Rezension über:

Johannes Koll: "Die belgische Nation". Patriotismus und Nationalbewußtsein in den Südlichen Niederlanden im späten 18. Jahrhundert (= Niederlande-Studien; Bd. 33), Münster: Waxmann 2003, 440 S., ISBN 978-3-8309-1209-5, EUR 39,90
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Rezension von:
Jörg Engelbrecht
Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf
Redaktionelle Betreuung:
Michael Kaiser
Empfohlene Zitierweise:
Jörg Engelbrecht: Rezension von: Johannes Koll: "Die belgische Nation". Patriotismus und Nationalbewußtsein in den Südlichen Niederlanden im späten 18. Jahrhundert, Münster: Waxmann 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 12 [15.12.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/12/4398.html


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Johannes Koll: "Die belgische Nation"

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Diese Kölner Dissertation, die durch Otto Dann betreut wurde, widmet sich einem bislang in der Forschung (auch in der belgischen) nur wenig beachteten Thema, der Entstehung eines "belgischen" Nationalbewusstseins am Ende des 18. Jahrhunderts. Dass sich dieses Bewusstsein in Abgrenzung gegenüber der österreichischen Landesherrschaft entwickelte, erscheint nicht weiter beachtenswert. Sehr wohl verdient aber die Tatsache Aufmerksamkeit, dass sich zur gleichen Zeit mehrere Konzepte einer "belgischen Nation" ausbildeten, deren einzige Gemeinsamkeit darin bestand, dass sie sich auf den geopolitischen Raum der Südlichen Niederlande bezogen.

Kolls Verdienst ist darin zu sehen, auf gleichsam "archäologische" Weise den verschiedenen Vorstellungen auf die Spur zu kommen, ihre Wurzeln und ihre Vorbilder freizulegen und dabei auch die gesamteuropäischen Implikationen des Themas nicht aus den Augen zu verlieren. Zentrale Begriffe, die in der Debatte eine wichtige Rolle spielten ("Patriotismus", "Vaterland", "Volk", "Nation"), erscheinen dabei in recht verschiedener Bedeutung, je nachdem, ob sie in einem "konservativen" oder in einem "liberalen" Zusammenhang standen. Unterschiede zu der gleichzeitig in der benachbarten niederländischen Republik stattfindenden "Patriotenbewegung" sind ebenfalls ersichtlich und werden als solche benannt.

Ganz zentral aber scheint mir die Frage nach dem Staatsnamen "Belgien" zu sein. Die Einengung des Belgienbegriffs auf die Südlichen Niederlande ist dabei durchaus nicht selbstverständlich, denn noch während des spanisch-niederländischen Krieges wurde er auf die Gesamtheit aller siebzehn niederländischen Provinzen bezogen, bildete also eine Klammer, die auf die einstige dynastische Zusammengehörigkeit des Gesamtgebiets verwies. Auch noch im 17. und 18. Jahrhundert war der Begriff im Schwange, sprach man von einem "Belgium confoederatum" (das ist die Republik) und einem "Belgium austriacum". Selbst Intellektuelle, die der österreichischen Regierung nahe standen, bedienten sich des Belgien-Begriffs, um den besonderen Charakter dieser zehn Provinzen im Rahmen der Habsburgermonarchie herauszustellen. Sie gingen allerdings nicht so weit, das Vorhandensein einer "belgischen Nation" zu konstatieren, sondern verwarfen diesen Gedanken im Gegenteil.

Erst im Vorfeld der Brabantischen Revolution (1789/90) wurden "Belgien" und "Belgische Nation" zu Kampfbegriffen einer Bewegung, die sich nicht nur das "Los von Österreich" auf die Fahnen geschrieben hatte, sondern ganz dezidiert die Staatsform einer Republik für das neue anzustrebende Staatswesen favorisierte. Deren Anhänger nannten sich - darin wohl von nordniederländischen Vorbildern geprägt - "Patrioten", ohne dass immer ersichtlich wird, worauf sich ihr Patriotismus gründete. Auch bei der Begründung ihres Bruchs mit Österreich kamen ausgesprochen traditionale Elemente zum Vorschein, wie sie im 16. Jahrhundert bereits den Aufständischen zur Legitimation ihres Bruchs mit Spanien gedient hatten. So wurde bezeichnenderweise die Aufkündigung der "Joyeuse entrée" von 1356 durch Joseph II. zum Anlass für den Aufstand. Auch wenn man sich formal am Beispiel der Französischen Republik orientierte, so machten sich nur die wenigsten belgischen Patrioten deren politische Maximen zu Eigen. Auch die Benennung des neuen Staatswesens als "Vereinigte Belgische Staaten" ist nicht gleichzusetzen mit den Vereinigten Staaten von Amerika; "Staaten" bedeutete hier noch ganz im überkommenen Sinne "Stände".

Die Divergenz zwischen Demokraten und "Konservativen", also solchen Kräften, die eher ständisch-korporativen Vorstellungen verhaftet blieben, führte dann schließlich auch zum baldigen Ende der "Pays unis belgiques". Eine Verständigung auf einen gemeinsamen Begriff von "(belgischer) Nation" war nicht mehr möglich. Vor allem die Anhänger der radikalen Patriotenbewegung um ihren Wortführer Hendrik van der Noot sahen sich schon vor der Restaurierung der österreichischen Herrschaft entmachtet und vielfach ins Exil getrieben. Die 1795 erfolgende Annexion der Südlichen Niederlande machte dann den Traum von einer eigenen belgischen Nation ohnehin zunichte, auch wenn in der Zeit der Zugehörigkeit zu Frankreich - wie Koll nachweist - der belgische Nationalgedanke durchaus virulent blieb. Unter ganz anderen Vorzeichen wurden nationale Vorstellungen erst in der Revolution des Jahres 1830 handlungsleitend, die schließlich zur Bildung eines gemeinsamen staatlich-nationalen Dachs für alle "Belgier" führte.

Krolls Studie ist in ihrer Art wegweisend. Der Verfasser hat sich kritisch und kenntnisreich mit seinen Quellen auseinandergesetzt, wobei er souverän den Bogen über Jahrhunderte niederländischer Geschichte zu schlagen weiß. Er arbeitet damit auch Defizite der belgischen Historiografie auf, die sich dem Thema bislang eher zögerlich genähert hat, während auf der anderen Seite die Revolution von 1830 ziemlich erschöpfend behandelt wurde. Vielleicht bedurfte es des neugierigen Blicks von jenseits der Grenze, um die Faszination zu erkennen, die der Fragestellung inne wohnt. In den hier untersuchten Vorgängen wird nämlich nicht nur ein Gegenmodell zu den "Ideen von 1789" erkennbar, sondern gleichzeitig die Beharrungsmächtigkeit von Verfassungselementen, die im Spätmittelalter wurzeln. Diese letzte Feststellung scheint mir allerdings nicht nur für die im engeren Sinne "belgische" Geschichte kennzeichnend; vielmehr war sie wohl ein gesamtniederländisches Strukturmerkmal.

Ein wenig schade ist der Umstand, dass Koll den wirtschaftlichen und sozialen Differenzen zwischen den zehn südlichen Provinzen relativ wenig Beachtung schenkt. Auch die unterschiedliche kulturell-sprachliche Prägung wird eher am Rande angesprochen. Koll belässt es hier bei dem knappen Hinweis, dass der Gegensatz zwischen Flamen und Wallonen am Ende des 18. Jahrhunderts noch nicht existent war, woran man berechtigte Zweifel hegen kann. Hier bliebe noch vieles zu erarbeiten, was vielleicht ebenso aufschlussreich für die Erklärung des Scheiterns der Brabantischen Revolution wäre. Ungeachtet dieses Einwands, der vielleicht an eine Dissertation einen zu hohen Maßstab anlegt, handelt es sich bei der vorliegenden Studie um einen wegweisenden Beitrag, der geeignet ist, die Diskussion um die Genese des europäischen Nationenbegriffs ein gutes Stück voran zu bringen.

Jörg Engelbrecht