Rezension über:

Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften: Neue Deutsche Biographie. Bd 21: Pütter-Rohlfs, für die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hg. von Hans Günter Hockerts, Berlin: Duncker & Humblot 2003, XVI + 816 S., ADB & NDB-Gesamtregister auf CD-ROM, ISBN 978-3-428-11202-9, EUR 138,00
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Rezension von:
Armin Nolzen
Bochum
Redaktionelle Betreuung:
Winfried Süß
Empfohlene Zitierweise:
Armin Nolzen: Rezension von: Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften: Neue Deutsche Biographie. Bd 21: Pütter-Rohlfs, für die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hg. von Hans Günter Hockerts, Berlin: Duncker & Humblot 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 10 [15.10.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/10/5699.html


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Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften: Neue Deutsche Biographie

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Seit mehr als fünfzig Jahren gibt die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften die Neue Deutsche Biographie (NDB) heraus, die mittlerweile auf 21 Bände mit fast 19.000 Artikeln angewachsen ist. Ziel dieses Mammutunternehmens ist es, über verstorbene Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens aus dem deutschen Sprachraum zu informieren, die durch ihre Leistungen politische, ökonomische, soziale, wissenschaftliche, technische oder künstlerische Entwicklungen beeinflusst haben. Die NDB ist das Nachfolgeprojekt der Allgemeinen Deutschen Biographie (ADB), die zwischen 1875 und 1912 in insgesamt 55 Bänden publiziert wurde. Im Unterschied dazu hat man die Einträge der NDB standardisiert und modernen lexikalischen Gepflogenheiten angepasst. Sie enthalten Namen, Berufsbezeichnung, Geburtsdatum und -ort sowie Todesdatum und -ort, Grabstätte, Konfession, Familienangaben, Lebenslauf, Auszeichnungen und Ehrungen, ein Werk-, Quellen- und Literaturverzeichnis sowie einen Porträtnachweis. Die NDB bietet also nicht nur einen Einstieg in Leben und Werk der porträtierten Personen, sondern liefert gezielte Informationen für weitere Recherchen.

Der 21. Band der NDB, der im Juli 2003 erschien, umfasst insgesamt 837 biografische Artikel, darunter 45 Beiträge, in denen mehrere Generationen einer Familie behandelt werden. In den Einzelbiografien finden sich so unterschiedliche Personen wie der Staatstheoretiker Samuel Freiherr von Pufendorf (1632-1694), der Ende des 15. Jahrhunderts lebende, dem Humanismus zuzurechnende Dichter Matthias Ringmann und der 1992 verstorbene Sozial- und Wirtschaftsethiker Arthur Rich, der als Pionier einer auf den Dialog mit den Wirtschaftswissenschaften ausgerichteten evangelischen Wirtschaftsethik gilt. Die Familienartikel wiederum reichen von der Karlsbader Hotelierdynastie Pupp über die preußischen Freiherren von Richthofen bis zur saarländischen Unternehmerfamilie Röchling, die sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts auf die Eisen- und Stahlproduktion verlegte und auch heute noch eines der größten deutschen Familienunternehmen ist. Ein Novum besteht in der Aufnahme dreier Sportler. Dabei handelt es sich um Fritz Albert Erich Rademacher, einen Brustschwimmer, die Fliegerin Hannah Reitsch, die sich nach 1933 bereitwillig in den Dienst des NS-Regimes gestellt hatte, sowie den österreichischen Formel-1-Weltmeister Jochen Rindt, den "James Dean des Motorsports". Allerdings scheinen dem Rezensenten weder die Schmetterlingstechnik, der Rademacher den Weg bereitete, noch die von Reitsch mitentwickelte Sturzflugbremse, noch Rindts Husarenstück in der letzten Runde des Grand Prixs von Monte Carlo, als er den Führenden Jack Brabham in einen Fahrfehler trieb, eine Aufnahme dieser drei Sportler in die NDB zu rechtfertigen.

Dies sind aber auch fast schon die einzigen Fälle, in denen die Auswahlkriterien der NDB-Redaktion zu beanstanden sind. Sie werden durch die einzigartige inhaltliche Qualität der anderen Beiträge mehr als wettgemacht. In diesem Zusammenhang besonders hervorzuheben sind die Einträge zu führenden Persönlichkeiten des NS-Staates, welche die einschlägigen Fachlexika mühelos übertreffen. Dies gilt für Walther von Reichenau, Fritz Reinhardt, Cecil von Renthe-Fink, Joachim von Ribbentrop und Ernst Röhm, um nur einige zu nennen. Auch der Artikel zu Paul Walther Roland, dem Industriellen und Leiter des Hauptrings Eisenerzeugung beim Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion, vermag voll und ganz zu überzeugen. Die Frage, inwieweit man Gauleiter der NSDAP aufnehmen soll, ist, wie übrigens auch in den vorhergehenden Bänden der NDB, uneinheitlich gehandhabt worden. Ein Gauleiter der NSDAP wird genannt (Carl Röver), ein anderer, für die NS-Besatzungspolitik in Slowenien und Norditalien ungleich Bedeutenderer nicht (Friedrich Rainer). Es wäre zu begrüßen, wenn sich die NDB-Redaktion dazu entschlösse, diese NS-Funktionselite komplett in einen etwaigen Nachtragsband aufzunehmen.

Inhaltlich sehr unterschiedlich fallen die Einträge zu einigen Schriftstellern aus. Wird das literarische Schaffen Rainer Maria Rilkes ausführlich in den Kontext der Literatur des Fin de Siècle eingeordnet, so beschränkt sich der Artikel zum Pazifisten Ludwig Renn, einem adligen Renegaten, fast vollständig auf dessen politischen Lebensweg, der ihn 1928 in die KPD und den Rotfrontkämpferbund führte und nach 1949 in der DDR zu einem hoch geehrten Literaten werden ließ. Das literarische Werk Erich Maria Remarques, dessen Aufsehen erregender Roman "Im Westen nichts Neues" 1928/29 erschien, wird ebenfalls nur kursorisch vorgestellt. Der Dichter Joachim Ringelnatz wird dagegen in der gebotenen Ausführlichkeit behandelt. Auffällig ist, dass Schriftsteller nicht als Teil eines literarischen Feldes (Pierre Bourdieu) begriffen werden. Fragen nach den Einflüssen auf das schriftstellerische Werk, ihren persönlichen Beziehungen zu anderen Literaten, kurzum: nach ihrer Verortung in der jeweiligen Kultur, treten in den Hintergrund, und das literarische Schaffen wird, wenn überhaupt, zumeist aus sich selbst heraus bewertet. Eine bessere Kontextualisierung wäre manches Mal wünschenswert gewesen.

Die Erschließung der NDB ist jetzt noch komfortabler als zuvor. Der vorliegende Band wird mit einer CD-ROM ausgeliefert, die ein elektronisches Gesamtregister enthält. Dieses kumulierte digitale Gesamtregister, das durch die NDB-Redaktion ständig aktualisiert wird, steht auch Online bereit. [1] Es bietet einen Zugriff auf mehr als 45.000 Lexikonartikel der ADB und der NDB. Systemvoraussetzungen der CD-ROM sind Windows 95 oder ein höheres Betriebssystem, ein Pentium 90 Prozessor und mindestens 16 MB Arbeitsspeicher. Die mehr als 80.000 Einträge sind geordnet nach Namen, Sterbejahr, Berufs- und Lebensstellung, Qualifikationen, Konfession und Fundstelle sowie dem Autorennamen. Das Programm Folio Views 4.3 stellt ausführliche Erschließungsfunktionen bereit, und zwar eine durch Wortindizes unterstützte Suche mittels Register, eine Expertensuche mit direkter Namens- und Stichworteingabe sowie logischen Verknüpfungen, Boole'schen Operatoren, Platzhalterzeichen, Bereichsoperatoren und gezielten Einschränkungen. Sie ermöglichen einen gezielten Zugriff auf alle Einträge von ADB und NDB. Den Volltext findet der Benutzer jedoch nach wie vor nur in den gedruckten Bänden der NDB. Allerdings wurden inzwischen alle ADB-Artikel als digitale Vollbilder erfasst. Sie können als Bilddateien Online aufgerufen werden. Der Zugang erfolgt über einen Link in der digitalen Fassung des kumulierten Gesamtregisters.

Das Großprojekt NDB, das nach Auskunft der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften im Jahre 2017 abgeschlossen sein wird, sucht im deutschen Sprachraum seinesgleichen. Es verknüpft seriöse lexigrafische Arbeit mit den Erfordernissen des digitalen Zeitalters und ist sowohl inhaltlich als auch methodisch auf der Höhe der heutigen Wissenschaft. Angesichts der finanziellen Kahlschläge an den deutschen Universitäten und im Bereich der Forschungsförderung steht jedoch zu befürchten, dass solche Großprojekte in Zukunft eine Ausnahme bleiben werden. Wer meint, die Geisteswissenschaften am vordergründigen Kriterium einer zumeist kurzfristig kalkulierten Rentabilität messen zu können, kann sich durch die NDB leicht eines Besseren belehren lassen.


Anmerkung:

[1] Siehe http://mdz2.bib-bvb.de/~ndb/ndbmaske.html.

Armin Nolzen