Ralf Banken: Die Industrialisierung der Saarregion 1815-1914. Band 2: Take-Off-Phase und Hochindustrialisierung 1850-1914 (= Regionale Industrialisierung; Bd. 4), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2003, 653 S., 127 Abb. und Tabellen, 1 CD-ROM, ISBN 978-3-515-07828-3, EUR 88,00
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Die regionale Industrialisierungsforschung, zu der Sidney Pollard in den Siebzigerjahren wichtige Anstöße gegeben hat, ist auch in Deutschland in den letzten Jahrzehnten zu einem wichtigen Feld wirtschaftshistorischer Forschung geworden. Die methodisch-theoretischen Beiträge wurden dabei zunehmend ergänzt durch umfassende Studien zu einzelnen deutschen Regionen, wobei sich das Interesse zunächst vor allem auf die so genannten Führungsregionen der deutschen Industrialisierung richtete. Obwohl die Saarregion, die im 19. Jahrhundert zum größten Teil zur preußischen Rheinprovinz, teilweise aber auch zur bayerischen Rheinpfalz gehörte, zu diesen Führungsregionen zu zählen ist und neben dem Ruhrgebiet und Oberschlesien die dritte große Montanregion war, hat sie für die moderne deutsche Industrialisierungsforschung lange Zeit keine große Rolle gespielt. Umso wertvoller ist daher die Dissertation von Ralf Banken, die bei Toni Pierenkemper an der Universität des Saarlandes begonnen und dann 1997 an der Universität Frankfurt abgeschlossen wurde. Es ist zweifellos eine der gründlichsten und umfassendsten Untersuchungen, die bislang über eine deutsche Wirtschaftregion des 19. Jahrhunderts vorgelegt worden ist. Bei dem hier anzuzeigenden Buch handelt es sich um den zweiten Teil dieser umfangreichen Dissertation, der die Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts analysiert. Der erste, mit mehreren Preisen ausgezeichnete Teil der Untersuchung ist bereits im Jahre 2000 erschienen.
Wer sich über die Leitfragen der Studie, Bankens sehr eigenständige Ansätze regionaler Industrialisierungsforschung oder die territorialen Abgrenzungskriterien der Arbeit informieren will, muss noch einmal in die ausführlichen Einführungskapitel des ersten Bandes schauen, wo all dies sehr überzeugend umrissen wird. Der hier zu besprechende zweite Teil setzt die im ersten Band begonnene Darstellung des Industrialisierungsverlaufes fort. Das Schwergewicht der Analysen liegt auf den die Region schon vor 1850 und dann bis zum Ende des Untersuchungszeitraumes prägenden Branchen Steinkohlenbergbau und Eisenindustrie. Ausführlich behandelt werden aber auch Metallverarbeitung und Maschinenbau, die im Laufe der zweiten Jahrhunderthälfte eine immer größere Bedeutung gewannen, sowie die seit langem für die Region wichtigen Branchen der Keramik- und Glasindustrie, deren gesamtwirtschaftliche Bedeutung aber seit 1850 kontinuierlich zurückging.
Banken stellt in der mit zahlreichen Tabellen und Abbildungen versehenen Studie die Entwicklungen der einzelnen Branchen ausführlich und anschaulich dar. Er präsentiert umfangreiche Datensätze über Produktion und Beschäftigungsentwicklung, beschreibt Unternehmensstrukturen, technologische Entwicklungen, Kapitalausstattung, Marktstrukturen und wirtschaftliche Ergebnisse und geht schließlich auch auf die Fragen nach der Rolle des Staates im regionalen Industrialisierungsprozess ein. Die aus der Analyse der einzelnen Branchen gewonnenen Ergebnisse werden in zwei Abschlusskapiteln zu einer überzeugenden Gesamtbetrachtung zusammengeführt, in der der Autor das Verlaufsmuster der Industrialisierung in der Saarregion herausarbeitet und mit dem anderer Regionen vergleicht. Für Banken zählt die Saarregion zu den deutschen Regionen, in denen sich der Industrialisierungsprozess aufgrund optimaler Produktionsbedingungen - ältere Gewerbetraditionen, moderne Techniken, günstige Verkehrsverhältnisse, entwicklungsfähige Markt- und Unternehmensstrukturen sowie gute Kapitalausstattung - besonders früh bemerkbar machte. Schon seit den dreißiger Jahren zeichnete sich hier eine deutliche Beschleunigung des wirtschaftlichen Strukturwandels ab. Der große Durchbruch des industriellen Wachstums - der regionale Take-Off - erfolgte nach Banken aber auch an der Saar erst in den 1850er-Jahren, deren Produktions- und Beschäftigungswachstum vorher und auch später nicht mehr erreicht wurde. Die wichtigste Triebkraft dieser Entwicklungen war auch an der Saar die Änderung der Verkehrsverhältnisse durch die Einführung der Eisenbahn. Die neuen Verkehrsverhältnisse erweiterten das Absatzgebiet und steigerten die Nachfrage nach Produkten der Saarindustrie. Dies führte zu zahlreichen Neugründungen und ließ nun verstärkt auch auswärtiges Kapital in die Region fließen. Um 1870 hatte das Montanrevier an der Saar seinen Platz unter den fortschrittlichsten deutschen Wirtschaftsregionen weiter ausgebaut und gab damit dem gesamten deutschen Industrialisierungsprozess wichtige Impulse.
In der Zeit des Kaiserreichs verzeichnete die Saarregion weiterhin ein beachtliches, durch die 1873 einsetzenden konjunkturellen Krisen, aber auch durch regionale Sonderbedingungen jedoch etwas abgeschwächtes Wirtschaftswachstum. Die hohen innerdeutschen Marktanteile, welche die Saarregion in ihren wichtigsten Branchen Kohle und Stahl gerade zwischen 1850 und 1870 besaß, konnten im Kaiserreich nicht mehr gehalten werden. Banken führt dies auf verschiedene Ursachen zurück. Zum einen verlor die Saarindustrie ihre technische Führungsposition, ohne jedoch ökonomisch rückständig zu sein. Zum anderen trugen auch ungünstigere Eigenschaften der Saarkohle, höhere Preise, hohe Frachtkosten, veraltete Eigentumsstrukturen und eine Verknappung des Arbeitskräfteangebots dazu bei, dass die Region vor allem gegenüber dem dynamischeren Ruhrrevier deutlich zurückfiel. Der Zuzug von Arbeitern aus weit entfernten Gebieten spielte an der Saar eine viel geringere Rolle als an der Ruhr. Und im Unterschied zum Ruhrrevier, wo die anonymen Kapitalgesellschaften schon seit 1850 eine immer wichtigeres Rolle spielten, dominierten an der Saar bis zum Ersten Weltkrieg noch die Familienunternehmen.
Weiterführende Einsichten bietet Bankens Studie schließlich zur Rolle des Staates im regionalen Industrialisierungsprozess. Dieses Thema ist in Bezug auf die Saarregion deshalb besonders lohnend, weil der preußische Staat als Quasimonopolist des regionalen Steinkohlenbergbaus in einer Schlüsselindustrie Unternehmerfunktionen besaß und politische Entscheidungen wie die Zollpolitik und die Annexion des benachbarten Elsass-Lothringen für die wirtschaftliche Entwicklung der Saarregion von besonderer Bedeutung waren. Was die viel diskutierte Rolle des Staates betrifft, so zeigt Banken, dass die Region einerseits von einer schon unter der französischen Herrschaft einsetzenden frühen Liberalisierung der Wirtschaftsverfassung profitierte und das staatliche Unternehmertum im Bergbau anfangs wichtige Impulse geben konnte, dass aber andererseits die Bedeutung staatlicher Gewerbe- und Technologieförderung eher gering zu veranschlagen war, und dass vor allem der preußische Bergfiskus durch seine Preispolitik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das industrielle Wachstum der Region eher behinderte als förderte. Auch die Zollpolitik sollte als wirtschaftliches Steuerungsinstrument nach Ansicht Bankens im Grenzraum Saar keineswegs überschätzt werden. Die Arbeit relativiert wie viele andere Studien zu Grenzregionen die wirtschaftliche Bedeutung staatlicher Grenzen in den Industrialisierungsprozessen des 19. Jahrhunderts und zeigt zugleich, welch beachtliche Bedeutung dem grenzüberschreitenden Transfer von Technologie und Kapital und den unternehmerischen Verflechtungen zufiel.
Insgesamt kann man daher festhalten, dass der vorliegende Band durch die detaillierten Analysen der regionalen Wirtschaftsentwicklung, die Vergleiche mit anderen Regionen und die gelungene Einordnung der Ergebnisse in die übergreifenden Fragestellungen wie schon der erste Teil der Dissertation als eine große Bereicherung der regionalen Industrialisierungsforschung angesehen werden darf. Die Saarregion gehört dank der verdienstvollen Arbeiten von Ralf Banken zu den am besten erforschten europäischen Industrieregionen des 19. Jahrhunderts.
Hans-Werner Hahn