Barbara Mahlmann-Bauer (Hg.): Scientiae et artes. Die Vermittlung alten und neuen Wissens in Literatur, Kunst und Musik (= Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung; Bd. 38), Wiesbaden: Harrassowitz 2004, 2 Bde., 1136 S., ISBN 978-3-447-04903-0, EUR 159,00
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Der 10. Internationale Wolfenbütteler Barockkongress (April 2000) hat zum zweiten Mal ein Thema aus dem Bereich der Wissenschaftsgeschichte zum Hauptgegenstand einer Tagung des Arbeitskreises für Barockforschung gewählt. Ging es auf dem 5. Jahrestreffen 1985 um die Sozietäten als Institutionen der Gelehrsamkeit, so wurde diesmal die Entwicklung der Wissenschaften selbst in die Betrachtung gezogen. Den Schwerpunkt bildeten berechtigterweise die Naturwissenschaften, wobei, entsprechend der noch zu schildernden Orientierung des Kongresses, keine Behandlung der einzelnen Disziplinengeschichten im klassischen Sinn intendiert wurde. Es ging vielmehr um die Verbindung zwischen dem sich wandelnden Wissen von der Natur und den kulturellen Entwicklungen der Epoche. Das erforderte sowohl die Einbeziehung von Historikern der Naturwissenschaften als auch von Vertretern der Geisteswissenschaften. Die Kommunikation zwischen diesen beiden Wissenskulturen ist heute, im Gegensatz zum Barock, bekanntlich nicht immer einfach. In Wolfenbüttel scheint jedoch, zumindest lassen die vorgelegten Bände darauf schließen, diese Diskussion einen fruchtbaren Verlauf genommen zu haben. Als misslich zu konstatieren ist allerdings der gerade bei den Wolfenbütteler Tagungen immer größer werdende zeitliche Abstand zwischen der Veranstaltung und dem Erscheinen der Protokollbände; im vorliegenden Fall sind es fast viereinhalb Jahre! Bei den Beiträgen, die keine neuere Literatur nachträglich eingearbeitet haben, wird das beim Durchblättern rasch erkennbar.
Die jetzt vorgelegten zwei dickleibigen Bände bieten die Texte von fünfzig Vorträgen, geteilt in Plenarreferate (8) und in Referate, die innerhalb von sechs Sektionen gehalten wurden. Vier Sektionen besitzen eine Einleitung beziehungsweise Zusammenfassung, zwei merkwürdigerweise nicht. Die rasche Orientierung über den Inhalt der umfangreichen Bände wird leider dadurch erschwert, dass die Sektionen weder im Inhaltsverzeichnis noch im Text Überschriften besitzen; erst beim Mustern der jeweiligen Vortragsthemen steigt beim Leser eine Vorstellung auf, welche Themenkomplexe hier behandelt werden: Astronomie, Physik, Alchemie, Psychologie, Medizin, Geografie beziehungsweise Entdeckungsreisen. Der Umfang der einzelnen Sektionen schwankt, wie dies bei entsprechenden Sammelbänden häufig der Fall ist. Am schmalsten ist die für das Barockzeitalter wichtige medizinhistorische Abteilung ausgefallen, wo sich nur ganze drei Referenten fanden. Allerdings tangieren einige Aufsätze zur Psychologie / Anthropologie auch den Bereich der Medizin. Herausgeberin der Bände ist Barbara Mahlmann-Bauer (Bern), die durch zahlreiche einschlägige Publikationen, die in den Bereich des Tagungsthemas fallen, bestens ausgewiesen ist. Ein umfangreicher programmatischer Aufsatz (51 Seiten) aus ihrer Feder "Artes et scientiae - Künste und Wissenschaften - im Verhältnis zur Natur" eröffnet das Sammelwerk. Eigenartig mutet allerdings an dieser Stelle das Fehlen des Plenumsvortrages von Thomas Leinkauf "Der Natur-Begriff im 17. Jahrhundert und zwei seiner Interpretamente" an. Leinkaufs Theorien nämlich seien, berichtet die Herausgeberin, "grundlegend für die Konzeption des Kongresses und die Aufteilung der Sektionen" gewesen (26). Warum dieser zentrale und daher für den Leser sicher wichtige Beitrag nicht in den vorliegenden Bänden abgedruckt wurde, sondern an anderer Stelle (Berichte zur Wissenschaftsgeschichte), bleibt dem Außenstehenden verborgen. Um den Zugang zur Zielstellung des Gesamtwerkes zu finden, muss man sich daher allein an dem Eröffnungsaufsatz von Barbara Mahlmann-Bauer orientieren. Es ging den Teilnehmern, wird referiert, um die Konfrontation der frühneuzeitlichen Gelehrten mit neuen Erfahrungen, Beobachtungen und Erkenntnismethoden, die die antiken und mittelalterlichen Autoritäten ins Wanken brachten und so einen Zwang zu neuen Theoriebildungen ausübten. Dabei sollte es nicht allein um die Rekonstruktion der jeweiligen fachbezogenen Diskussion gehen, sondern auch um die Präsentation des Wissens außerhalb der Fachliteratur, so in der Dichtung und in der bildenden Kunst. Die Autorin beschäftigt sich dann mit der frühneuzeitlichen Deutung des Naturbegriffes und entwickelt hier unter Bezugnahme auf den bereits erwähnten Vortrag von Leinkauf die These, es habe in dieser Zeit zwei miteinander konkurrierende Naturbegriffe gegeben: Der einen Auffassung nach ist die Natur eine materiale res extensa, die experimentell erforschbar ist, aber kein "beseeltes Inneres" besitzt. Die andere Sichtweise der Natur richtet ihr Interesse auf deren intima rerum, das heißt auf die "Präsenz Gottes oder eines belebenden Prinzips". Alles Existierende hat also einen "transzendenten Seinsgrund". Der Wissenschaftler versteht sich hier als "Priester der Natur", der Gott in ihr aufspüren will. Die Beschäftigung mit der zeitgenössischen Diskussion um diese Naturauffassungen belege, so wieder die Autorin, dass der erste Begriff als "Auslaufmodell" betrachtet werden müsse. Diese angesichts der späteren tatsächlichen Wissenschaftsentwicklung als frappierend erscheinende Feststellung wird nicht weiter begründet, vielmehr schreitet die Gedankenführung zu einem neuen Komplex fort. Es geht um die Erläuterung der Titelformulierung "Artes et scientiae". Dieses Nebeneinander besitzt drei Bedeutungen: Ars und scientia als Termini der aristotelischen Philosophie (Unterscheidung zwischen nicht notwendigen und notwendigen Sachverhalten), als Bezeichnungen für die freien Künste (Fächer der Artistenfakultät) und die Wissenschaften der höheren Fakultäten sowie als Benennung für Handwerk, Kunst und Literatur auf der einen Seite beziehungsweise für die Wissenschaft auf der anderen. In die Formulierung des Buchtitels ist allerdings nur dieser dritte Aspekt eingegangen - Literatur, Kunst und Musik; von den anderen Aspekten ist hier nicht die Rede. Da im Übrigen ganze vier Beiträge (davon drei Plenarvorträge) Themen der Kunst und der Musik berühren, erscheint mir der Untertitel ohnehin eher irreführend zu sein. Die Argumentationsführung des Einführungsaufsatzes von Mahlmann-Bauer ist, wenn auch über diese oder jene Einzelfrage diskutiert werden kann, klar und überzeugend. Nur eben wird die Verzahnung der Ausführungen über "Scientiae et Artes" mit dem ersten Teil des Beitrages und seiner Abhandlung über die verschiedenen Naturbegriffe nicht deutlich.
Man wird nicht erwarten können, dass die programmatischen Ausführungen der Herausgeberin im strikten Sinne immer auch die Orientierungslinien der einzelnen Beiträge bildeten oder auch bilden konnten. Dazu sind die gewählten Einzelthemen zu unterschiedlich, dazu ist die jeweilige Herangehensweise zu verschieden. Es ist hier schon aus Platzgründen nicht möglich, die fünfzig Vorträge auch nur aufzuzählen, geschweige denn kritisch zu referieren. Die Fachwissenschaftler, die sich mit den oben aufgezählten Disziplinen beschäftigen, werden die Bände jedenfalls nicht vergeblich durchblättern. Ein wichtiges Ergebnis der gesamten Publikation scheint mir zu sein, dass sie die bestehende Kritik an einer linearen Darstellung der Wissenschaftsgeschichte deutlich unterstreicht, die das heutige Weltbild gleichsam zwangsläufig entstehen lässt, indem in einem Prozess der Aufwärtsentwicklung alle "unwissenschaftlichen" Elemente (zum Beispiel Alchemie und Astrologie) abgestoßen wurden. Nicht wenige Beiträge belegen an konkreten Beispielen eine weitaus differenziertere Entwicklung. Ein immer wieder anklingendes Thema ist das Verhältnis zwischen dem neuen Wissen und der Religion beziehungsweise der Theologie, das nach populären Darstellungen, deren Rezeption nach wie vor nicht unterschätzt werden darf, jederzeit von angespanntem Charakter gewesen sein soll. Die Wirklichkeit war eine andere: Von der Zeit der Reformation bis weit in das 18. Jahrhundert bildet die Erforschung der Natur und die Geltung der christlichen Religion in ihrer verschiedenartigen Ausprägung keinen Gegensatz, sondern greifen ineinander, wenn auch nicht immer konfliktfrei. Diese Erkenntnis ist nicht neu, aber sie bedarf der fortschreitenden Konkretisierung. In den vorliegenden Bänden gibt es dafür manches Beispiel.
Wissenschaftsgeschichte ist immer noch eine Disziplin, die an den deutschen Hochschulen ein Randdasein fristet und bei den derzeitigen finanziell begründeten Streichorgien, von denen die Universitäten heimgesucht werden, sogar in ihrer rudimentären Existenz bedroht ist. Eine Publikation, wie sie hier angezeigt wird, belegt, wie sinnvoll und notwendig es ist, sich mit den Ursprüngen der modernen Wissenschaften zu beschäftigen. Es bleibt daher zu hoffen, dass sich auch der Wolfenbütteler Barockkongress nicht das letzte Mal der Wissenschaftsgeschichte zugewandt hat.
Detlef Döring