Rezension über:

Sebastian Barteleit: Toleranz und Irenik. Politisch-religiöse Grenzsetzungen im England der 1650er Jahre (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abt. für Universalgeschichte; Bd. 197), Mainz: Philipp von Zabern 2003, IX + 300 S., 4 s/w-Abb., ISBN 978-3-8053-3291-0, EUR 45,00
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Rezension von:
Beat Kuemin
Department of History, University of Warwick, Coventry
Redaktionelle Betreuung:
Ute Lotz-Heumann
Empfohlene Zitierweise:
Beat Kuemin: Rezension von: Sebastian Barteleit: Toleranz und Irenik. Politisch-religiöse Grenzsetzungen im England der 1650er Jahre, Mainz: Philipp von Zabern 2003, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 2 [15.02.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/02/4556.html


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Sebastian Barteleit: Toleranz und Irenik

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Die Auseinandersetzung mit dem englischen Bürgerkrieg und dem Interregnum gehört zu den Highlights jeder Überblicksveranstaltung zur Frühen Neuzeit. Das Zusammentreffen konstitutioneller Krisen, sozioökonomischer Konflikte und kirchenpolitischer Spannungen erlaubt ungewohnt tiefe Einblicke in zeitgenössische Problemlagen. Dies insbesondere dank der zahllosen Traktate, Petitionen und Flugschriften, die nach dem effektiven Zusammenbruch der Zensur den Markt überfluteten. Die 1640er- und 50er-Jahre gelten denn auch als Meilensteine in der Entwicklung von politischer Theorie, Öffentlichkeit und moderner Demokratie. [1]

Begleiterscheinungen dieser intensiven Debatten sind ungewohnte Quellenmassen und erbitterte Forschungskontroversen. Die so genannten "Thomason Tracts", die Sammlung eines zeitgenössischen Londoner Buchhändlers, die dieser Untersuchung zu Grunde liegen, umfassen nicht weniger als 22.000 Druckschriften. Das Spektrum der darin aufscheinenden Meinungen und Positionen hat seit der Restauration der Monarchie im Jahre 1660 nie abreißende Debatten um Wurzeln, Charakter und Ausgang der erbitterten Konfrontationen ausgelöst. Nach einer Welle von "revisionistischen" Darstellungen im ausgehenden 20. Jahrhundert - die die kurzfristigen Ursachen des Bürgerkrieges betonten - befindet sich die englische Historiografie wieder in einer Phase der Neuorientierung. [2]

In dieses Wespennest sticht Sebastian Barteleit mit seiner Untersuchung zu Rolle und Umfang der Toleranz in den 1650er-Jahren. In England war nach der Reformation zwar eine territoriale "Church of England" entstanden, die auf eine eigenartige Weise calvinistische Doktrin mit spätmittelalterlicher Kirchenorganisation verband, daneben aber existierten (Krypto-)Katholiken und eine gewichtige Zahl von radikaleren Protestanten, denen die offiziellen Veränderungen viel zu wenig weit gingen. Im Umfeld von Bürgerkrieg und "puritanischer" Revolution wuchs das Spektrum unorthodoxer Gruppierungen weiter, sodass sich die konfessionelle Landschaft Mitte des 17. Jahrhunderts äußerst heterogen präsentierte (Kapitel 2). Diese Gruppen lieferten sich intensive publizistische Gefechte, die unter anderem um Bedingungen für Koexistenz oder gar Einigung kreisten. Oliver Cromwell, Gentleman, Armeeführer, Königsmörder und schließlich quasi-monarchischer "Lord Protector", der in seiner Regierungszeit auf eine Verschmelzung der christlich-protestantischen Kräfte hinarbeitete (Kapitel 9), gab sich gerne tolerant. In einem Appell ans Parlament betonte er 1653: "And if the poorest Christian, the most mistaken Christian, shall desire to live peacably and quietly under you - I say, if any shall desire to lead a life of godliness and honesty, let him be protected" (235).

Barteleit hat in harter Arbeit (wohl noch ohne Zugriff auf die solche Studien nun dramatisch erleichternde Datenbank "Early English Books Online - EEBO") hunderte von relevanten Druckschriften durchgesehen und analysiert. In lobenswerter Weise distanziert er sich von einer linear-aufsteigenden Ideengeschichte der Toleranz (Erasmus-Castellio-Locke), um dafür Kommunikationssituationen und diskursive Kontexte in den Vordergrund zu stellen. Als methodische Orientierungshilfen dienen ihm Quentin Skinners Konzept der "politischen Sprachen", das heißt Textanalyse unter Berücksichtigung der politischen Intentionen von Autoren, sowie Jürgen Osterhammels sechs Modi des Umgangs mit Fremden an kulturellen Grenzen, also Inklusion, Akkomodation, Assimilation, Exklusion, Segregation und Extermination. Unter "Toleranz" wird die Frage nach der Koexistenz und unter "Irenik" die nach der Kooperation verschiedener religiöser Gruppen verstanden (Einleitung).

Das Buch gliedert sich in neun Kapitel, wovon die ersten drei (Vorgeschichte, religiöse Gruppierungen, Formen des Diskurses) Hintergrund und Kontext erläutern und die letzten sechs Einzelthemen behandeln (Kirchenform, Verhältnis Kirche-Obrigkeit, Rolle von Bildung und Wissenschaft, Antikatholizismus, Vergleich mit dem europäischen Festland, Kirchenpolitik des Interregnums). Teilzusammenfassungen und ein Schlusswort präsentieren die Resultate in konziser Form. Trotz der komplexen Materie ist der Text sehr gut lesbar.

Barteleit kommt zu klaren Ergebnissen: "Echte" Toleranz, also prinzipielle Duldung Andersgläubiger, findet man selten (etwa beim Anglikaner William Towers, Baptisten Roger Williams und dem Leveller William Walwyn; 192). Meist geht es in den untersuchten Schriften um den Nachweis der eigenen Rechtgläubigkeit. Allenfalls konzediert man im Bereich der "things indifferent", oder man hofft auf die Beseitigung von Missverständnissen durch verbesserte Sprachkenntnisse oder höhere Bildung (Kapitel 6). Die Grenzziehung zwischen dem "Eigenen" und dem "Fremden" - ein zentrales Erkenntnisinteresse des Autors - erfolgt in dynamischer und situativer Weise, das heißt, die Linien sind keinesfalls konstant, sondern ständigen Revisionen unterworfen. Dies etwa in den Auslandsbeziehungen, wo militärisch-politische Konflikte oft auch auf das Verhältnis zu Glaubensbrüdern abfärbten (Kapitel 8). Als negativer Referenzpunkt erscheint durchwegs der Katholizismus, nicht so sehr in seiner konkreten Verfasstheit, sondern als generelles Schreckensgespenst, als "papistisches" Verhalten, das potenziell auf jeden Gegner projiziert werden konnte (Kapitel 7). Selbst marginale Gruppen wie die Quäker, deren Überleben ein Mindestmaß an Toleranz voraussetzte, bezichtigten ihre Ankläger "katholischer" Verfolgungsmethoden und pochten auf die "Wahrheit" ihrer spiritualistischen Doktrinen (Kapitel 3). Abgrenzungen erfolgten also immer in spezifischen Kommunikationssituationen und dienten nicht zuletzt der Festigung der eigenen Identität.

Analytische Durchdringung und stringente Wertung des großen Quellenkorpus verdienen Anerkennung. Es wäre vermessen, an eine akademische Abschlussarbeit (das Buch stützt sich auf eine Osnabrücker Dissertation) noch höhere Anforderungen zu stellen. Allerdings ist in diesem Forschungsbereich selten etwas klar, eindeutig und unbestritten, weder im zeitgenössischen Schrifttum noch in der modernen Historiografie. Jeder Beitrag bewegt sich in einem Minenfeld von Faktoren, Kontexten und Interpretationen. Barteleit kennt und berührt zwar die relevanten Debatten, muss aber bei der Rechtfertigung umstrittener Begriffe ("Anglikaner", "Puritaner", "Ranter") sowie beim Referieren wichtiger Kontroversen öfters arg verkürzen. So kann die Auseinandersetzung um das "Überleben" beziehungsweise "Neuanwachsen" des nachreformatorischen Katholizismus "nicht thematisiert werden" (46), und auch "neuere Konzeptionen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit" bleiben bewusst unerörtert (74). Ganz blass ist das Bild von der breiteren Öffentlichkeit, an die sich viele Druckschriften richteten. Dass die Bevölkerung eine indifferente Haltung in religiösen Fragen einnahm und sich vor allem für "Sex-and-Crime-Geschichten" (95) interessierte, wird den Quellen - angesichts von Massendemonstrationen der Londoner Levellers wie auch Erkenntnissen aus Selbstzeugnissen - nicht gerecht. Die theoretische Orientierung an Skinner impliziert generell eine Absage an postmoderne Zweifel und Vertrauen in die Transparenz von Intentionen und Kausalitäten. Die Vorstellung eines "undurchdringlichen Dschungel[s]" (45) verschiedener Positionen und Denkrichtungen behagt Barteleit nicht.

In der Gesamtbeurteilung kann "Toleranz und Irenik" als anregende Fallstudie einer vielschichtigen Debatte in einem faszinierenden Umfeld empfohlen werden. Im Detail wäre einiges zu relativieren und zu differenzieren, doch in den Grundzügen sind die Ergebnisse plausibel. Sie dürften in der generelleren Toleranzforschung breite Beachtung finden. [3]


Anmerkungen:

[1] David Zaret: Origins of Democratic Culture. Printing, Petitions and the Public Sphere in Early Modern England, Princeton 2000.

[2] Ein Überblick in Kaspar von Greyerz: England im Zeitalter der Revolutionen 1603-1714, Stuttgart 1994, 14-34.

[3] Vgl. jüngst Harm Klueting (Hg.): Irenik und Antikonfessionalismus im 17. und 18. Jahrhundert, Hildesheim 2003.

Beat Kuemin