Angelika Wesenberg / Nicole Hartje / Anne-Marie Werner (Hgg.): Ilja Repin - Auf der Suche nach Russland. Katalog zur Ausstellung im Saarland Museum, Stiftung Saarländischer Kulturbesitz (11.5. - 3.8.2003), Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin (15.8. - 2.11.2003), Berlin: Nicolaische Verlagsbuchhandlung 2003, 218 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-89479-092-9, EUR 29,90
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Im vergangenen Jahr wurde Ilja Repins Werk in Deutschland erstmals in einer großen Einzelausstellung gewürdigt, die im Saarland Museum in Saarbrücken und in der Nationalgalerie Berlin gezeigt wurde. Bisher waren hier zu Lande einzelne Werke des Künstlers nur in einem größeren thematischen Zusammenhang, wie Ausstellungen zum russischen Realismus und zur Wanderer-Bewegung, präsentiert worden. [1] Ein Großteil der in Saarbrücken und Berlin gezeigten Gemälde und Grafiken stammt aus der Staatlichen Tretjakow-Galerie, aber auch aus dem Puschkin Museum und dem Museum der Neueren Geschichte Russlands in Moskau sowie dem Kunstmuseum Ateneum in Helsinki konnten Arbeiten Repins geliehen werden. Umfang und Auswahl der Werke erinnern an die 2001 in Groningen konzipierte Werkschau Ilja Repins. [2]
Im großzügig, mit vielen Farbaufnahmen bebilderten Begleitbuch zur Ausstellung werden nicht nur wie im Groningen-Katalog die Gemälde, sondern darüber hinaus Grafiken in einem umfangreichen Katalogteil ausführlich besprochen und zusätzlich durch Zitate aus Briefen und Erinnerungen Repins und seiner Freunde ergänzt. Dem Katalog sind sechs Aufsätze vorgeschaltet, in denen Künstler und Werk aus unterschiedlichem Blickwinkel vorgestellt werden. Den Abschluss der Publikation bilden eine ausführlich kommentierte Biografie von Nicole Hartje sowie ein Personenregister.
Galina S. Tschurak verfolgt im ersten Katalogbeitrag Repins Bildthemen und deren künstlerische Umsetzung entlang wichtiger biografischer Daten (11-18). Beispielsweise steht das Gemälde "Kreuzprozession im Gouvernement Kursk" von 1883 exemplarisch für Repins Nähe zur Künstlervereinigung "Genossenschaft für Wanderausstellungen", der er 1874 beitrat. Hier würde sich die für Repin charakteristische Psychologisierung sowie soziale Typisierung der Menschen mit dem für die Wandererbewegung typischen Sujet der "Darstellung von Volksmassen" (15) verbinden. Tschurak hebt hervor, dass sich Repins Kunst nicht auf eine Bildgattung, ein bestimmtes Sujet oder eine spezifische Manier festlegen lässt. Dafür dienen ihr nachfolgend die Porträtkunst und die Historienmalerei Repins als Argumente.
Auch Angelika Wesenberg beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit Lebensweg und künstlerischer Entwicklung von Repin, allerdings im Vergleich mit Max Liebermann und mit Blick auf die spezifische gesellschaftspolitische Rolle, die der Kunst in Deutschland und Russland zukam (19-27). Anders als in Deutschland gab es in Russland einen regen Austausch zwischen den verschiedenen Künsten, und russische Kunstkritiker beobachteten die Entwicklung junger Künstler. Im Zwiespalt zwischen Individualität und gesellschaftlicher Gebundenheit wurde Repin den Erwartungen der russischen Intelligenz hinsichtlich einer "sozialen Bedeutsamkeit" der Malerei gerecht, allerdings hätte Repins stete künstlerische Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Ereignissen nicht die formal-ästhetische Entwicklung seiner Kunst beeinflusst (19). Trotz dieser Eigenheiten des russischen Kunstbetriebs und den unterschiedlichen Themenkreisen, denen sich Repin und Liebermann zuwendeten, verweist Wesenberg auf biografische, aber auch intentionale Verbindungslinien: Sowohl Repin als auch Liebermann suchten ihrer Meinung nach die "Dinge des alltäglichen Lebens" und die "überzeitliche Bedeutung" einzufangen (23).
Mit der in der Kunstgeschichtsschreibung, besonders in der sowjetischen, betriebenen Stilisierung Repins zum Hauptvertreter der russischen Wanderer-Bewegung setzt sich Ada Raev auseinander (28-36). Sie weist darauf hin, dass Repin der Künstlervereinigung nur zeitweise angehörte und nicht selten Positionen wechselte, womit sie seine spätere Lehrtätigkeit an der Kaiserlichen Akademie oder die kurzzeitige Mitarbeit an der sich ästhetisch vom Akademismus und dem Realismus der Wanderer absetzenden Zeitschrift "Mir iskusstwa" meint. Raev verweist hier zu recht auf Repins Auffassungen über die Rolle des Künstlers, seine ästhetische Offenheit sowie die generellen Bedingungen des russischen Kunstbetriebes.
Mit den stilistischen Brüchen in der Kunst Repins beschäftigt sich Anne-Marie Werner anhand seines zeichnerischen Werkes (37-43). Sie konstatiert eine Entwicklung vom linearen zum malerischen Stil, der ihrer Meinung nach mit dem Wandel ästhetischer Ansichten des Künstlers infolge seines Austritts aus der Genossenschaft der Wanderer und der Aufnahme seiner Lehrtätigkeit an der Akademie überein geht. (43). Sie macht in Repins Frühwerk eine "Ökonomie zeichnerischer Mittel" und eine "stärkere Wertung der Umrisse als der Binnenzeichnung" aus (40), während Repin zu Beginn der 80er in impressionistischer Weise Licht und atmosphärische Effekte einzufangen versucht hätte und Binnenzeichnungen nun "Unabhängigkeit von den Konturen" aufweisen würden (41).
Dem freundschaftlichen Verhältnis zwischen Tolstoi und Repin, die sich beide auf dem Zenit ihres Schaffens 1880 kennen lernten, sowie den Auswirkung dieser Beziehung auf das Schaffen des Malers widmet Galina S. Tschurak ihren zweiten Katalogbeitrag (44-49). Neben Repins Korrespondenz mit Tolstoi und dessen Familienangehörigen, dokumentiert vor allem eine Vielzahl von Porträtzeichnungen Repins Auseinandersetzung mit Tolstoi, die jedoch in Tschuraks Beitrag nur knapp zur Sprache kommt.
Nicole Hartje vergleicht abschließend die wichtigsten Stiftungen privater Kunstsammlungen in Deutschland und Russland miteinander, welche den Grundstock späterer Nationalmuseen bildeten (50-56). Zunächst analysiert sie die Voraussetzungen für die Gründungen von Nationalgalerien in beiden Staaten und bestimmt als auslösende Momente das Ende der napoleonischen Kriege und die Förderung einer gemeinsamen kulturellen Tradition sowie das Bewusstsein für die staatliche Einheit. Während die Museumsgründungen in Deutschland auf das Bildungsbedürfnis des Bürgertums und dessen Selbstdarstellung zurückzuführen seien, hätten sich in Russland kulturelle Reformen allein in Opposition zum bestehenden System entwickelt. Unterschiede werden auch in der Gegenüberstellung von Sammlungspraxis und Stiftungsvorhaben der Mäzene Joachim H.W. Wagener in Berlin und Pawel M. Tretjakow in Moskau sichtbar. Während Wagener von Anfang an deutsche Kunst, vornehmlich der 30er bis 50er-Jahre des 19. Jahrhunderts, förderte, interessierte sich Tretjakow zunächst für die westeuropäische Kunst, um dann die russische Malerei in ihrer gesamten Entwicklung des 19. Jahrhunderts abzudecken. Letztlich vermachten beide ihre Sammlungen mit der Auflage, dass diese zur Stiftungsgrundlage nationaler Museen würden.
Alles in allem vermitteln die Katalogbeiträge einen Einblick in die Vielseitigkeit von Person und künstlerischem Schaffen Repins. Es ist durchaus nachvollziehbar, dass deshalb vermieden wurde, von Repin losgelöst Positionen der russischen Malerei und ihrer gesellschaftlichen Gebundenheit zu diskutieren. Der Aufsatz von Hartje zum deutschen und russischen Stifterwesen stellt somit eine Ausnahme, allerdings eine außerordentlich erfrischende, dar. Hier wie auch in den Beiträgen von Raev sowie Wesenberg werden dem Leser Eigenheiten des russischen Kunstbetriebs sowie die spezifische Rolle von Kunst und Künstler in Russland, die wesentlich für das Verständnis von Repins Werk sind, auch im Vergleich zu zeitgleichen deutschen Positionen deutlich gemacht. Allerdings gewinnt der Leser zuweilen den Eindruck, dass die Tiefe von Repins ästhetischem und motivischem Instrumentarium nicht ganz ausgelotet wurde. Hier hätte man sich zuweilen die Lösung von biografischen Daten und eine stärker systematisierte Rückbindung stilistischer Beobachtungen sowie der Vielfalt der Bildsujets an kunsttheoretische und gesellschaftliche Diskurse der Zeit gewünscht: Beispielsweise wären Repins künstlerische Leistungen im Kontext einer nationalen Identitätsstiftung, zu der die russische Malerei generell in breitem Maße beitrug, eine eigene Untersuchung Wert gewesen. Trotz einer manchmal vermissten diskursfreudigeren Bewertung von Repins Werk stellen der äußerst ansprechend gestaltete Katalog sowie die Ausstellung selbst einen weiteren wichtigen Schritt dar, das deutsche Publikum mit der hier zu Lande auch von der Kunstgeschichte lange vernachlässigten Malerei Russlands zum 19. Jahrhundert bekannt zu machen.
Anmerkungen:
[1] Klaus Gallwitz (Bearb.): Russischer Realismus 1850-1900, Ausstellung Staatliche Kunsthalle Baden-Baden, 24.11.1972 - 25.2.1973, Baden-Baden 1972; Jakow W. Bruk (Bearb.), Russische realistische Malerei 1860-1890, Ausstellung Staatliche Museen zu Berlin, National-Galerie, August / September 1976, Berlin 1976; Stefanie Poley (Hg.): Russische Wandermaler. Die russischen Realisten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Ausstellung Wilhelm-Lehmbruck-Museum der Stadt Duisburg, 04.05. - 15.06.1980, Duisburg 1980; Galina Churak / Ljudmila Bobrowskaja (Hg.): Der befreite Blick. Russische Kunst vom Realismus zur Abstraktion aus der Tretjakow Galerie Moskau (1880-1930), Ausstellung Kulturgeschichtliches Museum / Felix-Nussbaum-Haus, Osnabrück, 02.12.2001 - 01.04.2002 / National Gallery of Iceland, Reykjavik, 27.04. - 16.06.2002, Osnabrück 2001.
[2] Henk van Os / Sjeng Scheijen (Hg.): Ilja Repin. Het geheim van Rusland, Ausstellung Groninger Museum, 15.12.2001 - 07.04.2002, Zwolle 2001.
Kristin Böse