Klaus-Michael Mallmann / Gerhard Paul (Hgg.): Karrieren der Gewalt. Nationalsozialistische Täterbiographien (= Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart; Bd. 2), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2004, IX + 282 S., ISBN 978-3-534-16654-1, EUR 39,90
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Der Sammelband steht im Kontext mehrerer Tagungen und Sammelbände, die durch die Verbindung von Einzelstudien oder gruppenbiografischen Analysen bereits in ihrer Anlage die Abwendung von der Suche nach einem "dominanten Tätertypus" (Michael Wildt) zum Ausdruck bringen. [1] Vielmehr, so skizzieren auch Mallmann/Paul in ihrer Einleitung, wird nun nach dem "Verhältnis von Intention, Disposition, sozialer Praxis und situativer Dynamik von Gewalt" gefragt (2). Im vorliegenden Band wird eine der mehr oder weniger offensichtlichen oder hintergründigen Motivationen von Tätern und Täterinnen in den Mittelpunkt gerückt: die Beteiligung an der Tat als Bestandteil der individuellen - beruflichen oder sozialen - Karriere. Für deren Entwicklung müssen "offerierte Aufstiegsmöglichkeiten", "persönliche Fähigkeiten" und "Engagement des Einzelnen" zusammen kommen (5). Schlüssel zur Karriere ist die "Honorierung" von echten oder vermeintlichen Leistungen.
Der Band versammelt in alphabetischer, nicht weiter gewichteter Reihenfolge etwa zehnseitige Biografien von 21 Männern und zwei Frauen. Dass 13 der Biografien sich vornehmlich auf Handlungen in der Sowjetunion beziehen, verweist auf den engen Zusammenhang zwischen "Karriere", Umformung von politisch-bürokratischen Prozessen und Gewaltentgrenzung mit dem Krieg als "eigenständiger Sozialisationsagentur" (14) insbesondere nach 1941 und damit auf die in und mit dieser Gewaltsituation gegebenen, besonderen Bedingungen für einen Karriereaufstieg nachwachsender Akteure. So machen die Angehörigen der "Kriegsjugendgeneration" mit 14 Beiträgen den größten Anteil der Biografien aus; hier werden sie auf die Jahrgänge 1901 bis 1912 nach dem Kriterium der Volljährigkeit bei Hitlers Machtantritt bestimmt, was den von Wildt betonten Faktor der zeitnahen Enttäuschung, nicht am Krieg selbst teilgenommen zu haben, von vornherein geringer gewichtet und insgesamt stärker auf die Reaktualisierung des Kriegserlebnisses Ende der Zwanzigerjahre verweist.
Herausgeber und viele der Autoren gewichten Faktoren der individuellen Sozialisation geringer als die Bedeutung sukzessive zu Radikalisierung führender oder radikalisierter Milieus: die Einbindung in Kriegserinnerung und völkische Gewaltnetzwerke, die Sozialisation in NS-Kontexten schon vor und auch nach 1933 sowie das Milieu entgrenzter Gewalt im Krieg. Diese Milieus und das Karrierestreben waren eng verbunden, weil Entgrenzungsbereitschaft, Konformität und Honorierung durch Aufstiegserfahrungen zu einer biografischen und gemeinschaftsbildenden Erfahrungsschiene wurden, die viele der behandelten Akteure schon vor 1933 nutzten, auf die sich andere erst später setzten.
Doch weder Aufstieg im System noch Gewaltbereitschaft waren auf diese Geburtskohorte beschränkt. In der Sichtung der Biografien ist ein Unterschied zwischen den älteren Tätern deutlich, die sich auf ihr bereits erworbenes Karrierekapital stützten und weniger konformistisch zum Gewaltsystem waren, und den nachwachsenden Karriereakteuren, für die ihre Tätigkeit als "Schwungrad" des Vernichtungssystems (4) gerade zum Karrierekapital wurde. Einige der im Band dargestellten "älteren" Täter wie der "willige Konformist" Adolf von Bomhard (Dierl, 62) oder Curt von Gottberg (Klein) wirken im Vergleich zu anderen eigentümlich zurückhaltend.
Im Unterschied dazu hat Michael Wildt die Angehörigen des Reichssicherheitshauptamts (RSHA) als einen Tätertypus beschrieben, die sich wie Erich Ehrlinger als "Mischung aus [...] Vordenkern und Vollstreckern" (18) darstellen. Die neuen Zwischeninstanzen für die mittelfristig und zugleich flexibel zu haltende Durchführung der Verbrechen vor Ort war auf solche "implusiven" und "hartgesottenen" Männer der "kämpfenden Verwaltung" (82) angewiesen. Sie delegierten die Umsetzung an Täter wie die Leiter von Einsatz- und Sonderkommandos Heinz Seetzen (Stokes) oder Ernst Szymanowski von Biberstein (Linck) und bildeten über SD-Schulungsexperten wie Paul Zapp (Kwiet) eigene Sozialisationsinstanzen wie die SD-Schule Bernau aus.
Mehrere Beiträge behandeln einen Tätertypus unterhalb der "kämpfenden Verwaltung". Die Männer dienten überwiegend in der Sicherheitspolizei, entstammten der verlängerten Kriegsjugendgeneration, gehörten früh dem völkischen Gewaltnetzwerk oder dem NS-Umfeld an, verfügten aber nicht über jenes intellektuelle, habituelle oder soziale Kapital, um innerhalb der SS-Hierarchie weiter aufzusteigen. Gewaltexzess und kameradschaftliches Milieu waren in der kolonialen Herrschaftssituation eng verbunden - etwa bei Hans Gaier, Polizeichef in Kielce seit 1940, der "funktionale Gewalt so gründlich mit reinen Exzesstaten [verband], dass Außenstehende kaum die Unterschiede wahrnehmen konnten" (92; Mlynarczyk); Vergleichbares findet sich bei Heinrich Hamann (Mallmann), Leiter des Grenzpolizeikommissariats Neu-Sandez, und Georg Heuser (Matthäus), als Leiter der Abteilung IV im Kommando der Sicherheitspolizei des SD (KdS) unter anderem für das Vernichtungslager Maly Trostinez zuständig.
Eine Stufe näher an der unmittelbaren Tat war Hans Krüger als Leiter der KdS-Aussenstelle im ostgalizischen Stanislau (Pohl). Wie andere hatte auch er zuvor in einem KZ Dienst getan, aber vor allem nach 1939 in Polen aktiv an Verbrechen mitgewirkt. In Stanislau übertrug er diese Erfahrungen auf seine improvisierte Truppe. In dieses Ensemble fügt sich auch Rudolf Pallmann (Paul), der als Führer einer Feldgendarmerieabteilung aus einer "Gemengelage von Fremd- und Selbstermächtigung" (178) den Judenmord vorantrieb.
Den Typus der "mobil agierenden Multifunktionäre der Vernichtung" (16) verkörpert Georg Michalsen (Angrick), der als in seiner Tätigkeit im Lubliner SSPF-Kommando zunächst hier und später in Warschau für die Räumung der Gettos zuständig war. Diese Täter waren nicht aus Deklassierungserfahrungen, sondern mehr oder weniger frühzeitig nach Wahl in NS-Organisationen oder den Polizeidienst eingetreten, weil sich Aufstiegs- und Sicherheitsperspektiven boten. Ihr mit hoher Mobilitätsbereitschaft gekoppeltes Karrieredenken begann also nicht erst 1933.
In vielem analog dazu entwickelte sich die Aufstiegswelt und Karriereordnung der Konzentrationslager. Der Band enthält dazu Biografien zum Inspekteur der Vernichtungslager Christian Wirth (Riess) und den KZ-Funktionären Willi Tessmann (Wickert) und Egon Zill (Orth). Abzugrenzen davon sind auch die seltener im Band vertretenen, nicht durch ihre Eskalationsbereitschaft auffallenden Täter, wie etwa Heinrich Bergmann (Birn), der als KdS-Kommandeur in Reval erst nach den Hauptaktionen gegen die estnischen Juden eintraf, oder der ältere von Bomhard (Dierl).
Die Breite der in diesem Band versammelten Täterporträts und die in vielen Fällen - insbesondere in den Beiträgen von Wildt, Mlynarczek, Mallmann, Matthäus, Pohl und Paul - darstellerisch gut gelungene Verbindung aus konzeptionellen Überlegungen und biografisch-sozialisatorischer Erkundung macht den Band zu einer Fundgrube, auch wenn die Auswahlkriterien für die Biografien nicht transparent sind. Unreflektiert bleibt in dieser Hinsicht die wichtige Tatsache, dass die meisten der Biografien ohne spätere Prozessüberlieferungen nicht hätten geschrieben werden können. Zum einen folgt die Auswahl so doch einem juristischen Filter, der Exzesstäterschaft besonders hervorhob. Zum anderen geraten vor allem Erfolgsgeschichten in den Mittelpunkt der Biografien.
Bezeichnenderweise lassen sich einige der Biografien gerade nicht unter das Bild des "Schwungrads" bündeln. Für eine Gesamtgewichtung der NS-Täter bleibt die Kontinuität der traditionellen Laufbahnbeamten und die Aufstiegserfahrung jener Träger der Besatzungsherrschaft bedeutsam, die sich nicht durch die Nähe zum Exzess auszeichneten, berücksichtigt werden. Da sie und ähnliche Exponenten weitgehend fehlen, steht auch die These der Herausgeber, es werde "nichts übrigbleiben von jener klinischen, gewaltminimierenden Perspektive", die den Vernichtungsprozess als bürokratisch, industriell und anonym erscheinen lassen wollte" (23), zu sehr unter dem Eindruck eines bestimmten Tätertypus.
In nicht wenigen der im Band vorgestellten Fälle ließe sich statt von "Karriere" vielleicht auch von "Karrierestau" sprechen. Zwar erlebten viele dieser Täter ihre Handlungsverantwortung in neu geschaffenen, flexiblen Instanzen als Aufstieg. Aber für die meisten war das Kompensation dafür, im Reich selbst nicht weiter gekommen zu sein Sie erlebten ihren Aufstieg oft zugleich als Endstufe. Weitere Forschungen zur Veränderung der Strukturen von Karriere und Laufbahn, Habitus und Handlungsform im Kontext der Vernichtungsherrschaft sind erforderlich. Erst dann kann das Gewicht der "Schwungräder" eingeschätzt werden, ohne sie vorschnell zu einem neuen "dominanten Tätertypus" zu machen.
Anmerkung:
[1] Vgl. Christian Gerlach (Hg.), Durchschnittstäter. Handeln und Motivation, Berlin 2000; Gerhard Paul (Hg.), Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche?, Göttingen 2002; Wolf Kaiser (Hg.), Täter im Vernichtungskrieg. Der Überfall auf die Sowjetunion und der Völkermord an den Juden, Berlin/München 2002; Habbo Knoch (Red.), Entgrenzte Gewalt. Täterinnen und Täter im Nationalsozialismus, Bremen 2002 (Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland 7); Michael Wildt (Hg.), Nachrichtendienst, politische Elite und Mordeinheit. Der Sicherheitsdienst des Reichsführers SS, Hamburg 2003.
Habbo Knoch