Rezension über:

Arnd Bauerkämper / Hans Erich Bödeker / Bernhard Struck (Hgg.): Die Welt erfahren. Reisen als kulturelle Begegnung von 1780 bis heute, Frankfurt/M.: Campus 2004, 412 S., ISBN 978-3-593-37486-4, EUR 39,90
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Rezension von:
Antje Stannek
Historisches Seminar, Technische Universität Braunschweig
Redaktionelle Betreuung:
Nikolaus Buschmann
Empfohlene Zitierweise:
Antje Stannek: Rezension von: Arnd Bauerkämper / Hans Erich Bödeker / Bernhard Struck (Hgg.): Die Welt erfahren. Reisen als kulturelle Begegnung von 1780 bis heute, Frankfurt/M.: Campus 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 1 [15.01.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/01/7234.html


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Arnd Bauerkämper / Hans Erich Bödeker / Bernhard Struck (Hgg.): Die Welt erfahren

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Der angezeigte Band versammelt 16 Beiträge zur historischen Reiseforschung, die alle das Reisen als eine kulturelle Praxis begreifen. Sie umfassen Reisen von und nach Europa im Zeitraum von 1750 bis heute. Besonders empfohlen sei die Lektüre der Einleitung der Herausgeber (9-30), in der sie den Forschungsansatz definieren und die neueren Beiträge der historischen Reiseberichtsforschung seit der Zusammenschau von Michael Maurer bewerten. [1]

Die Herausgeber sehen vier Dimensionen im Forschungsgebiet Reisen: Erstens die technisch-pragmatische Seite des Reisen. Hier geht es um die Erschließung historischer Verkehrsmittel und -wege. Zweitens die Wahrnehmungs- und Erfahrungsgeschichte des Reisens. Drittens die Berichterstattungspraxis, also die Ebene der Darstellung der Reise im Text. Viertens die Transferleistungen der Reisenden.

Diese klare Differenzierung ermöglicht theoretisch ein Zusammenwirken bisher eher getrennt verlaufender Stränge der Forschung. Zentrale und diffizile Aufgabe des Unternehmens war ein reflexiver Bezug von Reisepraxis und Wahrnehmungsperspektive respektive Berichterstattungsdimension. Diese methodisch interessante Aufgabe erfüllten die verschiedenen Teilnehmer der internationalen Tagung am Zentrum für vergleichende Geschichte Europas (ZVGE) und des Frankreich-Zentrums der Technischen Universität Berlin, auf deren Beiträge die Publikation zurückgeht, in unterschiedlichem Maße.

Gegliedert sind die Beiträge in drei, jeweils von den Herausgebern mit einleitenden konzeptionellen Bemerkungen versehenen Rubriken, nämlich "Räume und Zeiten", "Wissens- und Kulturtransfer" sowie "Alteritäten und Identitäten". Es scheint wenig sinnvoll, alle 16 Beiträge hier aufzulisten. Deshalb beschränke ich mich auf jeweils einen Beitrag je Rubrik und führe die Übrigen nur an.

Die erste Rubrik umfasst also die Raum- und Zeitwahrnehmungen von Reisenden. Phänomene wie Be- und Entschleunigung von Zeitempfinden werden ebenso angesprochen wie die Normierung des Zeitbewusstseins durch die Eisenbahn. Grenzen erhalten in dem besprochenen Zeitraum ein zunehmend nationales Gesicht. Ulrike Plath analysiert den Blick deutscher Reisender auf das russische Baltikum, Bernhard Struck differenziert die Wahrnehmung der deutschen West- und Ostgrenzen des Reiches. Christian Borkemeier betrachtet den Raum als Metapher im Fin de Siècle, und Hagen Schulz-Forberg widmet sich den Deutungen englischer Vergangenheiten in deutschen und französischen Reiseberichten.

Mit welchen Zivilisationskonzepten betrachten tschechische Balkanreisende im 19. und 20. Jahrhundert die verschiedenen Völker auf dem Balkan? Das ist die Frage von Hana Sobotková (95-114). Sie bezieht sich dabei auf die Beiträge von Larry Wolff und Maria Todorova, die den Kulturraum "Balkan" als eine kulturelle Konstruktion definieren und parallel zu Edward Saids "Orientalism" von einem "Balkanism" sprechen. [2] Die Reiseberichte der Tschechen über den Balkan waren nach Sobotková von dem Bemühen gezeichnet, einerseits die Zugehörigkeit der Tschechen zur europäischen Zivilisation zu betonen und zu diesem Zweck ihre Abgrenzung von allem "Osmanischen" hervorzuheben, andererseits definierten sich die Tschechen als Teil der slawischen Völkergruppe und betonten ihre Verbundenheit mit den Südslawen auf dem Balkan.

Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts seien Kontakte mit den im Osmanischen Reich lebenden Balkanvölkern faktisch kaum vorhanden gewesen. Erst seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts erweiterten sich die Kontakte. Tschechen gingen als Lehrer oder technische Facharbeiter in die slawischen Balkangebiete, und südeuropäische Studenten kamen nach Prag. Mit den Balkankriegen (1912/13) löst sich das bis dahin überwiegend positive Bild der Südslawen bei den Tschechen auf, und die christlichen Slawen werden als Verteidiger der europäischen Zivilisation gegen die nichtchristlichen Slawen und die Barbaren stilisiert.

Es scheint ein übergreifendes Problem der Europawahrnehmung zu sein, dass Kulturen, deren Zugehörigkeit zu Kerneuropa am ehesten in Zweifel gezogen wird, sich am dringlichsten einer Abgrenzung gegenüber noch peripherer gelegenen Gruppen (Beitrittskandidaten?) versichern möchten. Hier böten sich spannende Vergleiche an, die Identifikationsmuster deutlich machen und Sobotkovás Analyse tschechischer Selbstbilder hinterfragen könnten.

In der Rubrik "Wissens- und Kulturtransfer" stehen Fallstudien im Mittelpunkt: Julia Lederle beleuchtet die Rolle der Jesuiten in Asien, Thomas Müller untersucht reisende Psychiater im 19. Jahrhundert und Françoise Knopper verschiedene Repliken gegen sozialkritische aufklärerische Reiseberichte in deutschen Wochenschriften und Journalen. Alexandra Bekasova thematisiert den Wissenstransfer anhand von Beispielen russischer Studenten an westeuropäischen Hochschulen.

Joachim Rees stellt die Transferleistungen von Fürstenreisen dar. Er analysiert Fürstenreisen zwischen 1750 und 1800 aus den Häusern Reuß-Obergreiz, Brandenburg-Ansbach, Brandenburg-Bayreuth, Anhalt-Dessau, Württemberg, Hessen-Kassel und Pfalz-Bayern (191-218). Die Funktion der Fürstenreise besteht nach Rees in erster Linie in der Mobilitäts- und Qualifikationschance für die mitreisenden Hofmeister.

Zweifelsfrei richtig ist seine Beobachtung, dass sich insbesondere die Hofmeister auf den Fürstenreisen weiterqualifizierten und ihr im Ausland erworbenes Wissen nutzbringend für den weiteren Berufsweg verwandten. Rees schildert zum Beispiel die Karriere des im Dienst des Fürsten von Anhalt-Dessau stehenden Georg Friedrich von Raumer (1755-1822), der als 20-jähriger mit dem jungen Fürsten Leopold III. Friedrich Franz nach England gelangt und dort ein Jahr verbleibt, um Lord Shelburnes Musterfarm High Wycombe zu inspizieren. Die gewonnenen Einsichten in englische Zucht- und Ackerbaumethoden wandte Raumer dann nach seiner Rückkehr als Pächter auf der Domäne Wörlitz an.

Eine derartige Karriere ist allerdings entgegen der Ansicht von Rees keineswegs eine Errungenschaft des späten 18. Jahrhunderts. Vielmehr waren technische und kulturelle Transferleistungen schon immer ein integraler Bestandteil von Fürstenreisen. Von einer "charakteristischen Kontextveränderung" lässt sich daher kaum sprechen. Erinnert sei hier nur an den mit dem württembergischen Herzog reisenden Architekten und Hofbaumeister Heinrich Schickhardt. [3]

Kameralistisch orientierte Kritiker des Reisens reflektierten die Aufgaben des Fürsten und bewerteten die Fürstenpädagogik. An der Reisepraxis oder an der Wertschätzung der Ausbildung der Prinzen änderte sich durch diese Kritik allerdings nichts. Keineswegs ist davon auszugehen, dass sich der repräsentativ-zeremonielle Aspekt der Fürstenreisen im achtzehnten Jahrhundert erheblich verringert habe. Von einer "Versachlichung" der Reisepraxis ist daher nur mit Vorsicht zu sprechen - jedenfalls steht ein Beleg für einen vermeintlichen Rationalisierungsschub bei der fürstlichen Reisepraxis noch aus.

In der dritten Rubrik "Alteritäten und Identitäten" setzt Giles Bertrand zu einer vergleichenden Erforschung europäischer Stereotype an. Frauke Geyken zeigt, wie sich die Identität reisender Engländer in den katholischen Territorien des Heiligen Römischen Reichs konfessionalisiert. Gabriele Dürbeck beschreibt die Fremdheitsmuster deutscher Südseereisender, und Paul Lützeler analysiert die Möglichkeiten eines dritten Weges zwischen Fremdheitserfahrung und Anverwandlung, wie er in Uwe Timms Romanen versucht wird.

Eine geschlechtsspezifische Perspektive auf zwei Reiseberichte über Galizien wirft Dietlind Hüchtker. Sie zeigt die europäische Peripherie als Imaginationsort für ansonsten marginale Ideen, seien sie nun frauenemanzipatorisch oder sozialistisch-zionistisch motiviert. Bertha Pappenheim und Saul Raphael Landau sahen in Galizien ihre jeweiligen Reformthemen. Pappenheim kämpfte gegen den Mädchenhandel, Landau für die jüdische Arbeiterbewegung. Armut und Unterentwicklung sind für beide Reisende Synonyme für traditionelle Gesellschaften, während die reisenden Kritiker sich als die Vertreter einer modernen Gesellschaft begreifen. Dieses Muster von Selbst- und Fremdeinschätzung kann sicherlich auch an anderen Orten und für viele Reisende des 19. Jahrhunderts fruchtbar angewandt werden. Mit der Geschlechterproblematik hat dies allerdings weniger zu tun.

Insgesamt liefern die Beiträge ein breites Spektrum unterschiedlichster Reiseziele, Reisegruppen und Reiseintentionen. Vielleicht wünscht sich mancher Leser ein Fazit, das die systematischen Überlegungen der Einleitung fortsetzt, oder vielleicht auch eine stärkere Verzahnung der textorientierten Reiseliteraturforschung mit der sachorientierten Reisepraxisforschung. Ansätze und Beispiele liefert der vorliegende Band zur Genüge - nun steht eine weitere konzeptionelle Aufarbeitung des Forschungsfeldes "Reisen als kulturelle Praxis" an.


Anmerkungen:

[1] Michael Maurer (Hg.): Neue Impulse der Reiseforschung, Berlin 1999.

[2] Larry Wolff: Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of Enlightenment, Stanford 1994; Maria Todorova: Die Erfindung des Balkans, Darmstadt 1999.

[3] Heinrich Schickhardt: Reiseaufzeichnungen aus Italien, hg. v. Dirk Jonkanski, Dissertation TU Berlin, Berlin 1987 (Mikrofiches); Europarat: Europäische Kulturrouten. Die Schickhardt Route. European Institute of Cultural Routes (EICR), siehe: www.culture-routes.lu

Antje Stannek