Norbert Nußbaum / Claudia Euskirchen / Stephan Hoppe (Hgg.): Wege zur Renaissance. Beobachtungen zu den Anfängen neuzeitlicher Kunstauffassung im Rheinland und in den Nachbargebieten um 1500, Köln: SH-Verlag 2002, 447 S., ISBN 978-3-89498-122-8, EUR 49,80
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"Wege zur Renaissance" zu ergründen, das machte sich ein wissenschaftliches Kolloquium am Kunsthistorischen Institut der Universität Köln im September 2001 zum Ziel. Mit dem von Norbert Nußbaum, Claudia Euskirchen und Stephan Hoppe edierten Tagungsband liegt nun das Vademekum vor. Zwar will im Untertitel Renaissance als "neuzeitliche Kunstauffassung im Rheinland und den Nachbargebieten um 1500" verstanden sein. Doch nimmt der Leser dankbar zur Kenntnis, dass mancher der aufgespürten Wege anregende Abstecher über Florenz, die Niederlande oder Portugal in Kauf nimmt. Allein der Weg ist das Ziel, und so entstand ein Band, der über Niederrhein und Bergisches Land hinaus viele innovative Phänomene und Entwicklungen der Kunst nördlich der Alpen im 15. und frühen 16. Jahrhundert aufzeigt.
Der Renaissancebegriff ist seit dem 19. Jahrhundert mit Blick auf die italienische Kunstentwicklung und ihre Antikennähe formuliert worden. Bis heute existiert deswegen eine von einem doktrinären Fortschrittsgedanken dominierte Richtung der Kunstgeschichte, die den Bezug auf die Antike als Maßstab neuzeitlicher Kunst fordert. Der Kunst der Renaissance diesseits der Alpen, innerhalb der es in der Tat Jahrzehnte gedauert hat, bis der transalpine Formenapparat halbwegs sicher beherrscht wurde, bleibt das Verdikt des vermeintlich Unschöpferischen. Zwar wurde ab 1500 manch antikisierendes Element aus Italien importiert, mit gleicher Unbekümmertheit aber mit gotischen Formen kombiniert, ohne vom Geist des Neuen auch nur etwas zu ahnen. In den Augen der Zeitgenossen wurde das Nebeneinander von Stilen keineswegs als Makel angesehen. Ein schönes Beispiel liefern dafür die oft - und auch hier (Nußbaum) - zitierten Worte des Nürnberger Künstlers Peter Flötner: "Vil schöner Pild hab ich geschnitten / Kunstlich auff welsch und deutschen Sitten."
Angesichts der in sechszehn Aufsätzen gebotenen Ergebnisse wird einmal mehr deutlich, wie sehr unser archäologisch geschulter Blick auf die Antike eine reine Formenanalyse in den Vordergrund stellt und uns Grenzen ziehen lässt, die eigentlich in Bezug zueinander Stehendes ('welsch und deutsch') unangemessen trennen. Jenseits des Protokollierens von Formverwandtschaften oder -unterschieden würdigt der Band den inneren Zusammenhang der beobachteten Formphänomene. Diese methodische Ausrichtung stellen exemplarisch die Beiträge von Hubertus Günther ("Die ersten Schritte in die Neuzeit"), Klaus Graf ("Stil als Erinnerung") und Stephan Hoppe ("Romanik als Antike und die baulichen Folgen") vor. Ihnen gelingt es, das Festhalten am tradierten Formenrepertoire vom Vorwurf einer konservativen Kunstauffassung zu befreien. Günther legt das an Bauten der Jahrzehnte um 1500 dar, in denen er eine "neue Ratio" verwirklicht sieht, und damit meint Günther rationale Grundlagen als leitendes Prinzip. Günther weist auf das logische Dilemma hin, als Stimulans für die italienische Renaissance die Rückbesinnung auf die Antike zu postulieren, für die nordalpine Entwicklung aber die Imitation italienischer Muster zu fordern, was doch dem Ruf nach innovativer Kreativität, den die Avantgarde im Geist der Renaissance erhob (Dürer!), widerspreche. Den Aufbruch in die Neuzeit sieht Günther in der neuen Ratio begründet, dem Reichtum an neuen Ideen und an Experimentierfreude. In der Zurschaustellung konstruktiver Meisterschaft, etwa raffinierten Gewölbeformationen, demonstriere sich die Rationalität mehr, als in stereotyper Adaption eines vorgefertigten Formenrepertoires. In Italien fand die neue Ratio ihre Ausdrucksformen im Erbe der antiken Kunst bereits verwirklicht, an denen es im Norden aus bekannten Gründen mangelte. Doch auch für die deutsche Kunst um 1500 kann Klaus Graf auf "Retrospektive Tendenzen" aufmerksam machen: aus der bewussten Distanzwahrnehmung folgt, so die Hypothese, bewusstes Zitieren des Alten, um das Neue umso wirkungsvoller davon abzusetzen. Stephan Hoppe veranschaulicht das am Beispiel einer Romanikrezeption in der spätgotischen Malerei des Nordens, dann an Renaissancebauten unter anderen in Heidelberg (Fassade des Gläsernen Saalbaus). Wichtig ist, so Hoppe, auf dem Weg zur Klassizität das Bewusstsein um die Romanik als ein Art Ersatzantike, das der Autor im zeitgenössischen Diskurs zwar nicht durch eindeutige Quellen belegen kann, aber durchaus verankert sieht.
Matthias Müller ("Die Tradition als subversive Kraft") zeigt die Zähigkeit traditioneller Architektursysteme im französischen und deutschen Schlossbau auf, die sich der Adaption von dekorativen Elementen all'italiana nur zögerlich öffnen, um dann aber zu einer eigenständigen Integration in das jeweilige Architekturerbe zu gelangen. Müller sieht darin eine reflektierende Auseinandersetzung mit dem eigenen und dem fremden Stil und prüft die These unter anderen am Güstrower Schloss: als quasi künstlicher Konglomeratbau legt es Zeugnis für die Altehrwürdigkeit des Herrschersitzes ab, sein Dekorum lässt dabei durchaus die Kenntnis der humanistischen, italienischen Renaissancekultur ablesen. Mögliche Wege der "Einführung von Architekturformen der frühen Renaissance in Mitteleuropa" zeichnet G. Ulrich Großmann nach. Großmann trennt in seinen Überlegungen scharf zwischen einer Moderne im Sinne reiner Formenadaptionen und Moderne in architektonisch-struktureller Hinsicht. Bemerkenswert, weil unseren gängigen Rezeptionsmodellen widersprechend, seine Belege für früheste Adaptionen nicht in den Zentren, sondern eher in Randgebieten - in Ostmittel- und Osteuropa. Auf die Relevanz einer antikischen Formensprache im Rahmen der Herrscherlegitimität weisen die Beiträge von Krista De Jonge ("Antikisches und Antikisierendes im höfischen Kontext") und Konrad Ottenheym ("Renaissancearchitektur und Architekturpraxis im städtischen Bereich") hin: betont erstere die enge Orientierung der "neuen Adelsarchitektur" der südlichen Niederlande an der Antike beziehungsweise eines antikischen Formenvokabulars, zeigt Ottenheym die Diffusion jener "anticse wercken" in die städtische Oberschicht um die Mitte des 16. Jahrhunderts. Wolfgang Lippmann bestätigt mit seiner Analyse der "Handelsniederlassungen der Italiener und Deutschen in Brügge" das Primat eines antikisierenden Renaissancestils ab dem Moment der Machtübernahme durch die Habsburger.
Das Gebiet der Architektur wird mit Dagmar Eichbergers Beitrag "Stilpluralismus und Internationalität am Hofe Margaretes von Österreich" verlassen. Der Autorin gelingt am Beispiel der Kunstkammer der Regentin der Niederlande wiederum der Nachweis des Bewusstseins für unterschiedliche Stile sowie für Alter und Qualität einzelner Werke. Vergleichende Urteile in den Sammlungsinventaren lassen erste Ansätze von Kunstkennerschaft erkennen. Einen konkreten Rückgriff nun doch auf Werke der Antike glaubt Ute Verstegen in Humanisten-Memorialen gegeben ("Die Grabdenkmäler der humanistischen Gelehrten - Antikenrezeption im Norden"). Die Autorin verweist auf den halbfigurigen Darstellungstypus, der in provinzialrömischen Denkmälern belegt ist und der den Humanisten - das bestätigen frühe Bildmedien - bekannt war. Darüber hinaus lege die Dominanz von Schriftbestandteilen eine intensive Auseinandersetzung nicht nur mit antiken Autoren, sondern auch mit Inschriftendenkmälern des römischen Altertums nahe. Auf die "Anfänge der Renaissance in der Siegelkunst des Rheinlandes" verweist Toni Diederich. Zwar setze um 1500 ein steter Rückgang neuer Siegel ein. Doch seien für die wenigen Neuschnitte klare Indizien für das Eindringen von Renaissance-Elementen zu konstatieren: Renaissance-Capitalis an Stelle von gotischer Minuskel, eine typische Schildform, perspektivische Architekturdarstellungen in differenziertester Instrumentierung mit dem neuen Formenvokabular.
Die abschließenden Aufsätze widmen sich den geistesgeschichtlichen Dimensionen der Jahrzehnte nach dem "dunklen Mittelalter". Alexander Markschies ("'Un miracolo di legno' - Der Rochus des 'Janni Francese'") erhellt anhand Vasaris Ausführungen zum hl. Rochus in SS. Annunziata zu Florenz die Sicht des Südens auf das, was die nördliche Konkurrenz zu bieten hatte. Vasaris Fehlzuschreibung an jenen nach wie vor ominösen Janni Francese interessiert hier weniger, als vielmehr seine Würdigung wirkungsästhetischer - letztlich aus seiner technischen Finesse resultierende - Aspekte des heute für Veit Stoß beanspruchten Werks. Entsprechend ist Vasaris Panegyrik Teil eines allgemeinen Kapitels über die Technik der Holzschnitzerei, wohingegen nichtitalienische und namentlich deutsche Kunst in den Viten doch eine eher negative Konnotation erhält. "Grundlegende Überlegungen zum neuzeitlichen Stilbegriff" verspricht Holger Simon am Hochaltarretabel aus Lorch am Rhein zu entwickeln. Augenfälligste Novität des 1483 datierten Altars ist die erste nachweisbare monochrome Fassung an allen Figuren und am Schrein. Zudem lasse die Selbstpräsentation lokaler sozialer Gefüge in einem Hochaltar via Wappen, Zunftpatronen et cetera einen neuen Umgang mit dem Bild vermuten. Es schließe sich die Frage an, ob solche formalen Erscheinungsformen lediglich einer lokalen Stilentwicklung unterliegen oder ob sie Ausdruck eines veränderten Bildbegriffs sind. Simon sieht das Retabel im Kontext eines nicht näher umrissenen humanistischen Umfeldes im Mainzer Erzbistum entstanden. Vor dem Hintergrund Cusanischer Philosophie interpretiert der Autor formale Besonderheiten des Lorcher Altars als Mittel, die dem Betrachter auf dem Erkenntnisweg dienen: "Der ikonographische Gehalt des Retabels wird nicht durch sich selbst oder den ihm zukommenden Kult legitimiert, sondern die formale Zurücknahme des Sakralen fordert den Betrachter dazu auf, sich diskursiv dem Retabel gegenüberzustellen und es zu interpretieren". Ja, man wäre gerne dabei gewesen, als der Mensch des Jahres 1483 so motiviert vor das Lorcher Retabel trat! So interessant die These erscheint: etwas wohler wäre einem da mit handfesteren Belegen jenes Diskurses. Was soll man aber zu Thomas Hensels Beitrag "Bildersturm und Landschaft" sagen? Der Autor überträgt die Ursache des Verschwindens von christlicher Ikonographie und Heiligendarstellungen - (vor)reformatorische Bildkritik - umgekehrt als Movens auf die Emanzipation der Landschaft (aus der sich die Heiligen nach seiner Lesart ja zurückziehen) zur autonomen Bildgattung. Damit enthalte jede mehr oder weniger reine Landschaft "ikonoklastischen Agens" oder wird im weiteren Verlauf der Ausführungen zum "ikonischen Palimpsest", wenn nämlich in Altdorfers Landschaft mit hl. Georg die Waldwand nichts anderes ist, als ein Hypertext, der den Goldgrund, den Hypotext, überlagere ... heiliger Georg, steh uns bei! Mit gleicher methodischer Bedenkenlosigkeit wird auf Lukas Mosers Tiefenbronner Magdalenenaltar, das, was wir früher für eine "Lüsterung" hielten, zum - Palimpsest. Und was hat Tiefenbronn bitteschön mit den Hussiten zu tun? Da wird u. E. zusammengeklaubt, was dem Beleg einer These dienlich scheint, die durch schwelgerischen Einsatz von Fremdwörtern und von Begriffen aus der vergleichenden Literaturwissenschaft nur noch nebulöser wird. Ins Portugal um 1500 und zurück auf den Boden der Tatsachen führt Claudia Euskirchens "Exkurs in das Land der Seefahrer", in dem über die "Manuelinik in Portugal" berichtet wird. Hier kann die Autorin einen gegenüber der Entwicklung in Mitteleuropa gegenteiligen Befund erheben: dass sich das neue Zeitalter zuerst im steinbildnerischen Detail manifestiert, während Architektursysteme weniger beeinflusst scheinen. Keinerlei Rolle spielte die Antike als formales Vorbild für die nationale Baukunst. Und trotzt der bei Vasari verbürgten Tätigkeit des Andrea Sansovino im Jahre 1492 am Hof in Lissabon machte sich der Einfluss der italienischen Baukunst erst nach dem Tode König Manuels im Jahre 1521 und seines Hofbaumesters Diogo Boytac 1525 in Portugal bemerkbar. Die Frage nach Ursachen dieser Sonderentwicklung lässt Euskirchen bewusst ergebnisoffen, stellt aber auch die portugiesischen Verhältnisse in den Kontext des um 1500 aufscheinenden Geists des Neuen.
Alles in allem lag dem Rezensenten mit den "Wegen zu Renaissance" ein schönes Buch vor, das viel Neues enthält, aber auch Bekanntes konzis und prägnant auf den Punkt bringt. In seltener methodischer und inhaltlicher Stringenz führen die einzelnen Essays und Fallstudien vor, wie Nußbaum in seiner Einführung den programmatischen Titel des Bandes verstanden haben will: Die im Lauf der Forschungsgeschichte eingeschlagene Befangenheit des Faches aufzuheben und statt der Norm italienischer Leitbilder die Bandbreite unterschiedlicher Strömungen zum Richtungsweiser für die nördliche Renaissancekunst zu machen. Dieser Weg ist jetzt mehr als bereitet.
Christof Metzger