Sylvia Heudecker / Dirk Niefanger / Jörg Wesche (Hgg.): Kulturelle Orientierung um 1700. Traditionen, Programme, konzeptionelle Vielfalt (= Frühe Neuzeit. Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext; Bd. 93), Tübingen: Niemeyer 2004, VI + 317 S., ISBN 978-3-484-36593-3, EUR 68,00
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Die Epoche der Frühen Neuzeit, die ja bekanntermaßen die drei Jahrhunderte zwischen 1500 und 1800 umfasst, ist wiederum in sich gegliedert. Über die gegenseitige Abgrenzung und über die jeweilige inhaltliche Definition dieser einzelnen Abschnitte ist die Diskussion seit Jahrzehnten im Fluss. Eine besondere Bedeutung wird in dieser Debatte der Zeit der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert zugemessen. Nach einer sehr umstrittenen, aber immer noch anregenden These Ernst Troeltschs [1] liegt dort die eigentliche Grenze zwischen dem Mittelalter und der modernen Welt: Letztere beginne sich in der Zeit des Humanismus und der Reformation vorzubereiten, erfahre ihre eigentliche Ausformung jedoch erst im Jahrhundert der Aufklärung.
Im Blick auf diesen Ansatz Troeltschs greift man mit besonderer Erwartung nach einem Band, der Auskunft über die kulturelle Orientierung um 1700 verspricht. Das Buch enthält 15 Referate, die Ende 2000 auf einer Tagung in Wolfenbüttel vorgetragen wurden und nun nach vier Jahren der allgemeinen Öffentlichkeit zugänglich sind. Eine grundsätzliche Orientierung über die Intentionen der Tagung erwartet man herkömmlicherweise vom Text der Einleitung, im vorliegenden Fall allerdings mit eher unbefriedigendem Ergebnis. Die Zeit um 1700 sei im Gegensatz zu den meisten anderen Abschnitten der Frühen Neuzeit, in denen die Nationen sich auf die Schaffung einer "kulturellen Einheitlichkeit" zu konzentrieren suchten, durch "eine offenere, ja vielfältigere Kultur" geprägt worden. Die Forschung, heißt es weiter, trage dem zu wenig Rechnung, sei doch die Zeit zwischen 1680 und 1730 immer noch weithin eine terra incognita; das gelte besonders für die Leitgattungen Theater, Oper und Roman. Die schon erwähnte kulturelle Vielfalt der Epoche rate vom Gebrauch der "vorwiegend national greifenden Kategorien 'Barock' und 'Aufklärung' ab". Plädiert wird daher für den Verzicht auf den Gebrauch einer "fachwissenschaftlich begrenzten Terminologie". Man wolle vielmehr die einzelnen Entwicklungen interdisziplinär und komparatistisch erschließen. Den im Band vorgelegten Beiträgen sei deshalb kein "einheitliches und damit vereinfachendes methodisches Konzept" vorgegeben worden (3).
Gewagt ist schon die Behauptung, die Frühe Neuzeit sei hauptsächlich durch eine gegeneinander abschließende Ausformung der einzelnen Nationalkulturen geprägt worden; wohl ist eher das Gegenteil der Fall gewesen. Barock und Aufklärung sind keine vorwiegend national orientierten Begriffe. Eine Beschäftigung mit der Kultur der Zeit um 1700, das ist der Hauptkritikpunkt, kann sich nicht auf die "Leitgattungen" Theater, Oper und Roman beschränken oder auch nur konzentrieren. Hier offenbart sich, dass im Gegensatz zum eigenen Anspruch nur im beschränkten Rahmen von einem interdisziplinären Sammelband die Rede sein kann: Die bildende Kunst ist mit einem Aufsatz vertreten (zur deutschen Architekturtheorie um 1700), die Musik überhaupt nicht. Vor allem gehören gerade bei der Beschäftigung mit der Kultur der Frühen Neuzeit Philosophie und Theologie [2] unbedingt zur Themenpalette, die abgedeckt werden muss. Bei der Bedeutung, die die Wandlungen innerhalb der Naturwissenschaften und der Medizin in der Wahrnehmung der damaligen Zeit innehatte, ist deren Berücksichtigung unumgänglich. Weitere Themenfelder ließen sich anschließen. Betrachtet man das Inhaltsverzeichnis und das Verzeichnis der Autoren (fast ausschließlich Germanisten in der Hauptausbildung beziehungsweise im Hauptberuf), wird rasch deutlich, dass es sich bei der Wolfenbütteler Veranstaltung weitgehend um ein vom Fach Germanistik getragenes Unternehmen handelte. Berücksichtigt werden Christian Weise (zwei Beiträge), die Poetinnen Ziegler und Zäunemann, Albrecht von Haller, Christian Reuter, spätbarocke Poetiken, die Emanzipation der deutschen Sprache, die Rolle der Dialoge in der Publizistik, die Geschichte der Literaturkritik. Teilweise Ausnahmen gegenüber dieser germanistisch geprägten Themenzusammenstellung bilden die Aufsätze von Kai Bremer und Wilfried Baner (siehe Anmerkung 2) sowie von Markus Meumann (Zukunftserwartungen), Herbert Jaumann (die Rezeption der "Querelle" in Deutschland) und Dirk Niefanger (Konzepte, Verfahren und Medien kultureller Orientierung).
In allen diesen Beiträgen ist vieles enthalten, was als weiterführend hervorzuheben ist, und manches anzumerken, was kritisch zu betrachten ist. Ich beschränke mich aus Platzgründen auf zwei Beispiele: So plädiert Meumanns Beitrag, ein vom Bandthema her gesehen zentraler Aufsatz, mit einiger Berechtigung dafür, den Wechsel von der herkömmlichen durch Endzeiterwartungen geprägten Zukunftssicht zu einer säkularen Geschichtsauffassung auf die Zeit um 1700 anzusetzen. Wenig überzeugend wirkt dagegen der Versuch, diese Wandlung der Zeitauffassung vor allem am Gebrauch des Begriffs "eisernes Zeitalter" als Bezeichnung des 17. Jahrhunderts festzumachen: Damit hätten "die Menschen um 1700" das Bewusstsein erlangt, in einem "besonderen, unwiederholbaren Säkulum" zu leben. Meumann zeigt selbst, das jene Definition schon das ganze Jahrhundert über Anwendung findet und zugleich oft das 16. Jahrhundert mit einbezieht. Selbst wenn diese Einwände nicht bestehen würden, wäre mir zweifelhaft, ob nun gerade das Aufkommen der Rede vom "siècle de fer" die Säkularisierung der Zeitauffassung dokumentiert. Weiterführender schiene mir die Beschäftigung mit den von Meumann selbst angedeuteten religiösen Wurzeln einer innerweltlich orientierten Zukunftsauffassung. Jaumanns Behauptung wiederum, die französische "Querelle" habe in Deutschland keine Resonanz gefunden, da man sich hier ganz und gar mit dem kulturellen Vergleich mit den benachbarten Nationen (besonders Frankreich) befasst habe (nicht aber mit der Antike als Maßstab), besitzt sicher Wahrheitsgehalt, vereinfacht die Dinge jedoch zu sehr. So bildet die Frage nach der Überlegenheit der Moderne im Vergleich zum Altertum ein Kernthema der auch in Deutschland stattfindenden Auseinandersetzung zwischen Aristotelismus und Cartesianismus. Auch hier zeigt sich die bereits monierte Einschränkung des Tagungsbandes auf germanistisch-literaturgeschichtliche Perspektiven.
Der Band vermittelt sicher Einblicke in kulturelle Debatten um 1700 und gewährt Erkenntnisgewinne in verschiedenster Richtung. Was ihm jedoch nicht gelingt und aufgrund seines Ansatzes nicht gelingen kann, ist eine weiterführende Behandlung der Frage, wie die Zeit um 1700 innerhalb der Geschichte der Frühen Neuzeit und insbesondere innerhalb der Genese der modernen Welt zu verorten ist. Mehr als die eher matte These von der kulturellen Vielfalt jener Zeit wird letztendlich nicht geboten. Vielleicht wäre eben doch ein von den Herausgebern abgelehntes methodisches Konzept hilfreich gewesen, das unter anderem auch der nur postulierten, aber nicht verwirklichten Interdisziplinarität tatsächlich Rechnung getragen hätte.
Anmerkungen:
[1] Formuliert vor allem im Beitrag Troeltschs zu dem Band "Geschichte der christlichen Religion" innerhalb des Sammelwerkes "Die Kultur der Gegenwart" (2. Auflage, Leipzig / Berlin 1922), 431-792.
[2] Der Band enthält allerdings zwei Aufsätze, die den Bereich der Theologie behandeln, allerdings mit problematischen Ergebnissen. Kai Bremer beschäftigt sich mit der "Umorientierung in der Kirchengeschichtsschreibung um 1700" anhand Gottfried Arnolds berühmter "Kirchen- und Ketzerhistorie". Mit diesem Werk werde die bisherige konfessionelle Kirchengeschichtsschreibung verabschiedet, da Arnold das juristische Ketzerverständnis des Christian Thomasius (danach ist die Ketzerei eigentlich nicht zu definieren) seinen Darstellungen zu Grunde lege (181 f.). Wenige Seiten zuvor (178 f.) gibt Bremer jedoch eine ganz andere Begründung für die Unparteilichkeit von Arnolds "Historie". Sie sei nicht methodisch begründet, sondern "höchst subjektiv". Erklärt wird diese These am Beispiel der Behandlung der Jesuiten. Diese werden zwar nach dem Vorbild der konfessionellen Auseinandersetzungen meist negativ dargestellt, wenn Arnold jedoch auf die Bedeutung der Mystik (der er selbst bekanntlich verpflichtet war) bei den Jesuiten zu sprechen komme, so ändert sich sein Urteil; Jesuiten können zu Wahrheitszeugen werden. Darin läge "der Kern der Unparteilichkeit Arnold'scher Prägung". Beide Erklärungsversuche widersprechen einander und sind in sich nicht überzeugend.
Wilfried Barner behandelt Leibnizens Reunionsbemühungen und zwar, was schon als problematisch einzuschätzen ist, allein auf Grundlage der Sekundärliteratur. Leibniz habe sich, indem er die tradierten Dogmen in Frage stellte, gegen ein traditionalistisches Verhalten gewendet. Seine Gegenpositionen seien "caritas" und "tolerantia" gewesen. Das bleibt zum einen im ungefähren, zum anderen wird Leibniz ganz zu einem Mann der Moderne, der im Blick auf das "soziale" und "ökonomische Wohlergehen der Menschen" (193) sinnlose konfessionelle Schranken niederreißen will. Es ging Leibniz aber nicht um die Relativierung von "tradierten" (193) Dogmen, sondern um deren bessere Begründung, indem sie nämlich philosophisch abgesichert werden. Die Philosophie weist somit über die Klärung der dogmatischen Streitigkeiten den Weg zur konfessionellen Einigung, nicht aber eine inhaltsleere "tolerantia".
Detlef Döring