Hans-Peter Stahl: Thucydides. Man's Place in History, Swansea: The Classical Press of Wales 2003, 248 S., 3 Maps, 7 Plates, ISBN 978-0-9543845-2-4, USD 59,50
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Als Hans-Peter Stahl im Jahr 1966 seine Habilitationsschrift "Thukydides. Die Stellung des Menschen im geschichtlichen Prozeß" publizierte [1], betrat er über weite Strecken Neuland in der Thukydides-Forschung. Diese hatte sich bis dahin vor allem auf die politischen Implikationen des thukydideischen Geschichtswerks, auf Thukydides als Historiker der Tragödie Athens im Peloponnesischen Krieg sowie auf die so genannte thukydideische Frage (das heißt die Frage nach der Einheit des Werkes) konzentriert. Mit der Arbeit Stahls traten neue Aspekte in den Vordergrund, die zuvor allenfalls marginal thematisiert worden waren. Für Stahl ist Thukydides weniger der scharfe und zugleich schonungslose Analytiker politischer Prozesse als vielmehr ein Historiker, der nach den Bedingungen der menschlichen Existenz forscht, der menschliches Leid in den Fokus der Betrachtung rückt und das Grauen des Krieges immer wieder anhand von Einzelepisoden (Melos, Mykalessos und so weiter) zu beschreiben und dabei - selbst mitleidend - zu bewältigen sucht. Nicht der Untergang Athens sei sein eigentliches Thema, sondern die Tragödie des Menschen insgesamt. Mit diesen Erkenntnissen gelang es Stahl, das Geschichtswerk des Thukydides noch enger auf die Tragödie zu beziehen. Natürlich war bereits zuvor gesehen worden, dass einzelne Passagen in Aufbau und Inhalt gewisse Nähen zur Tragödie aufweisen, doch mit Stahls Untersuchungen wurde klar, dass die Bezüge wesentlich tiefer greifen und letztlich die Konzeption des Geschichtswerks insgesamt betreffen. So erscheint Thukydides als wichtiger Vorläufer der 'tragischen Geschichtsschreibung' im Hellenismus.
Die Grundlage der Arbeit Stahls bilden eingehende Interpretationen einzelner, in seinen Augen zentraler Episoden und Passagen des thukydideischen Geschichtswerks. Stahl kann dabei zeigen, dass für den Historiker der Aspekt des Unberechenbaren, des Unerwarteten und Unkalkulierbaren einen zentralen Faktor historischen Geschehens darstellte: Immer wieder planen die Akteure minuziös ihre Aktionen, und immer wieder werden diese Pläne durch unerwartete Wendungen (das 'paralogon' in der Geschichte) zunichte gemacht, was zu erneutem Leid führt. Die Menschen selbst folgen zudem allzu sehr ihren Emotionen, anstatt sich rationaler Analyse zu bedienen. So bestimmen Furcht, Machtstreben, Erfolgshunger und vor allem trügerische Hoffnungen ihr Handeln, das dann immer wieder durch die Kontingenzen der Geschichte durchkreuzt wird. Die eigentliche Tragik des Peloponnesischen Krieges (der damit lediglich exemplarisch für jede Kriegssituation steht) und die Ursache für das permanente Leid, das Menschen erdulden müssen, sieht Thukyidides den Analysen Stahls zufolge in den mangelnden Fähigkeiten der Handelnden, Situationen richtig einzuschätzen (was letztlich ja auch unmöglich ist, weil der Ereignisverlauf immer wieder unerwartete Wendungen nimmt), und in ihrer Neigung, mehr den Emotionen als der Ratio zu folgen.
So einflussreich Stahls Ergebnisse für die nachfolgende Thukydides-Forschung waren - unumstritten blieb seine Arbeit nie. Die Einwände richteten sich besonders gegen seine vermeintlich allzu selektive Interpretation des Thukydides, die sich bereits an der Auswahl der untersuchten Textpassagen zeige. Als beträchtlicher Mangel wurde zudem die weitgehend werkimmanente Analyse angesehen, die die historischen - vor allem die politischen - Rahmenbedingungen nahezu vollständig ausgeblendet und bei der Betrachtung eines genuin politischen Autors somit das 'Politische' als zentralen Aspekt allzu sehr vernachlässigt habe.
In der hier anzuzeigenden englischen Neubearbeitung des Buches von 1966 hat Stahl diese Kritik zumindest zum Teil aufgegriffen. Mit dem Vorwurf, seine Ergebnisse an zu wenig Textstellen überprüft zu haben, hat sich der Autor dadurch auseinandergesetzt, dass er den Text um zwei neue Kapitel erweitert hat, die nunmehr auch die Bücher 6 und 7, das heißt die Sizilische Expedition, eingehend analysieren. Eines dieser Kapitel wurde in einer deutschen Vorversion bereits separat publiziert. [2] Um eine stärkere Anbindung seiner Ergebnisse an die politischen Rahmenbedingungen und eine Einbindung seiner Analysen in die Diskussion um Thukydides als 'politischen' Autor hat sich Stahl allerdings weiterhin nicht bemüht.
Stahls Zugriff auf das Werk des Thukydides bleibt aktuell und führt weiterhin zu fruchtbaren Resultaten. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass man seinen Thesen im Detail nicht immer wird folgen können. So scheint mir zum Beispiel sein Verständnis des 'Menschlichen' bei Thukydides doch etwas zu weit gefasst zu sein, wenn er darunter nicht nur die stets zu beobachtenden Konstanten menschlichen Handelns, sondern sogar die Bedingungen menschlicher Existenz überhaupt versteht (99). Letztere dürften doch wohl eher die Herausforderungen sein, mit denen das 'Menschliche' sich permanent auseinanderzusetzen hat, und gerade die Konfrontation des 'Menschlichen' mit diesen kontingenten Existenzbedingungen lässt dann die ihm innewohnenden Konstanten zu Tage treten - Konstanten, die entgegen der Auffassung Stahls nicht nur in der Inkonstanz menschlichen Verhaltens bestehen (98, 144 f.), sondern weiter gefasst werden sollten.
Die englische Neubearbeitung der deutschen Erstauflage von 1966 ist in Text und Fußnoten nur behutsam modifiziert und mit Blick auf die neuere Forschung ergänzt worden. Die wichtigste Änderung besteht in der Aufnahme der erwähnten beiden zusätzlichen Kapitel. Ohne Zweifel zählt Stahls Untersuchung weiterhin zu den wichtigsten Thukydides-Büchern des 20. Jahrhunderts. Allein dies hat die Neubearbeitung gerechtfertigt.
Anmerkungen:
[1] Hans-Peter Stahl: Thukydides. Die Stellung des Menschen im geschichtlichen Prozeß, München 1966.
[2] Hans-Peter Stahl: Literarisches Detail und historischer Krisenpunkt im Geschichtswerk des Thukydides: Die Sizilische Expedition, in: Rheinisches Museum für Philologie 145 (2003), 68-107.
Mischa Meier