Friedrich Balke / Gregor Schwering / Urs Stäheli (Hgg.): Paradoxien der Entscheidung. Wahl / Selektion in Kunst, Literatur, Medien (= Masse und Medium; 3), Bielefeld: transcript 2004, 245 S., ISBN 978-3-89942-148-4, EUR 24,80
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Beobachtet man, wie heute vielfach praktiziert, Kunstwerke nicht direkt, sondern die medialen Filter, historischen Institutionen und technischen Vorgaben, die Kunst als Werke repräsentieren und in kontextuellen Zusammenhängen entstehen lassen, so nähert man sich notwendigerweise werkübergreifenden, auch technischen Fragestellungen: sie betreffen das aktuelle Kommunizieren mit und von Kunst durch das Publikum. Nicht mehr vom "offenen Kunstwerk" (Umberto Eco) ist heute die Rede sondern eher von Formen, mit denen es gelingt, die Selbstaktivierung von Kunst nach Außen hin zu vermitteln. In diesem Kontext spielen gegenwärtig zunehmend Fragen eine Rolle, die den systematischen medialen Umgang mit den funktionalen und dysfunktionalen Aktivitäten des Werkes und seiner Nutzer betreffen. Der interdisziplinär ausgerichtete Band "Paradoxien der Entscheidung. Wahl/Selektion in Kunst, Literatur und Medien" reagiert auf diese aktuelle Forschungssituation. Aus der Zusammenstellung von literatur-, medien-, und kulturwissenschaftlichen Aufsätzen seien an dieser Stelle eher einige grundlegende methodischen Fragestellungen referiert als die inhaltlichen Dimensionen einzelner Aufsätze nachgezeichnet.
Jedes Werk, so Luhmann bereits in seinem frühen Aufsatz "Ist Kunst codierbar" (1981) ist "Träger außergewöhnlicher Selektionen". Und jede Wahl ist ein Akt der Entscheidung. Mit Niklas Luhmann, der einleitend die "Paradoxien des Entscheidens" in den Blick zu nehmen versucht, erkennt der Leser zunächst, dass die Operationen von "Entscheidung zu Entscheidung ein (...) selbstgemachtes Artefakt" (17) darstellen. Eine Entscheidung muss nicht immer als "als Ursache einer Wirkung" abgesehen werden, sondern ein System, dass sein eigenes Operieren mitreproduziert, ist ein Ort, an dem jeweils eine Einheit der Differenz praktiziert wird - das Paradox, einerseits in seinen aktuellen Operationen Unterscheidungen vorzunehmen (Alternativen abzuwägen, Folgen und Voraussetzungen abzuschätzen et cetera) und andererseits die Form des Entscheidens selbst zu beobachten, "die das Unterscheiden erst ermöglicht, aber selbst nicht in das Unterschiedene eingehen kann"(21). Als Form, in der das Entscheiden mitbeobachtet wird, beobachtet der Beobachter eine Paradoxie. Wer entscheidet, der wählt zugleich eine logisch ausgeschlossene, paradoxe Form praktizierter beobachteter Beobachtung, die "nicht sieht, dass sie nicht sieht, was sie nicht sieht"(25). Und umgekehrt: wer derartige Beobachtungen zweiter Ordnung beobachtet, der entscheidet (implizit oder explizit), dass realisierte Unterscheidungen nicht zugleich Unterscheidungen bezeichnen als auch unbezeichnet gelassen werden können - wiederum eine Paradoxie der Form, die in sich selbst enthalten ist. "Die Börse, an der die Optionen auf Entfaltung der Paradoxie gehandelt werden, heißt, 'Kultur'" resümierte Niklas Luhmann in einem bereits 1993 verfassten Aufsatz "Die Paradoxie der Form". Die Niklas Luhmanns einleitendem Aufsatz folgenden sieben Texte aus der Literatur-, Kunst-, Medienwissenschaft und Soziologie nehmen die von Luhmann präzisierten Herausforderungen und Anregungen nur insoweit auf, als sie dessen Thesen exemplifizieren.
Der anregendste und auf hohem (system-)theoretischen Niveau argumentierende Aufsatz von Torsten Hahn "Fiktive Wahllosigkeit. Die Kunst der Orientierung in J.L. Borges' 'Garten der Pfade, die sich verzweigen'" (87-115) stellt die kommunikativen Strategien im Umgang mit den Selektionenleistungen des Autors und den Selektionserwartungen und -horizonten des Lesers in den Mittelpunkt. Stellt man sich vor, dass ein Werk wie der Roman von Borges eine große Erzählung von möglichen und aktualisierten Selektionen erzählter kommunikativer Ereignisse besteht, die nicht nur als reine Folge eines Nacheinanders, sondern als mediale, in sich selbst wiederholte Filter begriffen wird, so wird deutlich, wie das Ineinander von Erzählung und erzählter Erzählung als Praxis einer Form gewordenen Wahl von Entscheidungen realisiert wird. Jede Selektion, so verdeutlicht Hahn, arbeitet dabei nicht nur mit realisierten Möglichkeiten sondern mit einem Raum der auch nicht-realisierte Möglichkeiten einschließt, also mit Varietät als zukunftsoffener Strategie arbeitet. Ein (hier im Detail natürlich nicht näher auszuführender) Clou von Borges Roman liegt, so Hahn, darin, dass der Leser in der spezifischen Auswahl und Anordnung von selektiven, möglichen Informationen nicht einen Schlüssel zur Auflösung des erzählten Geschehens findet, sondern dass Informationen selbst zu Bestandteilen von Bedeutungen generiert werden, die jedoch gerade durch erhöhte Redundanz wahrnehmbar werden. Das "Rauschen des Möglichen" ist einerseits Garant "dass überhaupt etwas informativ sein kann" (98) andererseits wird Verstehen als "Selektion von Information und Störung" (98) als Thema der Erzählung von Borges und damit als Problem des Lesers formuliert. Wenn der Autor in einem Teil seines Romans seinen Protagonisten erklären lässt, das Labyrinth und Roman ein und dieselbe Sache ist, wird das Werk als Möglichkeitsraum absehbar, als Möglichkeit für die Realisierung von Fiktion: "Den Roman als Labyrinth zu lesen, hatte auf die Möglichkeit seiner Entschlüsselung verwiesen. An jeder Verzweigung entsteht eine neue Erzählung [...] woraus das räumliche Modell des Gartens resultiert" (101) Oder mit Luhmann gesprochen: "Kunst verschärft die Differenz zwischen dem Realen und dem bloß Möglichen" (101). So anregend sich Hahns Ausführungen auch lesen lassen: man wird den Eindruck nicht los, dass er Borges in erster Linie letztlich immer mit der kalten Erklärungskunst des Systemtheoretikers Luhmann liest. Dieses gilt in noch stärkerem Maße auch für den letzten Aufsatz von Sabine Maasen.
Die Autorin untersucht in "Die Hypostasierung der Wahl in Ratgeberbüchern" (211-241) die seit den Neunzigerjahren zu beobachtenden Techniken des Selbstmanagements, die in zahllosen Ratgeberbüchern angeboten werden. Ihr Text liest sich dabei allerdings wie eine (unfreiwillige) Illustration zum theoretischen Einstieg Niklas Luhmanns. Ratgeber, so die Autorin, sind willkommene Medien in einer Zeit, in der Individualität nicht mehr durch dauerhafte Biografien und kollektive Lebensentwürfe, sondern eher durch "individualisierten" Verlust von Bindungen, Sicherheiten und Sinnperspektiven bestimmt sei. Identität als Feld des Selbstmanagements und Modell einer individuell kreierten Corporate Identity wird, so ihre Argumentation, tief in die Psyche der Individuen verlagert, wobei Techniken der Paradoxierung eine unübersehbare Rolle spielen. Der Zwang sich selbst zu vermarkten, setzt das Individuum unter permanenten Zwang, Entscheidungen mit weit reichenden Folgeketten zu treffen, die ein widersprüchliches Spannungsfeld zwischen selbst-stiftenden und selbst-disziplinären Techniken erzeugen.
Gerade für literatur- und medienwissenschaftlich interessierte Leser hält diese Aufsatzsammlung sicherlich anregende Theorie-Werkzeuge bereit, die geradezu zum autonomen Weiterdenken zwingen. Man vermisst jedoch einen Text, der demonstrieren könnte, wie die Strategien der Selektion sinnvollerweise auf die Interpretation gerade einzelner Werke der bildenden Kunst übertragbar seien könnten. Die heute favorisierten System- und Medientheorien erklären, wie Funktionen prozessiert werden. Oder etwas anschaulicher formuliert: Man möchte heute eben nicht nur das Licht um die Dinge im Schein der Geschichte sehen, sondern gerade auch den Geistesblitz spüren, der unerwartet dann entsteht, wenn ein Licht eine neue Welt entstehen lässt.
Michael Kröger