschaftlichen Begriffs von Arbeit und Arbeiten.
Reiner Prass beschreibt im Detail die Funktion kollektiver Nutzungen in der bäuerlichen Ökonomie und die Auseinandersetzungen um ihre Intensivierung. Die wirtschaftliche und soziale Bedeutung der "Gemeinheiten" steht auch im Mittelpunkt des Beitrages von Nadine Vivier. Sie geht darüber hinaus auf die Diskussion des ausgehenden 18. Jahrhunderts, ob die kollektiv nutzbaren Flächen als das "Gut des armen Mannes" zu betrachten seien, mit lokal unterschiedlichen Resultaten ein.
Das Thema des ländlichen Bodenmarktes wird von Gérard Béaur und Stefan Brakensiek behandelt. Béaur zeigt, basierend auf eigenen Forschungen, die mit dem Besitzerwerb einhergehenden sozialen Verschiebungen, die enge Verknüpfung des Besitzwechsels mit Wirtschaftskonjunkturen, die familialen Strategien beim Bodenerwerb und die aus diesen Faktoren resultierenden generationellen Chancen zur Besitzerweiterung. Brakensiek entwickelt ausgehend von drei Mikrostudien Vorstellungen und Fragen zu diesem in der deutschen Forschung noch weitgehend unbehandelten Thema. Die Beziehung zwischen Normen und Praxis, die Hintergründe der Preisbildung, die Gründe für eine weitgehende Abstinenz von nicht-lokalen Käufergruppen sollten als Themen einer zukünftigen Beschäftigung dazu beitragen, über die Besonderheit der Ware "Boden" Rückschlüsse auf die Vorstellung sozialer Ordnung zu erlangen.
Mit dem Tagungsband ist den Herausgebern ein über die Forschungstraditionen und neu beschrittenen Wege der Agrargeschichte in Deutschland und Frankreich informierendes Werk gelungen. Gerade die Gegenüberstellung von Texten zu ähnlichen Themenkomplexen macht auf die Stärken und Schwächen der jeweiligen Ansätze aufmerksam. An den französischen Beiträgen wird die große Tradition der dortigen Agrar- und Sozialgeschichtsschreibung deutlich. Mit für deutsche Verhältnisse beneidenswerter Leichtigkeit können die Autoren empirisch aus dem Vollen ihrer zahlreichen Regionalstudien schöpfen. Dass die deutsche Agrargeschichtsschreibung hier aber aufgeholt hat, zeigen die ähnlichen Erkenntnisse in vielen Bereichen, die einer mehr handlungs- und praxisorientierten Analyse zu verdanken sind. Auffällig ist hier die fast allen deutschen Beiträgen gemeinsame ausführliche Nutzung der mikrohistorischen Pionierstudien von Jürgen Schlumbohm, Hans Medick, David Sabean und Rainer Beck, was auf den hohen Wert dieser Arbeiten, aber auch auf die noch zu leistenden Forschungsanstrengungen hinweist.
Gunter Mahlerwein