Rezension über:

Conny Dietrich / Hansdieter Erbsmehl: Klingers Nietzsche. Wandlungen eines Porträts 1902-1914. Ein Beitrag zur Kunstgeschichte des "neuen Weimar". Hrsg. v. Justus H. Ulbricht im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen, Jena: Glaux 2003, 172 S., 99 s/w-Abb., ISBN 978-3-931743-66-6, EUR 19,00
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Rezension von:
Stefan Grohé
Köln
Redaktionelle Betreuung:
Ekaterini Kepetzis
Empfohlene Zitierweise:
Stefan Grohé: Rezension von: Conny Dietrich / Hansdieter Erbsmehl: Klingers Nietzsche. Wandlungen eines Porträts 1902-1914. Ein Beitrag zur Kunstgeschichte des "neuen Weimar". Hrsg. v. Justus H. Ulbricht im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen, Jena: Glaux 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 12 [15.12.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/12/6464.html


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Conny Dietrich / Hansdieter Erbsmehl: Klingers Nietzsche. Wandlungen eines Porträts 1902-1914

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Neben den großen bürgerlichen Kunstzentren der deutschen Moderne in Berlin und München etablierte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch in Weimar ein künstlerisches Netzwerk, aus dem heraus sich wichtige und nachhaltige Impulse für die Kunst entwickelten. Dass in der Provinz des Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach regelmäßig spektakuläre Ausstellungen stattfanden, dass dort im Jahre 1903 der Deutsche Künstlerbund gegründet wurde und dass Henry van de Velde hier einige seiner frühen Bauten verwirklichen konnte, verdankt sich vor allem dem Engagement Harry Graf Kesslers. Dieser hatte zwar nur von 1903 bis 1906 den ehrenamtlichen Vorsitz des Kuratoriums des Großherzoglichen Museums für Kunst und Kunstgewerbe inne, das ihm eine öffentlichkeitswirksame Ausstellungspolitik mit Vertretern der modernen Kunst erlaubte. Er wirkte aber bereits vorher und auch nach seiner skandalumwitterten Demission auf eine kulturelle Erneuerung hin. Nach seinem eigenen Diktum sollte im geistigen Zentrum dieser Bewegung Friedrich Nietzsche stehen, dem somit als zeitgenössischer Leitfigur die Rolle zugewiesen wurde, die Goethe aus der Perspektive um 1900 für die deutsche Kultur hundert Jahre zuvor eingenommen hatte. Den psychisch schwer erkrankten Philosophen hatte seine Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche in die Weimarer Villa "Silberblick" überführt und tat schon zu seinen Lebzeiten alles dafür, einen Kult um ihren Bruder zu installieren.

Mit Nietzsches Tod am 25. August 1900 begann eine künstlerische Projektreihe, die sein Nachwirken sichern und sein "Image" festlegen sollte. Einem ganz entscheidenden Aspekt dieser Kunstpolitik im Dienste des Nietzsche-Kultes ist die vorliegende Publikation gewidmet, die anlässlich einer im Herbst 2003 veranstalteten Ausstellung im Nietzsche-Archiv Weimar (15. Oktober - 29. November) erschien. Das Eröffnungsdatum war symbolisch gewählt, denn an jenem Tag jährte sich zum einhundertsten Mal die Aufstellung einer Marmorbüste von der Hand Max Klingers, die dieser im Vorgriff auf die noch heute in situ befindliche Herme und im Auftrag Kesslers geschaffen hatte. Erstmals sind in diesem schmalen Band alle sieben plastischen Porträts, die Klinger von Nietzsche anfertigte, und alle relevanten Quellen versammelt, begleitet von drei Aufsätzen, die das kulturelle Umfeld und die künstlerische Leistung Klingers würdigen.

In seinem einleitenden Beitrag beschreibt Justus H. Ulbricht die kulturelle Atmosphäre in der so genannten Doppelstadt" Weimar-Jena, in der ein intellektuelles Programm wieder auflebte, wie es sich bereits zu Goethes Zeiten schon einmal Bahn gebrochen hatte. Getragen von Institutionen wie dem "Deutschen Künstlerbund" und dem Jenaer Kunstverein artikulierte sich dort ein ästhetisierendes Weltverständnis, welches ebenso wie die kulturkonservativen Unternehmungen des kaiserlichen Berlin zu verstehen war als bürgerlich-elitäre Reaktion auf die "Auswüchse" der neuen Industriegesellschaft. Harry Graf Kessler und den geistesverwandten Intellektuellen in der Residenz- wie der Universitätsstadt gelang es über einen Zeitraum von etwa zehn Jahren ein künstlerisches Mikroklima zu erzeugen, das Künstler von van de Velde über Klinger bis hin zu Maillol anzog und auch auf anderen Gebieten der Kultur (Theater, Literatur) eine Epoche bedeutete, deren Abgesang Helene von Nostitz nach dem Ersten Weltkrieg sentimentalisch in ihren Erinnerungen "Aus dem alten Europa" beschrieb. [1]

Auf die Initiative des glühenden Nietzsche-Verehrers Kessler geht die Idee zurück, diese Aktivitäten mit einem symbolischen Zentrum in Gestalt einer Porträtbüste des Philosophen zu versehen, die sich inmitten des von Henry van de Velde umzugestaltenden Sterbehauses befinden sollte. Während die Weimarer Verantwortlichen - allen voran Förster-Nietzsche - natürlich zügig ein möglichst vorteilhaftes Bildnis ihres Idols erwarteten, erwies Klinger sich jedoch immer wieder als zögerlich und hielt kaum einen der versprochenen Termine ein. Kesslers idealisierender Begeisterung für die Physiognomie der von ihm verehrten Geistesgröße, von der er sich scheinbar nicht weniger als eine läuternde Wirkung auf die Masse der Betrachter erwartete, stand aufseiten des Künstlers ein realistischer Skeptizismus gegenüber. Die erste, 1902 fertig gestellte Bronzebüste, für deren Erstellung nach dem Vorbild der Totenmaske Klinger beinahe zwei Jahre benötigte, galt ihm regelmäßig nur als Vorstudie. Nachdem sie bis vor wenigen Jahren als verschollen galt, kann Erbsmehl sie nun in seinem Beitrag erstmals ausführlich vorstellen. Er weist darüber hinaus nach, dass die gelegentlich geäußerte Vermutung, Klinger habe die ihm nach Paris übersandte Totenmaske korrigierend überarbeitet, nicht zu halten ist. Aus Briefen geht hervor, dass der Künstler vielmehr einen Abguss erstellte, dem er dann eine "Rectifizierung" angedeihen ließ.

Es waren vor allem Klingers Porträts, an denen sich ein cranologischer Diskurs über die geistigen und physischen Kapazitäten Nietzsches entzündete. Von den einen wurde seine Schädelform ausweislich der Büsten als untrügliches Zeichen einer syphilitisch induzierten Geisteskrankheit interpretiert, während Kessler und Förster-Nietzsche dem Charakterkopf ein geradezu abbildliches Verhältnis zur Kraft seiner eindrücklichen Schriften attestierten. In seinen Kommentaren zum Werkprozess stellte Klinger dem schwärmerischen Ton des Grafen regelmäßig nüchternen Realismus entgegen. Zwar ist es richtig, dass Klinger just zu dieser Zeit ein viel beschäftigter Bildhauer und Maler war, doch kann man sich des Eindrucks einer gewissen Distanz zu den Weimarer Kreisen nicht erwehren, wie Conny Dietrich in ihrem Beitrag andeutet. Sie erläutert einleuchtend die engen persönlichen Beziehungen Klingers zu Weimar, wo Kessler seine Tätigkeit als Ausstellungskurator 1903 nicht umsonst mit einer Klinger-Ausstellung eröffnete. Der vielfältig begabte Künstler hielt sich aber immer dann zurück, wenn es sich um eine institutionelle Anbindung drehte: so verschiedentlich bei der Besetzung von Professuren an der Weimarer Kunstschule.

Kessler hatte mit Klinger eine Höhe der Hermenbüste von 225 Zentimeter vereinbart. Während der Arbeit berichtete der Künstler seinem Kollegen Hans Olde, dass der Gipskopf nach seinem eigenen bronzenen Studienkopf, der ihm als Ausgangspunkt diente, 29 Zentimeter (ohne Haare, wie er betonte!) messe (94). Begleitet von skeptischen Bemerkungen seitens van de Veldes, der um die Wirkung seiner Inneneinrichtung fürchtete, verlängerte er die endgültig aufgestellte Herme schließlich auf 235 Zentimeter Gesamthöhe. So gelang es ihm, die idealen vitruvianischen Proportionen 1:8 von Kopf zu Gesamthöhe zu erreichen und auf diese Weise auch in der Größe die Gottähnlichkeit des Abgebildeten zu erhöhen. Erbsmehl kann gegen die früher geäußerte Überzeugung des Rezensenten klarstellen, dass die endgültige Aufstellung der Herme, von der man bis vor wenigen Jahren annahm, sie befände sich seit 1903 an ihrem heutigen Ort, nicht schon im Frühjahr, sondern erst im Herbst 1905 erfolgte. Bis dahin fungierte eine Marmorbüste auf provisorischem Sockel als eine Art "Platzhalter", die dann in einer russischen Privatsammlung verschwand und heute in der Eremitage aufbewahrt wird.

In den letzten Jahrzehnten ist die Bedeutung Friedrich Nietzsches für die bildende Kunst der Jahrhundertwende zunehmend ins Blickfeld geraten. [2] Fast gleichzeitig erfährt der lange unterschätzte Max Klinger eine Neubewertung in der kunsthistorischen Forschung. Der ansprechend publizierte Band führt beide Forschungsstränge zusammen und erzählt auf solider Quellenbasis eine spannende Episode aus der Geschichte ästhetischer Überzeugungen in Deutschland am Beginn des letzten Jahrhunderts.


Anmerkungen:

[1] Helene von Nostiz, Aus dem alten Europa. Menschen und Städte, Weimar / Leipzig 1924.

[2] Jürgen Krause, "Märtyrer" und "Prophet". Studien zum Nietzsche-Kult in der bildenden Kunst der Jahrhundertwende (=Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung; 14), Berlin/New York 1984; Hansdieter Erbsmehl, Kulturkritk und Gegenästhetik. Zur Bedeutung Friedrich Nietzsches für die bildende Kunst in Deutschland, 1892-1918, Ann Arbor (Mich.), UMI, 1993 (zugl. Diss. Los Angeles, Univ. of California, 1993).

Stefan Grohé