Rezension über:

Roger Owen: Lord Cromer. Victorian Imperialist, Edwardian Proconsul, Oxford: Oxford University Press 2004, XXIII + 436 S., ISBN 978-0-19-925338-8, GBP 25,00
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Rezension von:
Dierk Walter
Hamburger Institut für Sozialforschung
Redaktionelle Betreuung:
Jürgen Zimmerer
Empfohlene Zitierweise:
Dierk Walter: Rezension von: Roger Owen: Lord Cromer. Victorian Imperialist, Edwardian Proconsul, Oxford: Oxford University Press 2004, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 9 [15.09.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/09/6316.html


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Roger Owen: Lord Cromer

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Gute historische Biografien erzählen nicht einfach nur ein Leben nach - sie spiegeln die Person in der Zeit und die Zeit in der Person. Natürlich wirft diese Wechselwirkung methodische Probleme auf; nicht immer ist für den Leser völlig klar, ob gerade das Besondere zur Illustration des Allgemeinen oder das Allgemeine zur Erklärung des Besonderen herangezogen wird. Dennoch kann die schwierige Literaturgattung historische Biografie im Idealfall für unser Verständnis der Strukturen, in denen sich die betreffende Person bewegt und die sie womöglich mitgeschaffen oder -geprägt hat, außerordentlich fruchtbar sein.

In diesem Sinne ist die vorliegende Biografie einer Zentralfigur des britischen Imperialismus um 1900 ein wesentlicher Beitrag zum Verständnis der komplexen Strukturen der Expansion und des Ausbaus des imperialen Systems, die sich eben, dem immer noch geläufigen Bild zum Trotze, keineswegs als Regel auf die schnelle Etablierung formaler Herrschaft beschränkten. Gerade die britische Vorherrschaft in Ägypten, die de iure niemals formale Kolonialherrschaft wurde, de facto aber schon vor 1914 diesem Zustand immer näher kam, ist in dieser Hinsicht ein besonders aufschlussreiches Beispiel.

Da britischer Einfluss und britische Herrschaft in Ägypten für Jahrzehnte gleichbedeutend mit dem Namen Baring beziehungsweise Cromer waren, kann man von einer modernen Cromer-Biografie zu Recht wesentliche Aufschlüsse in dieser Hinsicht erwarten. Roger Owen wird diesem Anspruch durchweg gerecht, auch wenn die Schlüsse dem Leser eher nahe gelegt als tatsächlich explizit gemacht werden (was aber keineswegs eine unerfreuliche Erfahrung sein muss). Einschlägiges Hintergrundwissen über die Welt des 19. Jahrhunderts, die Struktur des britischen Empire, über Staat und Gesellschaft in Großbritannien, Indien und zu einem gewissen Grade auch Ägypten setzt der Autor allerdings umstandslos voraus. Es ist daher schwer vorstellbar, dass ein historischer Laie aus dieser Biografie viel Gewinn zieht; dafür sind die äußeren Umstände des Lebens und Wirkens der Hauptfigur schlechterdings dem modernen (zumal deutschen) Leser doch wohl zu fremd.

Evelyn Baring, First Earl of Cromer (1841-1917), Spross einer bekannten Bankiersfamilie, gehörte nach eher durchschnittlicher, teils ziviler, teils militärischer Schulbildung, und einer nur kurzen Karriere als Artillerieoffizier schon früh zur politisch-administrativen Funktionselite des britischen Imperialismus. Seine diesbezüglichen Lehrjahre erlebte er 1862-64 als Aide-de-camp (Adjutant) des britischen Hohen Kommissars auf Korfu und dann 1864-67 des Gouverneurs von Malta. In beiden Arbeitssituationen kam Baring schon in jungen Jahren in engen Kontakt mit den Aufgaben und Mechanismen britischer Kolonialverwaltung, was im Mikrokosmos der Minikolonien Korfu und Malta aufgrund der sehr viel kleineren Verwaltungen besonders aufschlussreich gewesen sein muss. Nach einer kurzen Rückkehr ins Militärleben, während der er das neu gegründete Staff College in Camberley absolvierte und im Kriegsministerium an den Cardwell'schen Militärreformen mitarbeitete, war Baring 1872-76 als Privatsekretär des Vizekönigs von Indien, Lord Northbrook, erneut in der Situation, imperiale Administration in unmittelbarer Nähe zum Machtzentrum an der Peripherie in der Praxis erlernen zu können, wobei sein eigener Verantwortungsbereich die Öffentlichkeits- und Pressearbeit der Regierung war.

Es folgten Heirat und eine weitere kurze Zeit in der Nachrichtenabteilung im Kriegsministerium. Der Wendepunkt in Barings Karriere war dann 1877 die Ernennung zum britischen Vertreter in der Caisse de la Dette Publique, der internationalen Schuldenverwaltung des Khedivenreichs. Sie begründete seinen Ruf als Finanzfachmann und seine lebenslange Verbindung mit Ägypten. Von da bis zum Ende seiner aktiven Laufbahn 1907 (abgesehen von einer Tätigkeit als für Finanzen zuständiges Mitglied des vizeköniglichen Rates in Indien 1880-83) war Baring zunächst mit- und dann zunehmend alleinverantwortlich für die Vertretung der britischen Finanzinteressen in Ägypten.

Der nicht allzu sehr an Finanzfragen interessierte Leser wird weite Teile des Buches, die sich mit der Verwaltung der ägyptischen Steuern und Finanzen befassen, und die Owen von der Anlage zweifellos als zentrale Elemente ansieht, wohl eher zäh finden. Es empfiehlt sich aber, sich doch hindurch zu kauen, denn das Bild, das sich am Ende herausschält, ist ein äußerst aufschlussreiches und faszinierendes. Wir sehen Baring (ab 1892 Lord Cromer), der aus Tradition und Überzeugung politisch liberal, ja seiner eigenen Auffassung zufolge sogar radikal war, nicht nur funktional, sondern auch gedanklich zunehmend hineinwachsen in eine Rolle, die er selbst anfänglich weit von sich gewiesen hätte. Aus dem Finanzfachmann, der öffentlich und privat den offiziellen Regierungskurs eines schnellen Rückzugs aus Ägypten nach der Intervention 1882 unterstützte, wird über die Jahre beinahe unfreiwillig der paternalistische, sendungsbewusste und schließlich autokratische Prokonsul und de-facto-Selbstherrscher Ägyptens. Nicht in erster Linie Cromer wandelt sich, sondern unter seiner Hand wandelt sich, ohne dass es eine Absicht oder einen Generalplan gegeben hätte, der Khedivenstaat von einer souveränen politischen Entität - wenn auch mit einem Schuldenproblem - zu einem britischen Protektorat und am Ende für alle praktischen Zwecke zu einer Kolonie. Eine formale Herrschaftsübernahme findet nie statt; auf dem Papier bleibt Cromer stets der ausländische Berater der Regierung, eine Art graue Eminenz. Und doch ist er in der zweiten Hälfte seiner Amtszeit längst der tatsächliche Herrscher Ägyptens, der mit Rückendeckung Londons (die er, ganz man on the spot, gestützt auf seinen Wissensvorsprung und die Nähe zu den Ereignissen in der Regel beinahe mühelos abzurufen versteht) auch ägyptische Minister absetzen und Truppen in den Sudan schicken kann. Dieser schleichende, über weite Strecken unfreiwillige und ungesteuerte Wandlungsprozess von informellem Einfluss zu etwas, das von formaler Herrschaft kaum mehr zu unterscheiden ist, ist für mich die Quintessenz des Buches im Hinblick auf das weitere Feld der Imperialismusforschung - man wünschte nur, Owen hätte die Transformation etwas deutlicher und expliziter nachgezeichnet.

Am Ende seines Lebens - Owen zeigt das sehr schön an einer Analyse seines Hauptwerkes "Modern Egypt" (2 Bde. New York: Macmillan 1908) - ist Cromer ein überzeugter Vertreter der paternalistischen Variante der zivilisatorischen Mission Britanniens, der orientalische Völker per definitionem als unfähig zur Selbstregierung betrachtet. Dabei wird aus dem Buch unzweifelhaft deutlich, dass dieser Essentialismus (der mitunter an Rassismus grenzt) nicht in kulturellen Prädispositionen der mutterländischen Gesellschaft vorangelegt ist, sondern aus der biografischen Erfahrung an der Peripherie des Imperiums weitgehend neu entsteht. Cromers Herrschaftsanspruch ist das Resultat der Herrschaftspraxis.

Der Mensch Baring / Cromer kommt in dem Buch natürlich nicht zu kurz, wobei die Tatsache, dass das Privatleben weitgehend aus am Lebensende abgefassten Erinnerungen rekonstruiert wird, zu gelegentlichen Lücken und bloßen Vermutungen führt. Die rein chronologische Vorgehensweise, die bei der Biografie nahe liegt, ist mitunter auch in ihrer Sprunghaftigkeit verwirrend. Insgesamt ist Owen aber mit der Verknüpfung von privatem Nachlass, offiziellen Quellen und einem breiten Literaturkorpus eine bemerkenswerte Forschungsleistung gelungen. Wenn man dabei schlussendlich nicht umhin kann, den Menschen Cromer irgendwo auch zu mögen, so soll das nicht dahin missverstanden werden, dass Owen seinem Helden gegenüber etwa unkritisch wäre; das Gegenteil ist der Fall.

Dierk Walter